In seinem Befehl Nr. 1 vom 28. April 1945 verbietet Generaloberst Bersarin, der Chef der Besatzung und Stadtkommandant von Berlin, die NSDAP und ihre Organisationen und ruft zur Wiederaufnahme der Arbeit in den Versorgungsbetrieben auf. Beamte und Angestellte von Bezirksdienststellen werden aufgefordert, Bersarin über den Zustand ihrer Verwaltungen zu informieren. Zwischen 22 Uhr und 8 Uhr morgens herrscht Ausgangssperre.
Die Lebensmittellager in Berlin sind weitgehend geplündert oder zerstört, oft noch von der SS, die nichts Verwendbares zurücklassen will. Berlin hat keine funktionierende Kanalisation mehr, Wasser gibt es nur noch an den Pumpen am Straßenrand, Strom und Gas sind ausgefallen. Eine Sprengung des Kraftwerks Klingenberg kann gerade noch verhindert werden.
Am 30. April 1945 fliegt die zehnköpfige „Gruppe Ulbricht“[1] als eine von drei KPD-Gruppen von Moskau aus ab und landet auf einem kleinen Behelfsflugplatz zwischen Frankfurt an der Oder und Küstrin. Von dort aus geht es mit sowjetischen Militärfahrzeugen nach Bruchmühle bei Berlin, wo das politische Zentrum der Shukow-Armee eingerichtet worden ist.
Schon am 27. April haben sich im ehemaligen KPD-Lokal „Goldschmidt“ im Prenzlauer Berg einige Kriegsgegner getroffen, am 3. Mai bilden ehemalige Kommunisten, Sozialdemokraten und Parteilose in der Driesener Straße eine „Parteileitung“. Der ehemalige Sozialdemokrat Rudi Rosenow organisiert rund um den Helmholtzplatz Genossen, mit denen er im Widerstand aktiv war[2].
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In Reinickendorf ist Ende April, Anfang Mai 1945 die Wohnung von Heinz („Heini“) Wagenfeld in Wittenau der gemeinsame Treffpunkt von Sozialdemokraten. Am 29. April, einen Tag nachdem Generaloberst Nikolai Bersarin zum Stadtkommandanten von Berlin ernannt ist, sucht Wagenfeld, vor 1933 zweiter Vorsitzender der SPD Tegel, den ehemaligen Reinickendorfer SPD-Spitzenkandidaten Franz Neumann in der Siedlung „Freie Scholle“ auf[3]. Sie verabreden den Wiederaufbau der Reinickendorfer SPD, Neumann übernimmt die Suche nach Sozialdemokraten im Norden des Bezirks, Wagenfeld im Süden. Zehn, fünfzehn Personen kommen bei Wagenfeld zusammen, so erinnert sich Manfred Omankowsky[4] an die Berichte seiner Mutter Meta, die vor 1933 Leiterin der Arbeitsgemeinschaft der Frauen in Reinickendorf war und 1946 in die erste Stadtverordnetenversammlung gewählt wird. Sie gründen die Abteilung Reinickendorf West als erste SPD-Abteilung im Bezirk, vielleicht sogar in Berlin. Noch ist das illegal, denn Parteien werden erst im Juni zugelassen.
Mit dem Einmarsch der sowjetischen Truppen enden in Berlin der nationalsozialistische Terror und die Zeiten der Bombennächte. „Verbittert standen Deutsche vor zerrissenen Illusionen, dankbar andere Deutsche vor dem geschenkten neuen Anfang“, so beschreibt Bundespräsident Richard von Weizsäcker rückblickend in seiner Rede zum 40. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs 1985 die unterschiedliche Wahrnehmung und Erfahrung. Und er stellt fest: „Wir dürfen den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen.“ Die Deutschen hätten „allen Grund, den 8. Mai 1945 als das Ende eines Irrweges deutscher Geschichte zu erkennen, das den Keim der Hoffnung auf eine bessere Zukunft barg“[5].
