„Mit anderen Augen“ – Peter Brandts Annäherung an Willy Brandt

Cover "Mit anderen Augen", Dietz-Verlag

Cover „Mit anderen Augen“, Dietz-Verlag

Historiker hegen oft Misstrauen gegenüber dem Zeitzeugen. Erinnerungen können täuschen, sich im Nachhinein verklären, Ereignisse werden ausgeblendet. Peter Brandt hat als Historiker wohl auch deshalb lange gezögert, ein Buch über seinen Vater zu veröffentlichen. Dass aus dieser doppelten Sicht heraus jedoch eine ausgesprochen spannende und erkenntnisreiche Annäherung werden kann, zeigt sein jetzt erschienenes Buch „Mit anderen Augen“.

Peter Brandt nennt es einen „Versuch über den Politiker und Privatmann Willy Brandt“. Als ältester Sohn blendet er die Schwierigkeiten nicht aus, die er „unter dem Gewicht einer Vatergestalt – in diesem Fall einer überragenden, gleichzeitig meist abwesenden oder nicht leicht zugänglichen“ hatte. Aber immer wieder ist dann der Historiker zur Stelle, der erklärt, einordnet und Zusammenhänge herstellt.

Es ist keine fortlaufende Biographie entstanden. Einzelne, auch für sich stehende Essays greifen thematische Schwerpunkte auf, die entweder den Verfasser besonders bewegen oder ihm charakteristisch und prägend für das Leben Willy Brandts erscheinen. Dabei werden die Konstanten deutlich, die das Leben Willy Brandts ausmachen, und die er selbst auch immer wieder beschrieben hat: an vorderster Stelle der Zusammenhang von Freiheit und Demokratie.

In Berlin ging es genau um diese Fragen. Brandt, als Korrespondent nach Deutschland zurückgekehrt, wurde „Reuters junger Mann“. Seit Anfang 1948 vertrat er in Berlin den SPD-Vorstand der drei Westzonen, im Februar 1948 machte die kommunistische Machtübernahme in der Tschechoslowakei Hoffnungen auf einen dort gerade entstehenden demokratischen Sozialismus zunichte. Peter Brandt: „Auf dem Berliner Landesparteitag der SPD am 8. Mai 1948 betonte Willy Brandt, dass es für die Sozialdemokraten ,keine Neutralität in der Auseinandersetzung zwischen Freiheit und Knechtschaft, zwischen Demokratie und Diktatur ‚ gäbe. Er fügte aber hinzu, ,das bedeutet nicht eine einseitige Festlegung in einem Spiel von Großmächten.'“

Zu den Konstanten in Willy Brandts Leben gehörte wohl auch die Fähigkeit, zuzuhören und zu lernen, auch wenn er an Erfahrungen noch so reich war. „Wer vom Andersdenkenden annimmt, er könnte nur entweder dumm oder böswillig sein, mit dem ist schwer zu reden. Man muss wissen, dass man auch irren kann“, zitiert Peter Brandt aus einer Rede seines Vaters auf dem SPD-Jugendkongress 1969.

Der Protestbewegung der späten sechziger Jahre widmet Peter Brandt einen eigenen Abschnitt. „Tendenziell Abgrenzung und Abwehr“, so beschreibt er Willy Brandts Haltung zur Jugendradikalisierung bis 1966/67. „In späteren Jahren öffnete er sich, äußerte sich ambivalent mit einer optimistischeren Note.“ So begrüßte er beispielsweise den Abbau obrigkeitsstaatlichen Denkens. Aber, so stellt Peter Brandt auch fest: „Seine viel gescholtene und viel gerühmte Toleranz war bis zu einem gewissen Grad ein Verzicht, sich einzumischen und ständig Aueinandersetzungen zu führen. Auch im Privaten und in der Familie.“

Es war die Zeit, in der Peter Brandt eigene politische Wege außerhalb der SPD ging, was die vom Springer-Verlag dominierte Berliner Presse gerne für Schlagzeilen nutzte. Der Vater nahm es hin, vielleicht auch in Erinnerung an die eigene Jugend, die ihn von der SPD in die kleine linkssozialistische SAP geführt hatte, für die er 1933 nach Norwegen ging, um von dort den Widerstand gegen die Nazis aufrecht zu erhalten. Peter Brandt trat erst 1994 in die Partei seines Vaters ein, damals mit der Erkenntnis: „Mein Bedarf an Spaltungen ist gedeckt.“

