1945: Die Wiedergründung der SPD in Berlin (III)

Ausriss aus der Zeitung das Volk Nr.1

Ausriss aus der Zeitung das Volk Nr.1, Titelseite

Nach seiner Inhaftierung in den Jahren zwischen 1933 und 1943 und 1944 haben die Nazis den Sozialdemokraten Kurt Schumacher, der ab 1930 Vorsitzender der mitgliederstarken SPD in Stuttgart war, zwangsweise nach Hannover entlassen.  Als am 10. April 1945, rund  vier Wochen vor dem Ende des Krieges in Berlin, alliierte Truppen die Stadt besetzen, kann Schumacher bereits  mit dem Aufbau der SPD beginnen. Eine Genehmigung dafür hat er nicht, Parteien bleiben in den Zonen der West-Alliierten länger als in der sowjetischen Zone nicht zugelassen.

Ungeachtet dessen entwickelt Schumacher Konzepte für eine sozialdemokratische Politik in der Zeit nach dem Nationalsozialismus. Schon am 6. Mai 1945, zwei Tage bevor der Krieg in Berlin mit der Kapitulation beendet wird, wählen ihn rund 130 sozialdemokratische Funktionäre bei der Gründungsversammlung des Ortsvereins Hannover im Sitzungssaal des Polizeipräsidiums zum örtlichen Vorsitzenden. Und dort hält er auch eine in den zurückliegenden Wochen vorbereitete Rede, in der er bereits die vor der SPD liegenden Aufgaben programmatisch umreißt. Mit seinem Grundsatzreferat unter dem Titel „Wir verzweifeln nicht“ bietet er  politische Orientierung zu einer Zeit, als es in Berlin noch um praktische Fragen des Überlebens geht. Neben den SPD-Emigranten, die sich in London aufhalten und von dort aus die Entwicklung in Deutschland verfolgen, darunter der Exil-Vorsitzende Hans Vogel[1] und Erich Ollenhauer, entwickelt sich damit in der niedersächsischen Stadt ein politisches Zentrum der wiederentstehenden Sozialdemokratie im Westen Deutschlands. Von Hannover aus sucht Schumacher nun Kontakte zu den überall in den Westzonen entstehenden sozialdemokratischen Gruppen.

Aus der Geschichte und ihrem Widerstand gegen den Nationalsozialismus leitet Schumacher den Anspruch der Sozialdemokratie ab, jetzt bestimmende Kraft zu werden, zugleich will er die neu entstehende Partei öffnen für  alle, die die sozialdemokratischen  Werte, ob aus christlichen oder anderen  Motiven heraus, teilen. „Die Sozialdemokratische Partei ist die einzige Partei in Deutschland gewesen, die an der großen Linie der Demokratie und des Friedens ohne Konzessionen festgehalten hat“, bescheinigt Schumacher seiner Partei in dem Aufsatz „Konsequenzen der deutschen Politik“ vom Sommer 1945. „Darum kann nur sie allein von sich sagen, dass die Grundsätze ihrer Politik ihre Prüfung vor dem Richterstuhl der Geschichte bestanden haben. Alle anderen Richtungen in Deutschland sind mehr oder weniger schuld an dem Aufkommen des Nazismus, haben entweder seine geistigen und politischen Grundlagen oder seine praktischen und taktischen Voraussetzungen geschaffen.“[2] Schumacher begründet einen Machtanspruch für die Sozialdemokratie: „Wenn die Sozialdemokratie jetzt den Anspruch auf die Führung beim Neuaufbau des deutschen Staatswesens erhebt, dann tut sie das nicht aus einem selbstsüchtigen Parteimotiv. Sie denkt nicht daran, auch nur den Versuch zu machen, andere unbelastete und aufbauwillige Kräfte in Deutschland von dem Recht auf Mitgestaltung auszuschließen. Sie will aber eine klare Entscheidung darüber, ob wir in Deutschland einen Neuaufbau oder einen Wiederaufbau vornehmen wollen. In den bürgerlichen Strömungen machen sich zuviel Kräfte des Wiederaufbaus geltend.“

Eine einheitliche Arbeiterpartei hält Schumacher aus machtpolitischen Gegebenheiten und angesichts der außenpolitischen Bindungen für nicht realistisch: „Die Trennungslinie ist dadurch gezogen, dass die Kommunisten fest an eine einzige der großen Siegermächte und damit an Russland als Staat und an seine außenpolitischen Ziele gebunden sind. Wir demokratischen Sozialistendagegen gehen nicht von der Auffassung ab, dass wir uns nach den politischen und sozialen Notwendigkeiten der deutschen arbeitenden Klassen zu richten und von diesem Standpunkt aus die internationale Zusammenarbeit mit allen Arbeiterparteien der Welt zu betreiben haben, die dazu bereit sind. Wir können nicht und wollen nicht das autokratisch gehandhabte Instrument eines fremden imperialen Interesses sein.“[3] So sieht Schumacher nur die Möglichkeit, die Mitglieder der früheren sozialistischen Splitterparteien von Anfang an einzubeziehen.

