1945: Die Wiedergründung der SPD in Berlin (IX)

Ausriss aus der Zeitung "Das Volk", Juli 1945

Ausriss aus der Zeitung „Das Volk“, Juli 1945

Am selben Tag wie die Funktionärskonferenz der SPD findet im großen Saal des Neuen Stadthauses eine Gründungsversammlung der Gewerkschaft statt. Eingeladen hat Walter Ulbricht.

Die Sozialdemokraten Hermann Schlimme (früheres  ADGB-Vorstandsmitglied) und Bernhard Göring (früherer Generalsekretär des AfA-Bundes) haben sich bereits im Mai mit dem Aufbau einer einheitlichen Gewerkschaftsbewegung befasst, die auch die früheren christlichen und die hirsch-dunckerschen Gewerkschaften einschließen sollte. Karl Germer jun. nahm am 18. Mai mit Jakob Kaiser, früherer Kartellsekretär der christlichen Gewerkschaften, Kontakt auf. Auch KPD-Vertreter suchten parallel das Gespräch. Eine einheitliche Organisation hatten führende Gewerkschafter wie Jakob Kaiser und  Wilhelm Leuschner, zuletzt  Mitglied des Bundesvorstands des ADGB, bereits 1933 für die Zeit nach dem Ende der NS-Herrschaft geplant. Gustav Dahrendorf berichtet von einer letzten Begegnung mit Leuschner in der Haft, bevor der Gewerkschafter als Widerstandskämpfer und Beteiligter am Attentat vom 20. Juli 1944  im September 1944 in Plötzensee hingerichtet wurde. Bei diesem Zusammentreffen habe ihm Leuschner noch das Wort „Einheit“ zugerufen.[1]

Für die KPD sind Roman Chwalek, früherer Gewerkschaftssekretär in Oppeln, und Hans Jendretzky, späterer Vorsitzender des FDGB in der sowjetischen Zone, mit dem Aufbau der Gewerkschaft beauftragt. Der Gründungskreis nutzt Räume im Gebäude der Feuersozietät in der Parochialstraße. „Die Zusammensetzung dieses gewissermaßen vorläufigen Vorstandes“, so Karl Germer jr., „wünschten die Russen in folgender Aufschlüsselung: 3 Kommunisten, 3 Sozialdemokraten, 2 Vertreter der mehr ,bürgerlichen‘ Gewerkschaften (also CDU-Anhänger).“ Als KPD-Vertreter werden Chwalek, Jendretzky und Paul Walter benannt, für die Christdemokraten arbeiten Jakob Kaiser und Ernst Lemmer mit.  Als dritten Vertreter der Sozialdemokraten neben Hermann Schlimme und Bernhard Göring bringen KPD-Vertreter Otto Braß ins Spiel, vor 1933 Reichstagsmitglied für die SAP, der in der Emigration in Moskau russisch gelernt hat und den Sozialdemokraten deshalb als Übersetzer empfohlen wird. Nach seiner Benennung durch Hermann Schlimme stellt sich heraus, dass er nun Mitglied der KPD ist. Die paritätische Besetzung des Gründungskreises, von der SPD  angesichts der früheren Stärke der Sozialdemokraten in den Gewerkschaften ohnehin schon als Zugeständnis an die KPD empfunden, ist damit vom Tisch. Als neunter nimmt Walter Ulbricht an den Beratungen teil. Karl Germer jr. wird Ausschusssekretär ohne Stimmrecht.

Zur Gründungsversammlung kommen 579 Funktionäre aller Gewerkschaftsrichtungen. Der Kampf um den Einfluss in den Gewerkschaften wird in den kommenden Wochen zu einem wesentlichen Schauplatz der Auseinandersetzung  zwischen SPD und KPD. Dabei hat die KPD den Vorteil, dass sie sich in ihrer Organisation auf Betriebsgruppen stützt, während sich die SPD wieder nach dem Wohnortprinzip organisiert. In den Betrieben kennen sich die Sozialdemokraten untereinander kaum.