Die Tage im April und Mai sind geprägt von den Bemühungen der sowjetischen Kommandantur, die Versorgung mit Lebensmitteln zu sichern und neue Verwaltungsstrukturen zu schaffen. Aber es kommt auch zu willkürlichen Übergriffen, zu Plünderungen, zu Vergewaltigungen durch Angehörige der Roten Armee, vor allem durch die nachrückenden Truppen. „Durch neuen Nachschub, bei uns vor der Tür, immer Sorge um die Frauen“, notiert Heinz Wagenfeld am 29. April in seinem Taschenkalender.[6] Seine Frau schickt er als Dachdecker getarnt in das zerstörte Obergeschoss, um sie vor Übergriffen zu schützen.
Zwischen dem 24. April und dem 3. Mai kommt es in Berlin zu einigen zehntausend Vergewaltigungen.[7] Uhren, Fahrräder und andere Wertgegenstände werden von sowjetischen Soldaten konfisziert, die in die Wohnungen und Keller eindringen oder Passanten auf der Straße anhalten. Auch KPD-Mitglieder erleben Willkür und Gewalt. Damit wird – verstärkt durch die Nachwirkung der Nazipropaganda – trotz vieler auch positiver Begegnungen das Bild der sowjetischen Besatzungsmacht nachhaltig negativ geprägt. „Die Sowjets“, so der Sozialdemokrat Franz Neumann, „hätten als Befreier in Berlin gelten können, wenn sie ihre Mannschaften in der Hand gehabt hätten und nicht jene fürchterlichen Gräuel einige Wochen in Berlin geduldet hätten.“[8]
Die Versorgung ist in Berlin weitgehend zusammengebrochen. Von 1.562.00 Wohnungen haben in Berlin ganze 370.000 den Krieg ohne Schäden überstanden, 730.000 sind halbwegs bewohnbar. Die Verkehrsverbindungen sind unterbrochen, U-Bahntunnel sind geflutet, Brücken gesprengt, Kommunikationsverbindungen gibt es nicht mehr. Die Rote Armee setzt Block-, Straßen- und Hausvertrauensleute ein, um Befehle besser umsetzen zu können und um, so Walter Ulbricht, „die Nazis aufzustöbern und uns Informationen zu verschaffen, was in den Häusern und Bezirken vor sich geht“[9]. Viele der Vertrauensleute sind Kommunisten und Sozialdemokraten. Die Funktion ermöglicht es ihnen zugleich, in der Nachbarschaft Gleichgesinnte zu finden. Als günstig erweist sich für Sozialdemokraten auch die Tätigkeit in den Kartenstellen zur Lebensmittelvergabe, die alle Bewohnerinnen und Bewohner des Bezirks mit ihren Adressen erfassen und über die der Verbleib ehemaliger SPD-Mitglieder festzustellen ist.
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Die zehn Mitglieder der Gruppe Ulbricht teilen sich am 2. Mai, dem Tag der Kapitulation der Stadt, auf und fahren von Bruchmühle aus in die Berliner Bezirke, um sich einen Überblick über die Situation der Verwaltungen zu verschaffen. Ulbricht selbst sucht gemeinsam mit Wolfgang Leonhard, dem jüngsten Mitglied der Gruppe, das Rathaus Neukölln auf. Dort finden sie einen einzigen Mitarbeiter namens Pagel, der sich als Sozialdemokrat vorstellt und von den Schwierigkeiten der Lebensmittelversorgung berichtet. In einer Neuköllner Wohnung trifft Ulbricht eine Gruppe von überlebenden Kommunisten. Ulbrichts Auftreten gegenüber den zwölf KPD-Mitgliedern, so beschreibt es Wolfgang Leonhard, zeigt die Machtverhältnisse: „Als er dann schließlich die jetzige politische ,Linie‘ darlegte, tat er das in einem Ton, der keinen Widerspruch zuließ, in einer Art, die jeden Zweifel darüber ausschloss, dass er und nicht die Berliner Kommunisten, die unter so schweren Bedingungen illegal gearbeitet hatten, die Politik der Partei bestimme.“[10]