„Die Sozialdemokratie“, so der Historiker Peter Brandt über Schumachers Intention[4], „wurde als eigentlicher Gegenpol des Nationalsozialismus stilisiert. Sowohl gegenüber dem kapitalistischen Großbesitz, dem die soziale Verantwortung für den Faschismus zukomme, und den bürgerlichen Parteien, die gänzlich versagt hätten, als auch gegenüber den Kommunisten, die durch ihren Kampf gegen die Weimarer Republik ebenfalls ihren Teil zur Machtergreifung der NSDAP beigetragen hätten, stellte sich die SPD als einzige unzweifelhaft demokratische Partei dar. Daraus ergab sich für Schumacher ungeachtet aller Schwächen der Parteiführung vor 1933 ein unabweisbarer Führungsanspruch der deutschen Sozialdemokratie.“

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Ganz so wie in den bereits zuvor besetzten Gebieten im Westen Deutschland, wo Briten und Amerikaner die Kontrolle übernommen haben,  suchen ehemalige Mitglieder der SPD  in den Berliner Stadtgebieten, die Ende April 1945 von den sowjetischen Truppen besetzt werden, Kontakt. Sie wollen beim Neuaufbau anpacken und sich auch politisch wieder einbringen. Dabei kommt es zu örtlich durchaus unterschiedlichen Entwicklungen, oft geprägt von den persönlichen Bekanntschaften und Freundschaften, von den gemeinsamen Erfahrungen, die Sozialdemokraten und Kommunisten in der Verfolgung gemacht haben. Etliche Sozialdemokraten engagieren sich in den ersten Tagen nach der Kapitulation in Volkskomitees oder Aktionsausschüssen zusammen mit Kommunisten und parteilosen Gegnern des NS-Regimes. Deren  Aufrufe hängen schon am 3. Mai an Bretterzäunen oder Hauswänden. Zum ersten Mal taucht darin der Begriff der „antifaschistisch-demokratischen Kräfte“ auf[5], die aufgerufen werden, sich zu melden.

In Berlin leben noch eine ganze Reihe ehemaliger SPD-Funktionäre, einige hat es auch erst in der NS-Zeit in die Hauptstadt verschlagen, die auf Grund ihrer Größe bessere Möglichkeiten zum Untertauchen bietet. Die ehemalige Hamburger Reichstagsabgeordnete Louise Schroeder ist 1938 nach Berlin gekommen, sie arbeitet bei der Baufirma Gottlieb Tesch und Co., gemeinsam mit dem ehemaligen Reichstagspräsidenten Paul Löbe besucht sie Feste des Gesangsvereins „Fichte Georgina“ in der „Neuen Welt“ in der Hasenheide, bei denen sich viele ehemalige Sozialdemokraten wiedersehen[6]. In Paul Löbes Wohnung in der Uhlandstraße 123 findet Louise Schroeder eine Unterkunft, bis sie dort 1944 ausgebombt wird. Paul Löbe geht nach Schlesien, wird 1944 erneut verhaftet und kommt erst kurz vor Kriegsende wieder frei, Louise Schroeder wird von ihrer Firma vorübergehend zu einem Bauprojekt nach Dänemark gesandt.

Seit 1933 hält sich auch der frühere Braunschweiger Gewerkschafter und Gauführer des Reichsbanners Erich Gniffke[7] in Berlin auf. Mitte der dreißiger Jahre hat er den Generalvertrieb für die Heizkessel und Heizungsherde der Firma „Heibacko“ übernommen. Das ermöglicht ihm Geschäftsreisen zum Aufbau eines Verkaufsnetzes, auf denen er zugleich Kontakte im ganzen Land pflegen kann. Und er kann frühere sozialdemokratische Funktionäre beschäftigen. So arbeitet Otto Grotewohl, ehemaliger Reichstagsabgeordneter, Vorsitzender der Braunschweiger SPD und als begabter Redner bekannt, in der Schöneberger Verkaufszentrale in der Bülowstraße. Im  August 1938 werden Gniffke und Grotewohl kurze Zeit inhaftiert, ein beruflicher Kontakt wird ihnen anschließend untersagt.  Dennoch treffen sich beide privat mehrmals pro Woche. Und in Gniffkes Büro in der Bülowstraße 7 findet sich auch weiter ein Kreis von Gegnern des NS-Regimes ein.  Viele führende und erfahrene Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten aber sind in den Jahren nach 1933 der Verfolgung durch das NS-Regime zum Opfer gefallen, darunter der letzte Bezirksvorsitzende Franz Künstler,  Rudolf Breitscheid,  Johannes Stelling, Wilhelm Leuschner oder Julius Leber.