Anders als die in zahlreiche Berufsverbände aufgesplitterte Gewerkschaftsbewegung der Weimarer Zeit sollen nun übergreifende Industriegewerkschaften entstehen. Als erste  Aufgaben des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes werden der „entschlossene Kampf gegen die nazistische Ideologie und das Gift des Militarismus“ genannt, der „Einsatz aller Arbeitskräfte, um die Versorgung der Bevölkerung zu sichern und Berlin durch angestrengte Arbeit wieder aufzubauen“. Erst als dritter Punkt kommt, was gemeinhin als  Aufgabe von Gewerkschaften angesehen wird: die „Vertretung der Arbeiter und Angestellten im Rahmen der Bestimmungen der Besatzungsbehörden durch Abschlüsse von Tarifverträgen und Organisierung des Arbeitseinsatzes, Mitarbeit beim Wiederaufbau der Wirtschaft und der Sozialversicherung und Sicherung des demokratischen Mitbestimmungsrechtes der Arbeiter und Angestellten“. An vierter Stelle steht die „Erziehung der Arbeiterschaft im Geiste des Antifaschismus, des demokratischen Fortschritts und zur Erkenntnis ihrer sozialen Lage, Pflege der Verbundenheit mit Arbeitern der anderen Länder und Festigung der Freundschaft zu den anderen Völkern“.[2]

——-

Zwei Tage nach der Gründungsversammlung der SPD findet am 19. Juni mit je 5 Vertretern die verabredete erste Aussprache zwischen der SPD-Führung und der KPD statt. Für die SPD nehmen Grotewohl, Gniffke, Dahrendorf, Lehmann und Meier teil, die KPD ist mit Ulbricht, Ackermann, Geschke, Jendretzky und Winzer erschienen. Walter Ulbricht macht deutlich, dass er nichts von einem schnellen Zusammengehen der Arbeiterparteien hält. Erst müssten die ideologischen Fragen geklärt werden, damit es keine erneute Zersplitterung gibt. Otto Meier hält das auch in einer gemeinsamen Partei für möglich[3]. Gniffke beschreibt die ganze Atmosphäre als „unerfreulich“[4], vor allem Ulbricht wird als unangenehm empfunden, er wirkt arrogant, schaut keinen der Sozialdemokraten an. „Hier stand uns kein Partner gegenüber, mit dem man verhandeln konnte, sondern ein Gegner“, stellt Gniffke fest. Ulbrichts Vorgehen aber ist erfolgreich. Gniffke: „Um diese Verhandlung so schnell wie möglich zu beenden, stimmten wir seinen Argumenten schließlich zu.“

Gniffke und Ackermann werden beauftragt, noch vor Ort eine Vereinbarung zur Zusammenarbeit beider Parteien abzustimmen. Ackermann hat dafür einen fertigen Entwurf in der Tasche, Gniffke setzt einige wenige Änderungen durch, dann wird die Vereinbarung angenommen. Sie sieht die Bildung eines gemeinsamen Arbeitsausschusses von je fünf Vertretern vor und bekräftigt den „festen Willen beider Parteien zur aufrichtigen Zusammenarbeit“[5]. Beide Parteien sollen auch in den Gliederungen vor Ort gemeinsame Arbeitsausschüsse einrichten, zur Klärung ideologischer Fragen sind gemeinsame Beratungen vorgesehen. Mit allen anderen antifaschistischen demokratischen Parteien soll ein „fester Block“ gebildet werden. Im Zentralausschuss berichtet Grotewohl über die Ergebnisse, Otto Meier steuert eine atmosphärische Schilderung bei, in der er Ulbricht und sein schulmeisterliches Auftreten charakterisiert. Aber es gibt ein einstimmiges Votum für die Vereinbarung.

Max Fechner ist an diesem 19. Juni zu Gast bei einer öffentlichen Versammlung der Friedrichshainer Sozialdemokraten. Deren Vorsitzender Willi Schwarz spricht sich für die Aktionseinheit aus, der KPD-Vertreter Erwin Butte macht allerdings unter den Anwesenden („80 Prozent über 55 Jahre“) Fanatiker aus, „welche blind gegen alles Neue sind“. [6] Fechner bekräftigt selbstbewusst den Willen der SPD, beim Wiederaufbau anzupacken. Dabei sieht er die SPD im Wettbewerb mit den anderen Kräften, ein Wettbewerb, bei dem sie auch „wieder die Oberhand gewinnen wird“.  Der KPD wirft er vor, sich zu viele Posten gesichert zu haben, dabei verweist er auf die Bürgermeistereien und Arbeitseinsatzstellen speziell in den Bezirken Friedrichshain und Reinickendorf. Und er nennt das Beispiel des in Lichtenberg abgesetzten sozialdemokratischen Bürgermeisters Franz Stimming. „Aus all diesem“, sagt Fechner in der Veranstaltung, „ist zu ersehen, wenn wir die Mehrheit und Oberhand haben wollen, dass (sich) jeder von uns sehr aktiv betätigen muss.“ Es gebe genug Flugblätter und Klebezettel.[7]