Max Fechner, Rixdorfer Maurersohn und ehemaliger preußischer SPD-Landtagsabgeordneter, versucht über das Bezirksamt Neukölln Kontakt zu Walter Ulbricht aufzunehmen.[11] Er schreibt als Mitglied einer 1933 eingesetzten illegalen Kampfgruppe der SPD in einem Brief: „Ich hätte gern mit Dir darüber gesprochen, wie es möglich wäre, die so ersehnte Einheitsorganisation der deutschen Arbeiterklasse zu schaffen. Meine politischen Freunde und ich stehen auf dem Standpunkt, dass bei der ersten Möglichkeit, sich wieder politisch betätigen zu können, über alle Vergangenheit hinweg der neu zu beschreitende Weg ein gemeinsamer sein muss zwischen KPD und SPD. Ich möchte sagen, dass es bei Beginn der politischen Tätigkeit leichter sein wird, die Einheit zu schaffen, als wenn wir erst bei den Nachwirkungen der Kriegshandlungen angelangt sind.“ Zugleich schlägt Fechner ein Gespräch über diese Fragen vor. Eine Antwort erhält er nicht, Ulbricht erklärt später, dass der Brief nicht in seine Hände gelangt sei.[12]
Mitte Mai setzt sich Fechner für den Aufbau einer Neuköllner Ortsgruppe des Kampfverbandes Freies Deutschland ein, von dem zu vermuten ist, dass mit ihm eine begrenzte politische Tätigkeit möglich wird. Zudem stellt der Kampfverband einige Zeit Ausweise aus, die dem Inhaber bescheinigen, im Sinne der Anordnungen des Stadtkommandanten tätig zu sein. Als „situationsbedingte Sondierungen eines ehrgeizigen Mannes“ wertet der Historiker Harold Hurwitz das Vorpreschen Fechners[13]. Und er macht bei Fechner wie auch bei anderen Sozialdemokraten eine „Anlehnungs- und Orientierungsnot“ aus. Unter den Bedingungen der sowjetischen Besatzung ist es für die Sozialdemokraten schwer, eigene Positionen zu entwickeln. Das macht einen deutlichen Unterschied zum in Hannover unter britischer Besetzung agierenden Kurt Schumacher aus.
Fechner, im Dezember 1933 wegen Hochverrats angeklagt und kurze Zeit in KZ-Haft, hat in Neukölln Kontakt zu Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten gehalten. Max Fechners Ehefrau Erna hat 1934 einen Gewerbeschein erhalten, die gemeinsamen Ersparnisse haben sie in ein Milchgeschäft in der Zietenstraße 1-2 (heute: Werbellinstraße) nahe der heutigen Karl-Marx-Straße[14] investiert. Max Fechner, der wegen seiner politischen Vergangenheit von der Stellenvermittlung ausgeschlossen ist, hilft im Laden. Während der NS-Zeit ist das Geschäft eine Anlaufstelle für viele ehemalige SPD-Mitglieder, die hier Einkäufe erledigen und Informationen austauschen. Darunter sind u.a. Willi Gleitze (1904-1995), ehemaliger SAJ-Funktionär aus Leipzig, der von der Geheimen Staatspolizei verhaftet und gefoltert worden war, oder Bruno Lösche, früherer Weddinger Sozialdemokrat, der 1933 illegale Schriften der SPD vertrieb und mehrere Monate im KZ inhaftiert war. „Wir haben“, erinnert sich die Britzer Sozialdemokratin Dora Lösche[15], bis 1933 Sekretärin der SPD-Fraktion im Preußischen Landtag, „während der Nazi-Zeit nur bei Sozialdemokraten eingekauft. Viele hatten sich ja mit kleinen Läden selbständig gemacht.“ Sie kaufte bei Fechner „und dann trafen wir uns natürlich bei den Veranstaltungen der Berliner Singegemeinschaft in der Singakademie, wo einige hundert Sozialdemokraten zusammenkamen.“ Der frühere SPD-Kreisvorsitzende Hermann Harnisch verkauft Tabakwaren. So bewahren viele Neuköllner Genossinnen und Genossen[16] den Zusammenhalt.