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Zahlreiche Funktionäre der früheren KPD haben in den dreißiger und vierziger Jahren in Moskau Zuflucht gefunden. Nachdem der KPD-Vorsitzende Ernst Thälmann[8] im KZ inhaftiert ist, wird Wilhelm Pieck auf der „Brüsseler Konferenz“ der KPD vom 3. bis 15. Oktober 1935, die in Wirklichkeit in der Nähe von  Moskau stattfindet, beauftragt, Thälmanns Funktionen wahrzunehmen. Die KPD-Konferenz folgt zugleich der neuen Linie Stalins und strebt nach Jahren, in denen Sozialdemokraten als „Sozialfaschisten“ und Hauptgegner bekämpft  wurden, nun eine antifaschistische Volksfront an, die alle, auch die bürgerlichen Gegner der Nationalsozialisten, ansprechen und vereinen soll.

Aber für die deutschen Kommunisten ist Moskau vor allem in der Zeit des „Großen Terrors“ von Herbst 1936 bis Ende 1938, während der Säuberungsaktionen durch Stalins Geheimpolizei, kein sicherer Zufluchtsort. „Von den in die Sowjetunion emigrierten deutschen KP-Führern wurde die Mehrheit in den Stalinschen Säuberungen ermordet“, so das Fazit des Historikers Hermann Weber.[9] Es gibt Folter und Hinrichtungen ohne Prozess, Ulbricht und Pieck haben von den willkürlichen Verhaftungen Kenntnis[10]. Aber die noch verbliebene KPD-Führung bejubelt nach dem ersten Schauprozess gegen Sinowjew, Kamenew und andere, darunter ein enger Mitarbeiter Piecks und ein wichtiger Mitverfasser der Resolution der „Brüsseler Konferenz“, die „schonungslose Ausrottung des menschlichen Abschaums der trotzkistisch-sinowjewistischen Mörderbande“[11]. Und sie distanziert sich verbunden mit einer Selbstkritik wegen fehlender Wachsamkeit von den verfolgten Mitgliedern in den eigenen Reihen. Es herrscht ein Klima der Angst und Einschüchterung.

Nach dem Hitler-Stalin-Pakt vom August 1939 schiebt  Stalin über 1000 Emigranten nach Deutschland ab und überlässt sie der nationalsozialistischen Verfolgung, darunter etwa Margarete Buber-Neumann[12] – ein Vorgang, der in der späteren offiziellen DDR-Geschichtsschreibung unerwähnt bleiben wird.  Mit dem Einmarsch deutscher Truppen in der Sowjetunion am 22. Juni 1941 verändert sich die Lage erneut. Im April 1942 ruft das Politbüro der  KPD in Moskau zur Bildung einer Volksfront gegen Hitler auf, das Nationalkomitee Freies Deutschland (NKFD)  entsteht im Juli 1943 unter Beteiligung von KPD-Mitgliedern und Kriegsgefangenen.  Aufrufe und programmatische Erklärungen werden bewusst vom sprachlichen und ideologischen Duktus der KPD befreit. Die KPD will sich bündnisfähig zeigen. Und sie erarbeitet sich eine  Position, mit der sie sich künftig besser als in der Weimarer Zeit vom Vorwurf absetzen kann, bloßes Ausführungsorgan der sowjetischen Kommunisten zu sein. Anton Ackermann, KPD-Mitglied seit 1926 und im Mai 1945 Leiter einer nach Sachsen eingeflogenen Gruppe von Moskauer Exil-Kommunisten, argumentiert 1944 vor Hörern der Parteischule: „Es gibt für uns nichts Heiligeres als die Interessen der Sowjetunion. Sie ist und bleibt unser wahres Vaterland. Aber niemals können wir unsere Rolle, unsere Pflichten gegenüber der Sowjetunion erfüllen, wenn wir nicht verstehen, das Ohr unseres Volkes zu finden, und das Ohr unseres Volkes werden wir nur dann finden, wenn wir ausgehen und uns leiten lassen von den wirklich nationalen Interessen unseres Volkes.“[13]

Im Frühjahr 1945 bereiten sich KPD-Mitglieder in Moskau darauf vor, mit den vorrückenden sowjetischen Truppen nach Deutschland zurückzukehren. Sie sollen beratend beim Aufbau der Verwaltung und der politischen Strukturen tätig werden.