Von der Gründungsversammlung der SPD hören Charlotte und Willy Buße erst mit Verspätung. Vier Tage später treten sie ein. „Da hatten Tempelhofer Sozialdemokraten in einem leerstehenden Laden ein kleines Büro eingerichtet“, berichtet Willy Buße[8], vor 1933 Gruppenkassierer in einer Neuköllner Abteilung. Der Laden hatte bis zum Einmarsch der Roten Armee als der „braune Laden“ gegolten. Für die von den Nazis verlassenen Räume hatten Tempelhofer Sozialdemokraten schon die nötigsten Büromöbel organisiert. Die Partei, so Willy Buße, wird in Tempelhof so gegründet wie sie vor 1933 organisiert war: „Da gab es die Abteilungen Neu-Tempelhof, Tempelhof, Mariendorf, Marienfelde und Lichtenrade. Unsere Abteilung Tempelhof reichte vom Kanal bis zur S-Bahn. Sie wurde später dann geteilt.“ Am 24. Juni trifft sich die Abteilung Tempelhof zum ersten Mal, am 2. Juli stellt Otto Burgemeister den Antrag auf Registrierung der Tempelhofer SPD. Abteilungsversammlungen finden meist in der Luise-Henriette-Schule statt, Gruppentreffen, die sogenannten Zahlabende, in Lokalen.

Die Büroräume in der Bülowstraße reichen für die SPD nicht mehr aus. Als Schöneberger Bezirksstadtrat kann Otto Grotewohl ein leerstehendes Haus in der Ziethenstraße 18 sicherstellen, ein Haus, auf das Ansprüche aus der Zeit vor 1933 bestehen. Nur Hauptkassierer August Karsten bleibt in den alten Räumen. „Angestellte und Sekretär wurden eingestellt – unter ihnen Annedore Leber“, so Karl Germer.[9] Die Sozialdemokratin und Witwe des Widerstandskämpfers Julius Leber hat in Schöneberg während der Nazi-Zeit mit ihrem Mann eine Kohlenhandlung betrieben. Der Zentralausschuss sieht sich als Ansprechpartner für den deutschlandweiten Aufbau der SPD, auch wenn er über Berlin hinaus organisatorisch zunächst kaum wirken kann. Mit dem Aufbau einer eigenständigen Berliner Parteiorganisation betraut der ZA den  Neuköllner Hermann Harnisch. Daneben beteiligen sich auch die anderen ZA-Mitglieder in ihrem jeweiligen Wohnbezirk an der Entwicklung der Abteilungs- und Kreisstrukturen.

Die sowjetische Militäradministration möchte sich ein Bild von den Sozialdemokraten machen und lädt am 21. Juni eine Delegation des Zentralausschusses nach Lichtenberg ein. Grotewohl, Fechner, Dahrendorf, Meier und Gniffke werden noch am selben Tag abgeholt. Sie fahren zunächst zur Wohnung von Walter Ulbricht und seiner Lebensgefährtin Lotte Kühn, um sich, so Erich Gniffke, dort Ratschläge für die Begegnung zu holen.  Ulbricht empfiehlt den Sozialdemokraten, Lotte Kühn als Dolmetscherin mitzunehmen. Der SMAD hat seinen Sitz in einem beschlagnahmten Mietshaus in der Lichtenberger Berliner Straße, in der sich noch die Wohnungseinrichtungen der früheren Inhaber befinden. Eine Stunde warten die Zentralausschussmitglieder darauf, vorgelassen zu werden, dann erscheint ein russischer Offizier, der sich zunächst nicht zu erkennen gibt. Erst später erfährt Gniffke, dass es sich um den ehemaligen Botschaftsrat an der sowjetischen Botschaft in Berlin Wladimir Semjonowitsch Semjonow[10] handelt, der als stellvertretender Politischer Berater des Chefs der Sowjetischen Militäradministration Georgi Shukow zurückgekommen ist und sich einen ersten Eindruck von den Sozialdemokraten verschaffen will. Empfangen werden die Sozialdemokraten vom Chef des Stabes, Generalleutnant Bokow, und dem Chef des Informationsamtes bei der SMAD Oberst Tulpanow. Tulpanow  ist es, der den Sozialdemokraten die künftige Aufteilung Berlins in Sektoren erläutert und ihnen empfiehlt, Wohnsitze im sowjetischen Sektor zu nehmen.