Ella Kay, seit 1919 Mitglied der SPD, Stadtverordnete und 1933 von den Nazis aus dem Jugendamt Prenzlauer Berg entlassen, betreibt 1934 einige Monate eine Wäscherei in der Neuköllner Neißestraße 1[17], nicht weit entfernt von Fechners Geschäft. Mit ihrer Schwester lebt sie bis zum Kriegsende abgelegen in Müggelheim, wo sie Verfolgten Zuflucht gibt und Gleichgesinnte trifft. Auch wenn sie lange Zeit unter Polizeiaufsicht steht, trifft sie regelmäßig Otto Ostrowski, den früheren Bezirksbürgermeister aus dem Prenzlauer Berg, der einen Kreis ehemaliger Mitarbeiter um sich geschart hat. Ab 1942 machen sie Pläne für die Zeit nach Ende des Krieges. Für Ella Kay ist dabei klar, dass „wir alles anders machen wollten als in der Weimarer Zeit und dass wir wieder eine neue Welt aufbauen wollten“.[18]
Am Tempelhofer Damm 83 hat sich Curt Swolinsky, ehemaliger Gewerkschaftssekretär, nach seiner Inhaftierung durch die Nazis ab 1938 eine Existenz als Textilkaufmann aufgebaut. Die Räume des Geschäfts dienen den Tempelhofer Sozialdemokraten 1945, als Swolinsky erster Kreisvorsitzender der SPD wird, als Treffpunkt.[19]
Der Sozialdemokrat Fritz Neubecker, der vor 1933 stellvertretender Abteilungsleiter des SPD-eigenen Film- und Lichtbilddienstes war und in der NS-Zeit Rauchwaren frei Haus lieferte, meldet sich bei der Stadtverwaltung in der Parochialstraße, um bei der Wiederingangsetzung der Städtischen Betriebe zu helfen. „Es war für den Augenblick das wichtigste, Gas, Wasser, Elektrizität, den Verkehr und die Feuerwehr möglichst schnell wieder in Funktion zu bringen“, erinnert sich Neubecker.[20] Auch wenn der spätere Stadtrat Ernst Kehler, Mitglied des Nationalkomitees Freies Deutschland und mit der Roten Armee nach Berlin gekommen, wenig begeistert reagiert, kann Neubecker mit Dr. Hermann Focke, späterer stellvertretender Leiter der Abteilung für Städtische Betriebe, die Arbeit aufnehmen. „Einen besonderen Einsatz und Hilfe forderte das Werk Buch, dem die großen Krankenanstalten angeschlossen waren, weil dort tausende von Kranken und Verwundeten lagen.“
Fritz Neubecker trifft in den ersten Maitagen in seiner Tempelhofer Wohnung am Kleineweg mit Karl Germer jun. zusammen. Germers Vater, bis 1933 Werbeleiter für die sozialdemokratische Presse, hat in den letzten beiden Kriegsjahren an den Flugblättern der „Deutschen Widerstandsbewegung“ mitgewirkt. In seiner Wohnung in der Charlottenburger Kantstr. 125 treffen sich während der NS-Zeit Sozialdemokraten und Gewerkschafter. Dort sollen sie nun am 15. Mai erneut zusammenkommen. „Die Einladungen wurden teils zu Fuß oder mit dem Fahrrad übermittelt“, so Fritz Neubecker.