Die Nachkriegsordnung Europas ist im Februar 1945 auf einer Konferenz in Jalta auf der Krim zwischen den drei Mächten Sowjetunion, USA  und Großbritannien ausgehandelt worden. Stalin sichert sich, gestützt durch die militärischen Erfolge der Roten Armee, die bei ihrer Winteroffensive bereits Polen und Teile Ostdeutschlands unter ihre Kontrolle gebracht hat, die ost- und südosteuropäischen Länder als Interessensphäre und Sicherheitspuffer. Großbritanniens Premierminister Winston Churchill und der bereits gesundheitlich stark angeschlagene US-Präsident Roosevelt stimmen auch einer neuen Ziehung der polnischen Ostgrenze und einem späteren „beträchtlichen“ Gebietsausgleich für Polen auf Kosten deutscher Gebiete zu, verlangen allerdings freie demokratische Wahlen in Polen und die Beteiligung von Vertretern nicht-kommunistischer Kräfte an einer provisorischen polnischen Regierung. Deutschland soll entmilitarisiert, entnazifiziert und in vier Besatzungszonen aufgeteilt werden. Die zusätzliche französische Zone, so setzt es Stalin durch, wird aus den geplanten Zonen Großbritanniens und der USA geschnitten.  Für Berlin werden die Sektorengrenzen und ein besonderer Viermächtestatus festgelegt. Im März einigt sich eine Arbeitsgruppe der Alliierten, Deutschland nicht in Kleinstaaten aufzuteilen. Von einem wirtschaftlich stärkeren Gesamtdeutschland erwarten die Alliierten – und Stalin – höhere Reparationszahlungen.

(wird fortgesetzt)

[1] Hans Vogel, von 1931 bis 1933 Vorsitzender der SPD und von 1933 bis 1945 Vorsitzender der SPD im Exil, starb am 6. Oktober 1945 in London.
[2] Zitiert nach Theo Pirker, Die SPD nach Hitler, S. 17/18
[3] Albrecht Kaden, Einheit oder Freiheit, S. 19
[4] Peter Brandt, Demokratischer Sozialismus – Deutsche Einheit – Europäische Friedensordnung, Kurt Schumacher in der Nachkriegspolitik (1945 – 1952) , http://library.fes.de/fulltext/historiker/00574004.htm#E10E1
[5] Klaus-Peter Schulz, Auftakt zum Kalten Krieg, S. 17
[6] Martina Koerfer, Louise Schroeder, Berliner Forum 4/87, S. 21
[7] Erich W. Gniffke geht als einer der führenden Sozialdemokraten gemeinsam mit Otto Grotewohl 1946 den Weg zur SED mit, verlässt sie 1948 und setzt sich in den Westen ab. 1966, zwei Jahre nach seinem Tod erscheinen unter dem Titel „Jahre mit Ulbricht“ seine Erinnerungen.
[8] Ernst Thälmann, * 16. April 1886 in Hamburg; † 18. August 1944 im KZ Buchenwald
[9] Hermann Weber, „Weiße Flecken in der Geschichte, Die KPD-Opfer der Stalinschen Säuberungen und ihre Rehabilitierung, Berlin 1990, S. 31, vgl. auch „Solche Verräter“, in: Der Spiegel, 17.07.1989, S.48
[10] So hat sich der KPD-Funktionär Bernhard Koenen an Ulbricht und Pieck gewandt und über Foltermethoden zur Erpressung von Geständnissen berichtet, wird aber dann erneut verhaftet, vgl. Herbert Wehner, Zeugnis, Köln 1982, S. 213
[11] Erklärung des ZK der KPD, zit. nach Hermann Weber, „Weiße Flecken in der Geschichte, Die KPD-Opfer der Stalinschen Säuberungen und ihre Rehabilitierung, Berlin 1990, S. 37
[12] Margarete Buber-Neumann, geb. 21. Oktober 1901 in Potsdam; gest. 6. November 1989 in Frankfurt am Main, Publizistin, Ehefrau des in Moskau hingerichteten ehemaligen KPD-Reichstagsabgeordneten Heinz Neumann, nach mehrere n Jahren Lagerhaft in der Sowjetunion 1940 nach Deutschland ausgeliefert und dort bis 1945 im KZ Ravensbrück inhaftiert.
[13] Anton Ackermann, zitiert nach Peter Erler und Manfred Wilke, „Nach Hitler kommen wir“, in: C.-D.  Krohn, E. Rothermund, L. Winckler, W. Koepke, Exil und Widerstand, München 1997

Über Ulrich Horb

Jahrgang 1955, Journalist und Fotograf in Berlin
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