Bokow informiert die Sozialdemokraten über die geplante Besetzung von Positionen in den neu entstehenden Ländern der sowjetischen Zone, für drei der fünf Länder sind Sozialdemokraten vorgesehen. Es solle eine parlamentarische Demokratie aufgebaut werden. Das den Berliner Sozialdemokraten noch unbekannte Buchenwald-Manifest, das eine Einheitspartei propagiert, wird von Bokow als Begründung für die Ablehnung von Hermann Brill als Thüringer Ministerpräsident genannt. Als Wünsche äußern die Sozialdemokraten die Bereitstellung von PKWs und Treibstoff, um  den Kontakt zu SPD-Gruppierungen außerhalb Berlins wahrnehmen zu können. Zudem möchten die Sozialdemokraten ein eigenes Presseorgan gründen. Bokow sichert die Erfüllung der Wünsche zu und lädt zu Kaviar, Krimsekt und Wodka. Die Sozialdemokraten kommen, wie Gniffke sich erinnert, in „gehobene Stimmung“.

Zwei Tage später werden die Sozialdemokraten erneut von sowjetischen Offizieren abgeholt, diesmal zu einem Gespräch mit Marschall Shukow, der eindringlich die Opfer des sowjetischen Volkes zur Beseitigung des Faschismus darstellt. Die Sozialdemokraten sollten in ihm einen Freund des deutschen Volkes sehen, Shukow will  die Arbeitslosigkeit beseitigen. „Wir waren stark beeindruckt“, erinnert sich Gniffke[11]. Ermutigt davon gibt Otto Meier einen realistischen Bericht, wie der Einmarsch der Roten Armee in Berlin empfunden wurde, er berichtet von Übergriffen und Vergewaltigungen und weist auf die noch immer herrschende Unsicherheit hin. Shukow betont, dass in solchen Fällen hart durchgegriffen werde, es handele sich aber um Einzelfälle. Grotewohl erinnert sich später an die Zusicherung Shukows, es werde besser.[12] Gniffke hält für sich fest, es sei der notwendige „menschlich gute Kontakt“ zum Chef der sowjetischen Militäradministration gefunden worden.

——-

Nach Stalins Vorgaben sollen auch zwei bürgerliche Parteien entstehen. Deren Gründung kommt allerdings nicht so recht voran. Im Überschwang berichtet die Deutsche Volkszeitung der KPD bereits über Einheitskundgebungen mit diesen Parteien, bevor sie überhaupt entstanden sind. Richard Gyptner wird von Ulbricht beauftragt, die zögerlichen Liberalen zur Parteigründung zu drängen[13]. Am 25. Juni gründet sich schließlich die Christlich-Demokratische Union (CDU), am 5. Juli folgt die Liberal-Demokratische Partei (LDPD). Gemeinsam sollen alle neu gegründeten Parteien in einem antifaschistisch-demokratischen Block zusammenarbeiten. In ihm können Entscheidungen nur einstimmig getroffen werden. Zwei Jahre später wird Ulbricht bei einem Moskau-Besuch von Stalin nahegelegt, auch für die ehemaligen NSDAP-Mitglieder eine eigene Partei zu gründen, damit sie sich eingebunden fühlen. Am 19. Juni 1948 entsteht so mit Unterstützung von in der Sowjetunion geschulten Funktionären die Nationaldemokratische Partei.