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Im Anfang Mai im Rathaus Steglitz gegründeten Antifaschistischen Komitee arbeiten Kommunisten und Sozialdemokraten zusammen. Viele kennen sich aus der Zeit vor 1933. Die SPD-Mitglieder Franz Büchel, Emil Michlenz, Ludwig Nagels, Eduard Lawandowsky, Edelmann und Meta Kaasch bauen zugleich die Partei im Bezirk auf, die Ende Mai bereits einen Kreisvorstand wählt und eine erste noch nicht offizielle Geschäftsstelle einrichtet.[21]
Frühzeitig gründet sich auch der Zehlendorfer SPD-Ortsverband: „Hier in Zehlendorf wohnten ja eine ganze Reihe von Sozialdemokraten, die nachher auch im Zentralausschuss der SPD eine entscheidende Rolle spielten“, erinnert sich Herbert Antoine, von den Nazis entlassener früherer Leiter der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit und Statistik bei der Reichs-Rundfunk-Gesellschaft. Erich W. Gniffke, Gustav Dahrendorf und Otto Bach sowie Annedore Leber, Witwe des am 20. Juli 44 hingerichteten Widerstandskämpfers Julius Leber, leben hier. Für die Widerstandsgruppe um Julius Leber hatte Herbert Antoine – wenn auch vergeblich – die Übernahme der Reichs-Rundfunkanstalt nach Hitlers Beseitigung vorbereitet. Auch zu anderen Sozialdemokraten und Widerstandskämpfern hat er bis zuletzt Kontakt. Herbert Antoine, nach dem Einmarsch der sowjetischen Truppen zum Vertrauensmann seiner Straße bestellt, sorgt für die Verteilung von Lebensmittelkarten und die Klärung der wichtigsten kommunalen Probleme. „In den ersten Wochen“, sagt er, „gab es eine enge Zusammenarbeit auch mit jenen, die später zur CDU gingen. Wir hatten ja alle die gleichen Sorgen.“[22]
Die Gruppe Ulbricht hat Anfang Mai den Auftrag, Bürgermeister und Bezirksverwaltungen einzusetzen. Die russischen Kommandanten haben diese Positionen in den ersten Tagen oft nach dem Zufallsprinzip an Personen übergeben, die sich als Antifaschisten oder KZ-Häftlinge vorstellen.
Ulbricht gibt der Gruppe neue Ziele vor. „Jede Bezirksverwaltung sollte von einem Bürgermeister und zwei Stellvertretern (wobei der erste Stellvertreter gleichzeitig der Dezernent für Personalfragen sein sollte) geleitet werden und aus einer Reihe von Dezernaten bestehen: Ernährung, Wirtschaft und Soziales, Gesundheitswesen, Verkehr, Arbeitseinsatz, Volksbildung, Finanzen, einem Beirat für Kirchenfragen u.a.“, so die Erinnerungen von Wolfgang Leonhard.[23]
Aber Ulbricht fordert auch eine „politisch richtige“ Zusammenstellung der Bezirksverwaltungen, ein taktisches Vorgehen: „Kommunisten als Bürgermeister können wir nicht brauchen, höchstens im Wedding und in Friedrichshain. Die Bürgermeister sollen in den Arbeiterbezirken in der Regel Sozialdemokraten sein. In den bürgerlichen Vierteln – Zehlendorf, Wilmersdorf, Charlottenburg usw. – müssen wir an die Spitze einen bürgerlichen Mann stellen, einen, der früher dem Zentrum, der Demokratischen oder Deutschen Volkspartei angehört hat. Am besten, wenn er ein Doktor ist; er muss aber gleichzeitig auch Antifaschist sein und ein Mann, mit dem wir gut zusammenarbeiten können.“[24] In den Arbeiterbezirken will Ulbricht für die übrigen Dezernate Sozialdemokraten oder antifaschistische Arbeiter heranziehen, in anderen Bezirken sollen Bürgerliche tonangebend sein, zumindest nach außen. „Der erste stellvertretende Bürgermeister, der Dezernent für Personalfragen und der Dezernent für Volksbildung – das müssen unsere Leute sein“, so Ulbrichts Vorgabe. „Dann müsst ihr noch einen ganz zuverlässigen Genossen in jedem Bezirk ausfindig machen, den wir für den Aufbau der Polizei brauchen.“[25]
Innerhalb weniger Tage vollzieht die Gruppe Ulbricht den Auftrag. Nur in Kreuzberg scheitert sie zunächst am Widerstand des örtlichen Kommandanten, der entgegen den Vorgaben nicht Deutsche sondern eine Gruppe von Exil-Russen als zivile Verwaltung eingesetzt hat. Wolfgang Leonhard, der für eine Änderung sorgen soll, erkennt am Beispiel Kreuzbergs, so notiert er rückblickend, „erstmalig nicht nur die Ohnmacht der Kommandanten gegenüber den Massen von betrunkenen, randalierenden, sich jeglicher Kontrolle entziehenden sowjetischen Soldaten, sondern auch die Ohnmacht der Politischen Hauptverwaltung sowohl gegenüber den disziplinlosen Rotarmisten, als auch gegenüber selbstherrlichen Kommandanten“.[26]
„Die kämpfende Truppe hatte offenbar kein Konzept für den Frieden sondern nur den Auftrag, den Krieg zu gewinnen“, so der Weddinger Sozialdemokrat Horst Löwe in seinen Erinnerungen[27]. „Nur so ist es zu verstehen, dass der unbekannte Weddinger Bürger Karl Schröder am 28. April zum kommissarischen Bürgermeister für den Wedding bestellt wurde.“ Die sowjetische Kommandantur, so Löwe, „wurde erst unter dem Einfluss in Moskau ausgebildeter deutscher Berater zielstrebiger“. Ab 8. Mai 1945 wird der Kommunist Hans Scigalla – offiziell noch parteilos, weil Parteien nicht zugelassen sind – von der sowjetischen Kommandantur beauftragt, als Weddinger Bürgermeister tätig zu werden. Seine Stellvertreter werden Max Lange (KPD) und Dr. Heinrich Acker (SPD).
In Schöneberg und im kurze Zeit eigenständigen Bezirk Friedenau stehen mit Ferdinand Grändorf und Willy Pölchen Anfang Mai Kommunisten an der Spitze der Verwaltung. In Friedenau sind nur drei weitere Kommunisten in der Bezirksverwaltung tätig, in Schöneberg ist das „von der Gruppe Ulbricht nur ungern hingenommene Übergewicht von Kommunisten unübersehbar“, so der Historiker Siegfried Heimann.[28] Neben 7 Kommunisten leiten fünf Sozialdemokraten in Schöneberg Ressorts: Erich Wendland (stellv. Bürgermeister), Otto Grotewohl (Finanzen, Steuern), Johannes Schallenberger (Bau- und Wohnungswesen), Walter Corsten (Arbeitseinsatz), Gustav Emanuel (Gesundheit). Wendland, 1888 in Berlin geboren, war bis 1933 Funktionär im Buchdruckerverband und in der SPD.
In Tempelhof ernennt der sowjetische Bezirkskommandant am 21. Mai den Sozialdemokraten Jens Nydahl zum neuen Bezirksbürgermeister, nachdem sich herausgestellt hat, dass sein Vorgänger Dr. Willy Kramm der NSDAP angehört hat.
In Lichtenberg hat der kommunalpolitisch erfahrene Sozialdemokrat Franz Stimming, bis 1933 bereits stellvertretender Bezirksbürgermeister, am 2. Mai die Leitung der Verwaltung übernommen, am 10. Mai wird er von Stadtkommandant Bersarin bestätigt. Stimming bringt fähige ehemalige Sozialdemokraten, Kommunisten und Parteilose zusammen. Der Bezirk Lichtenberg, in dem vor 1933 die SPD mit 19 Mandaten vor der KPD mit 13, der Arbeitsgemeinschaft der Rechten mit 11 und der Fraktion der Mitte mit 7 Mandaten stärkste Kraft war, verfügt damit sehr schnell über eine voll funktionsfähige Verwaltung. Gegenüber Gustav Gundelach von der Gruppe Ulbricht treten die Lichtenberger entsprechend selbstbewusst und wenig beeinflussbar auf. Für Gundelach ist das nicht hinnehmbar.