Willy Brandt hatte Menschen weit über die Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung hinaus für die SPD begeistern können, die Mitgliederzahl erreichte die Millionengrenze, viele Jüngere kamen hinzu, die Struktur veränderte sich. Aber noch in seiner Zeit als Vorsitzender begann die Partei auch wieder an Bindungskraft zu verlieren, eine innere Fraktionierung begann, linksalternative und ökologisch orientierte Wähler wanderten zu den Grünen ab. Dazu trugen auch umstrittene Entscheidungen wie die Gesinnungsprüfung bei der Einstellung im öffentlichen Dienst bei, auch Peter Brandt berichtet von einer solchen Anhörung, zu der er geladen wurde.

Ein Kapitel widmet Peter Brandt unter der Überschrift „Volk und Nation“, zwei Begriffen, die in der Linken eher verpönt sind, den Anstrengungen Brandts, die deutsche Wiedervereinigung zu erreichen.“Patriotismus und Weltbürgertum – beides verkörperte Willy Brandt wie nur wenige Deutsche in seiner Generation“, stellt Peter Brandt fest. Das wiederum ist Teil der Lebensgeschichte Brandts, der seine Heimat während der Nazi-Diktatur – abgesehen von einem kurzen Aufenthalt in Berlin – nur von außen wahrnehmen konnte, sich aber dennoch mit Hinweis auf den Widerstand aus der Arbeiterbewegung vehement gegen eine Kollektivschuld des deutschen Volkes wandte. „Ein guter Deutscher kann kein Nationalist sein“, zitiert Peter Brandt seinen Vater aus der Rede bei der Verleihung des Friedensnobelpreises. Als „Nationalpatriot“ sieht er Willy Brandt gleichwohl. Dies sei kein Widerspruch zum „überzeugten europäischen Föderalisten“: „Die Nation war für ihn eine werte- und gefühlsbesetzte Bewusstseins- und Kommunikationsgemeinschaft. Der souveräne Nationalstaat alter Prägung müsste nicht unbedingt gewahrt werden.“

Die deutsche Teilung traf die Sozialdemokratie besonders, denn eine Folge war, „dass die Kräfte der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung in beiden deutschen Staaten mehr oder minder ausgeschaltet wurden“, so Peter Brandt. Die Ost-SPD unterlag dem Druck der Zwangsvereinigung, im Westen stabilisierte „die Anschauung des DDR-Experiments den CDU-geführten Bürgerblock“. Brandt trieb frühzeitig die Sorge um, ohne direkte Kontakte könnten sich auch die Menschen in beiden deutschen Staaten entfremden. „Die menschliche Substanz der Nation dürfe nicht verloren gehen“, formuliert Peter Brandt den Gedanken seines Vaters. In seinem Abriss über die Deutschland- und Entspannungspolitik macht er deutlich, in welchem Rahmen Willy Brandt handelte, aber auch, welche Rücksichtnahmen dabei erforderlich wurden.

„Manche der ,Schwächen‘ von Brandt lassen sich auch als Stärken verstehen“, schreibt Peter Brandt. „Sie hatten zu tun mit einer gewissen Distanz zur eigenen Person, die ihn davor bewahrte, sich allzu wichtig zu nehmen. Vor allem bedeutete sie, andere Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit, insbesondere in der Unterschiedlichkeit der weltanschaulich-religiösen Orientierung, der Wertentscheidungen und der politischen Auffassungen voll und ganz zu respektieren – in einem Maße, wie ich es ansonsten selten erlebt habe.“ Auch das macht sicher Willy Brandts Faszination noch heute aus. Peter Brandts differenzierter, kritisch-respektvoller Blick auf den Politiker und Vater sorgt für eine neue Nähe zu ihm.

 

Über Ulrich Horb

Jahrgang 1955, Journalist und Fotograf in Berlin
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