Am 25. Juni findet im Kinotheater Metropol in der Schönhauser Allee die erste Groß-Berliner Funktionärskonferenz der KPD statt, einberufen von der provisorischen Berliner KPD-Bezirksleitung um Ottomar Geschke, Richard Gyptner und Walter Köppe. An den Wänden hängen Spruchbänder: „Keine Wiederholung der Fehler von 1918“, „Für die Freundschaft mit dem Sowjetvolk“, „Nur die antifaschistische Einheit sichert die Wiedergeburt unseres Volkes“[14]. Klassische Orchestermusik zu Beginn – die 3. Elegie Tschaikowskis – soll, so Wolfgang Leonhards Interpretation, den neuen, seriösen Charakter der Partei verdeutlichen. „Es war“, so die Einschätzung von Erich Gniffke, „so etwas wie eine Gehirnwäsche der Altkommunisten veranstaltet worden, an der sich nicht nur die aus der Emigration Zurückgekehrten beteiligt hatten, sondern auch in großem Maßstab Vertreter des NKWD“[15], also des sowjetischen Geheimdienstes. Ein kleiner Teil der in Deutschland verbliebenen Kommunisten, so Gniffkes Beobachtung, sehe in den Sozialdemokraten noch immer „Sozialfaschisten“, die es bekämpfen gelte. Ein größerer Teil jedoch, der während der Nazi-Zeit gemeinsam mit Sozialdemokraten verfolgt  wurde, wünsche sich die Erneuerung der KPD. Gniffke: „Viele von ihnen waren, ebenso wie wir Sozialdemokraten, erschüttert über das Verhalten der Rotarmisten, denen bei Plünderungen und Vergewaltigungen weder Klassen- noch Parteizugehörigkeit irgend etwas bedeutete.“ Ulbricht schwört die Anwesenden auf die neue Linie der Partei ein. Statt einer „Partei des revolutionären Proletariats“ wie vor 1933, einer Oppositionspartei, gibt Ulbricht die mit Fred Oelßner entwickelte Parole von der „nationalen Partei, der Partei des Volkes und der Partei des Friedens“[16] aus. Die Kommunisten sollen eine neue Rolle spielen, sie können die Politik bestimmen. Viele sind damit noch überfordert. Richard Gyptner beschreibt Ulbrichts Ausführungen als eine „politisch-ideologische Lektion, die ihnen einen ganz neuen, bisher nicht gekannten Weg aufzeigte“. Schon an diesem Abend kündigt Ulbricht an, dass statt eines sektenartigen kommunistischen Jugendverbandes nun „eine einheitliche freie Jugendbewegung“ entstehen solle.

Ulbricht erklärt aber auch, warum es zunächst keine einheitliche Partei geben könne. Zunächst müssten die Voraussetzungen dafür geschaffen werden. Dazu gehöre, dass die „fortgeschrittenen Kräfte der Arbeiterklasse und des werktätigen Volkes“ über wissenschaftliche Erkenntnis über den Sozialismus in der Sowjetunion und über die Weltanschauung des Marxismus-Leninismus verfügen. Das Klassenbewusstsein müsse wieder hergestellt werden. Und, so notiert sich Gniffke Ulbrichts Worte: „Viele Funktionäre der Sozialdemokratie schleppen noch den Ballast reformistischer Denkweise mit sich herum.“ Die Emigranten, so Gniffkes Eindruck, haben die KPD fest im Griff, eine nennenswerte Diskussion findet nicht statt.

Das zeigt sich auch im Umgang mit den Parteigliederungen der KPD, insbesondere in Lichtenberg, wo die Gruppe Ulbricht ihr Hauptquartier hat. Anfang April weist die Unterbezirksleitung (UBL)[17] Lichtenberg per Rundschreiben die Zellen an, ihr alle Zellenabende und sonstigem Versammlungen fünf Tage vorher zu melden. „Es ist den Zellen strengstens untersagt, eine Veranstaltung ohne vorherige Meldung bei der UBL zu treffen“, heißt es im Rundschreiben. „Sämtliche Veranstaltungen werden von uns mit einem Referenten beschickt. Nur so kann eine einheitliche Ausrichtung der Organisation erreicht werden.“ Termine und Uhrzeiten der Zellenabende werden von oben festgelegt, politische Funktionäre sind verpflichtet, teilzunehmen. Kreativität ist nicht mehr gefragt: Für politische Transparente gibt es 20 genehmigte Losungen der Parteizentrale, alle anderen müssen abgenommen und geändert oder vernichtet werden.[18]