Bereits am 13. Mai lädt Ulbricht erstmals KPD-Funktionäre aus den Bezirken in das neue Hauptquartier seiner Gruppe in der Prinzenallee 80 (heute: Einbecker Straße 41) in Lichtenberg, in der Nähe der sowjetischen Militäreinrichtungen in Karlshorst. Von nun an finden solche Treffen in wöchentlichen Abständen statt. Die Funktionäre der KPD, die sich in der Zeit vor 1933 als Angehörige einer klassenkämpferischen Oppositionspartei fühlten, werden von Ulbricht jetzt staatstragend in den Aufbau der Verwaltung integriert.
Kritisch blickt Ulbricht auf die in Deutschland verbliebenen Kommunisten, die von der Kehrtwende auf der „Brüsseler Konferenz“ der KPD 1935 – weg von den Sozialfaschismus-Vorwürfen gegenüber der SPD und hin zur Schaffung einer Aktionseinheit der Arbeiterklasse und einer antifaschistischen Volksfront – wenig mitbekommen haben. In einem Schreiben an Georgij Dimitrov, Leiter der Abteilung Internationale Information in Moskau, berichtet er am 9. Mai über die Auflösung der spontan entstandenen KPD-Büros und die Orientierung der Kommunisten auf die für sie ungewohnte Tätigkeit in der Verwaltung. „In einer Reihe von Kreisen ist noch die Abgeschlossenheit der Illegalität spürbar. Die Kommunisten haben dort noch wenig Verbindung zu den Menschen der anderen Schichten und politischen Richtungen. Da es weder Zeitungen noch politische Schulungen gibt, ist für die genügende Orientierung der Genossen längere Zeit erforderlich.“[29]
Zur neuen Linie gehört auch die in der Sowjetunion entwickelte Vorstellung, dass zunächst die bürgerlich-demokratische Revolution vollendet werden muss und dabei Überbleibsel des Feudalismus mit einer Bodenreform zu beseitigen sind. Erst danach könnten Arbeiter und Bauern damit beginnen, die Gesellschaft in ihrem Sinne umzugestalten. „Stalin hatte Lenins Etappentheorie für die proletarische Revolution den veränderten Verhältnissen angepasst; in einer Übergangsperiode sollte die bürgerliche Revolution administrativ nachgeholt und damit eine günstige Ausgangsposition für den späteren Übergang zum Sozialismus geschaffen werden“, so die Publizistin Carola Stern[30].
(wird fortgesetzt)
[1] Neben dem Leiter der Gruppe Walter Ulbricht gehören ihr die KPD-Funktionäre Fritz Erpenbeck, Otto Fischer, Gustav Gundelach, Richard Gyptner, Walter Köppe, Wolfgang Leonhard, Hans Mahle, Karl Maron und Otto Winzer an
[2] Dr. Ernst Heinz, http://archiv2007.sozialisten.de/politik/publikationen/kpf-mitteilungen/view_html?pp=1&n=15&bs=1&zid=32469
[3] Harold Hurwitz, Demokratie und Antikommunismus in Berlin nach 1945, Die Anfänge des Widerstandes Teil 1, Köln 1990, S. 23
[4] „Jetzt geht es wieder vorwärts“ Manfred Rexin: Die Bedingungen der SPD-Gründung im Juni 1945, in: 40 Jahre Wiedergründung, Berliner Stimme und August-Bebel-Institut, 1985, sowie Angaben von Manfred Omankowsky im persönlichen Gespräch mit dem Verf.
