Tunnel in die Freiheit: die unterirdischen Fluchtversuche an der Berliner Mauer (2008)

Cover "Die Fluchttunnel von Berlin"

Cover „Die Fluchttunnel von Berlin“

Der Mauerbau im August 1961 veränderte in Berlin das Leben vieler Familien. Paare wurden getrennt, Eltern und Kinder konnten sich nicht mehr sehen. Wer wieder zusammenkommen wollte, dem blieb zunächst nur die Flucht – ehe später in Verhandlungen auch andere Wege eröffnet wurden.

Es gab nicht nur spektakuläre Grenzdurchbrüche, Spreedurchquerungen oder Ballonfluchten. An mehreren Stellen in Berlin wurden die Mauer und die immer weiter perfektionierten Sperranlagen unterirdisch überwunden. Eine Bestandsaufnahme aller Fluchtversuche per Tunnel haben jetzt Dietmar Arnold, Stadtplaner sowie Mitbegründer und Vorsitzender des Vereins „Berliner Unterwelten“, und der Welt-Redakteur Sven Felix Kellerhoff vorgenommen. Ihre Arbeit dokumentiert zwischen 1961 und 1982 mehr als sechzig Tunnelprojekte, einige davon mit spektakulären Massenfluchten von bis zu 59 Personen, andere, die mit Verhaftungen und dem Tod endeten.

Es ist eine akribische Zusammenstellung, die sich auf Zeugenaussagen, Zeitungsberichte, aber auch auf die von derStasi geführte Tunnelkartei stützt. Die Material- und Quellenlage ist dabei sehr unterschiedlich. Werden in manchen Berichten die familiären oder politischen Beweggründe der aus Ost-Berlin Flüchtenden deutlich, sind es bei anderen Versuchen, die Mauer zu überwinden eher die Beschreibungen des Tunneldurchmessers oder der Länge, die sich heute noch belegen ließen.

Der überwiegende Teil der Tunnel wurde vom Westen in den Osten getrieben, viele im Bereich der Bernauer Straße oder zwischen Pankow und Reinickendorf, wo der Untergrund und die Entfernung der Häuser es zuließen. Das Buch führt zurück in eine Zeit, in der Menschen ungeheure Wagnisse eingingen, um mit ihrem Partner oder ihren Freunden wieder zusammenleben zu können oder einfach der politischen Vereinnahmung zu entgehen. In einer Zeit, in der die Tunnelgräber und Fluchthelfer auf beiden Seiten der Mauer von der Stasi beobachtet wurden, in der es Verrat und Mut gab. Diese Beschreibungen machen auch die Stärken des Buches aus.

Seine Schwächen hat die Zusammenstellung dort, wo auch noch einem Fluchttunnel von Bankräubern ein Kapitel gewidmet wird, nur weil der Begriff passt. Oder dort, wo Justizschelte betrieben wird, weil die juristische Aufarbeitung im Rechtsstaat eben nicht immer mit der moralischen Empörung in Einklang zu bringen ist. So wird die auch vom Bundesverfassungsgericht akzeptierte Verurteilung eines Fluchthelfers, der einen DDR-Grenzsoldaten erschoss, als „Skandal“ kritisiert. Der eigentliche Skandal ist jedoch, dass über Jahrzehnte ein System existierte, das Menschen in eine solche Extremsituation brachte. Die Auseinandersetzung darüber, wer mit mehr Recht an der Grenze erschossen wurde, führt dagegen in die Irre.

Das Buch mit seiner Detailfülle und der Auflistung aller bislang bekannten Tunnelfluchten kann eine Grundlage für die weitere Aufarbeitung dieses Teils deutscher Geschichte sein. Hilfreich wäre es dann, die Tunnelfluchten nicht isoliert und räumlich innerhalb Berlins zu betrachten, sondern sie in einen zeitlichen Zusammenhang der politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen zu stellen.

Die Fluchttunnel von Berlin, von Dietmar Arnold und  Sven Felix Kellerhoff, 240 S., Propyläen-Verlag 2008, 19,90 Euro, ISBN-10: 3549073410

Über Ulrich Horb

Jahrgang 1955, Journalist und Fotograf in Berlin
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