——-

Hermann Harnisch, Vorsitzender der mitgliederstarken SPD Neukölln[19], hat an diesem 25. Juni die SPD-Vorstände aller Berliner Stadtbezirke zu einer ersten Zusammenkunft mit dem Zentralausschuss eingeladen. Harnisch war von 1923 bis 1925 sowie zwischen 1929 und 1933 Mitglied der Neuköllner Stadtverordnetenversammlung und gehörte für die SPD von 1924 bis 1932 dem Preußischen Landtag an.  Einen eigenen Bezirksvorstand für Berlin  initiiert der Zentralausschuss noch nicht, denn, so die Einschätzung des Historikers Harold Hurwitz, er benötigt Berlin „als Fundament für seine ansonsten keineswegs gesicherte Tätigkeit im Reich“.[20] Erst Mitte September 1945 findet die erste Berliner Funktionärskonferenz der SPD statt, zwei Monate später der erste Bezirksparteitag. So lange ist der Zentralausschuss auch der Ansprechpartner für die Belange der Berliner SPD.

Trotz des hohen Frauenanteils an der Bevölkerung sind sämtliche 20 Kreisvertreter der SPD im Sommer 1945 männlich: Martin Kellermann vertritt Mitte, Paul Hennig Tiergarten, Robert Hensel Wedding, Werner Rüdiger Prenzlauer Berg, Willi Schwarz Friedrichshain, Willi Kiaulehn Kreuzberg, Karl Arndt Charlottenburg, Erich Lezinsky Spandau, Ludwig Wünsch Wilmersdorf, Karl Hoffmann Zehlendorf, Robert Knebloch Schöneberg, Franz Büchel Steglitz, Kurt Swolinsky Tempelhof, Hermann Harnisch Neukölln, Paul Ickert Treptow, Karl Willam Köpenick, Wilhelm Peters Lichtenberg, Georg Heims Weißensee, Fritz Schmidt Pankow und der spätere Landesvorsitzende Franz Neumann Reinickendorf.[21]

Otto Meier berichtet beim Treffen am 25. Juni über die Vorarbeiten zur Herausgabe einer sozialdemokratischen Zeitung, die nach den Vorgaben der sowjetischen Militäradministration allerdings, anders als das KPD-Blatt „Deutsche Volkszeitung“, nicht das Zentralorgan der Partei sein sollte, sondern eine lokale Berliner Parteizeitung.

Der Aufbau der Berliner Parteiorganisation ist in vollem Gange. In vielen SPD-Abteilungen finden in diesen Tagen Versammlungen mit Vorstandswahlen statt. Die SPD Britz hatte ihre Gründungskonferenz am 24. Juni, in Rudow wurde bereits am 21. Juni gewählt. Die Neuköllner SPD-Abteilungen 96 und 98 bestimmen ihre Vorstände am 26. Juni und 1. Juli.[22] Fritz Neubeckers Tempelhofer Abteilung konstituiert sich am 29. Juni. Manche Abteilungen, so etwa die Sozialdemokraten in Lübars und Tiergarten, brauchen bis zum August. Wahlen, die vor dem Gründungstag am 17. Juni stattgefunden haben, müssen wiederholt werden.

Die Suche nach Gleichgesinnten beschäftigt die Sozialdemokraten in allen Bezirken. Ein Beispiel ist der Aufruf in Buckow-West, der die Buckower „Bürger und Bauern“ – wohl noch im Juni 1945 – mit eindringlichen Worten zum Umdenken nach der Zeit des Nationalsozialismus auffordert: „Unendliche Weiten des Leides, nicht ermessbare Schrecken des Sterbens. Und aus unserer Mitte ist all dieses Entsetzen über die Welt hereingebrochen … Alle Deutschen, die guten Willens sind beschwören wir: Es werde Licht! Lasset endlich, endlich ein freiheitliches, wahrhaft demokratisches Deutschland auferstehen! Ein Garant dafür kann nur die Sozialdemokratische Partei Deutschlands sein. Kommet zu uns! Tretet ein in die SPD.“[23]