[5] Rede von Richard von Weizsäcker bei der Gedenkveranstaltung im Plenarsaal des Deutschen Bundestages zum 40. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges in Europa am 8. Mai 1945, http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Richard-von-Weizsaecker/Reden/1985/05/19850508_Rede.html
[6] Harald Hurwitz, Demokratie und Antikommunismus in Berlin nach 1945, Die Anfänge des Widerstandes Teil 1, Köln 1990, S. 20
[7] Erich Kuby, Die Russen in Berlin 1945, Bern und München 1965, S.315
[8] Franz-Neumann-Archiv, Tätigkeitsbericht 1974-1978, Franz Neumann letztes Interview, Broschüre, S. 21
[9] Rekonstruierte Notizen Ulbrichts, abgedruckt in: Manfred Teresiak, Die SED in Berlin, Dokumente zur Vereinigung von KPD und SPD, Band 1, S. 17
[10] Wolfgang Leonhard, Die Revolution entlässt ihre Kinder, 6. Aufl., Köln 1955, S. 352
[11] Gert Gruner, Manfred Wilke, Sozialdemokraten im Kampf um die Freiheit, München 1981, S. 68. In dem dort wiedergegebenen Protokoll der „Sechziger-Konferenz“ aus Vertretern von SPD und KPD im Dezember 1945 nennt Otto Grotewohl als Datum des Briefes den 28. April. Da Ulbricht zu diesem Zeitpunkt noch in Moskau war, dürfte das eigentliche Datum des Briefes erst nach dem 2. Mai 1945 liegen, als Ulbrichts Anwesenheit in Berlin bekannt wird.
[12] Gert Gruner, Manfred Wilke, Sozialdemokraten im Kampf um die Freiheit, S. 69
[13] Harald Hurwitz, Demokratie und Antikommunismus in Berlin nach 1945, Die Anfänge des Widerstandes Teil 1, Köln 1990, S. 88
[14] Rudi Beckert, Lieber Genosse Max: Aufstieg und Fall des ersten Justizministers der DDR Max Fechner, S. 42
[15] Ulrich Horb, Berliner Stimme, Mai 1985
[16] In einem Protokoll der Neuköllner SPD vom 16. Dezember 1945 über den ersten Kreisdelegiertentag der Nachkriegszeit, zitiert nach Hans-Rainer Sandvoß, „Widerstand in Neukölln“, S.83 heißt es: „Genosse Fechner unterstrich in seinen Ausführungen die Bedeutung der Neuköllner Organisation für die illegale Arbeit und verwies nicht ohne Stolz darauf, daß die ersten Anfänge der Parteiarbeit nach dem Zusammenbruch des Nazismus von Neukölln aus aufgenommen wurden.“
[17] Hans-Rainer Sandvoß, Widerstand in Neukölln, Berlin 1990, S. 66
[18] Abschrift eines Gesprächs von Manfred Rexin mit Ella Kay, Archiv Siegfried Heimann
[19] Ditmar Staffelt, Der Wiederaufbau der Berliner Sozialdemokratie 1945/46 und die Einheitsfrage, S. 149
[20] Manuskript „Stunde Null“ von Fritz Neubecker vom 20.4.1965, NL Fritz Neubecker im August-Bebel-Institut
[21] Ditmar Staffelt, Der Wiederaufbau der Berliner Sozialdemokratie 1945/46 und die Einheitsfrage, Frankfurt/M., 1986, S. 66
[22] Ulrich Horb, in: Berliner Stimme, Juni 1985
[23] Wolfgang Leonhard, Die Revolution entlässt ihre Kinder, S. 356
[24] Zitiert nach Wolfgang Leonhard, Die Revolution entlässt ihre Kinder, S. 356
[25] Zitiert nach Wolfgang Leonhard, Die Revolution entlässt ihre Kinder, S. 357
[26] Zitiert nach Wolfgang Leonhard, Die Revolution entlässt ihre Kinder, S. 365
[27] Horst Löwe, Erinnerungen, Manuskript, im Archiv des Verfassers
[28] Siegfried Heimann, Politisches Leben in Schöneberg/Friedenau in den ersten Jahren nach Kriegsende, in: Weiterleben nach dem Krieg Schöneberg/Friedenau 1945/1946, Berlin 1992, S. 69
[29] Walter Ulbricht, zitiert nach Wolfgang Leonhard, Die Revolution entlässt ihre Kinder, S. 392
[30] Carola Stern, Ulbricht, Berlin 1964, S.113