In vielen Abteilungen werden die Initiatoren der Gründung als Vorstandsmitglieder bestätigt, zum Teil per Akklamation. „Man war praktisch ernannt“, erinnert sich die Britzer Sozialdemokratin Dora Lösche[24]. Mitunter übernehmen auch ehemalige Funktionäre aus der Zeit vor 1933 diese Aufgaben wieder. In Blankenfelde wird, so der Pankower Sozialdemokrat Erwin Wegener in seinen Erinnerungen, der alte Vorstand wieder gewählt: Richard Wagner, Wilhelm Wegener, Otto Brambor, Alwin Paulik und Heinrich Franke. „Enttäuscht musste ich jedoch feststellen, dass unsere Nachwuchskader aus der SAJ, die jetzt gerade so dringend für den Neuaufbau der Partei gebraucht wurden, fehlten. Viele hatten ihr Leben verloren und ein Teil war auch noch in Kriegsgefangenschaft.“[25]

(wird fortgesetzt)

[1] Berliner Gewerkschaftsgeschichte von 1945 bis 1950, DGB, Berlin 1971, S. 23
[2] Das Volk, Nr. 1 vom 7. Juli 1945, S. 3
[3] Harold Hurwitz, Demokratie und Antikommunismus in Berlin nach 1945, Die Anfänge des Widerstands, Teil 1, S.155
[4] Erich Gniffke, Jahre mit Ulbricht, S. 33
[5] Erich Gniffke, Jahre mit Ulbricht, S. 33
[6] Podewin/Teresiak, Brüder, in eins nun die Hände, S. 32
[7] Zitat nach Podewin/Teresiak, Brüder, in eins nun die Hände, S. 32
[8] Braun raus, Rot rein, Ulrich Horb in: Berliner Stimme Extra „40 Jahre Wiedergründung der Berliner SPD, Mai 1985,
[9] Karl J. Germer, Von Grotewohl bis Brandt, S. 43
[10] Wladimir Semjonowitsch Semjonow, geb. 16. Februar 1911 in Krasnoslobodskoje (heute Inokowka), gest.  18. Dezember 1992 in Köln, wurde 1953 zum sowjetischen Botschafter in der DDR berufen, von 1955 bis 1978 war er stellvertretender Außenminister, von 1978 bis 1986 vertrat er die Sowjetunion als Botschafter in Bonn.
[11] Erich Gniffke, Jahre mit Ulbricht, S. 44
[12] Harold Hurwitz, Die Anfänge des Widerstands, Teil 1, S. 156
[13] Mario Frank, Walter Ulbricht, eine deutsche Biographie, S. 199
[14] Bruno Kuster, Reiner Zilkenat, Hitlerfaschismus geschlagen – die KPD lebt und kämpft!, Berlin 1945, S., 146
[15] Erich Gniffke, Jahre mit Ulbricht, S. 35
[16] Wolfgang Leonhard, Die Revolution entlässt ihre Kinder, S. 401
[17] UBL, entspricht der späteren Kreisleitung
[18] Heuer/Podewin, Der Vereinigungsprozess in Lichtenberg, Berlin 1993, S. 19f
[19] Die SPD Neukölln hat bereits im Juni/Juli geschätzte 6300 Mitglieder und liegt damit deutlich vor dem Wedding mit rund 2000 Mitgliedern. Bis  September wächst die Mitgliederzahl auf 8160. Diese Zahlen finden sich bei Harold Hurwitz, Anfänge des Widerstands, Teil 1, S.258
[20] Harold Hurwitz, Anfänge des Widerstands, Teil 1, S.256
[21] Notiz von Fritz Neubecker, zitiert nach Ditmar Staffelt, Der Wiederaufbau der Berliner Sozialdemokratie, S. 115
[22] Harold Hurwitz, Anfänge des Widerstands, Teil 1, S.253
[23] https://www.vorwaerts.de/artikel/spd-aufruf-kehrt-heimat-zurueck
[24] Harold Hurwitz, Anfänge des Widerstands, Teil 1, S.253
[25] Erinnerungen von Erwin Wegener, Manuskript im Archiv des Verfassers, S. 17

Über Ulrich Horb

Jahrgang 1955, Journalist und Fotograf in Berlin
Dieser Beitrag wurde unter SPD-Geschichte abgelegt und mit , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert