Die Sozialdemokraten um Erich Gniffke und Otto Grotewohl, der in der Motzstraße 22 wohnt, aber bis Ende April in der Kronprinzenallee 320 in Berlin-Zehlendorf untergetaucht war, treffen sich täglich im ersten Stock der Bülowstraße 7. Der in Schöneberg eingesetzte stellvertretende Bürgermeister Wendland hat eine erste Versammlung im Bezirk einberufen, auf der auch Otto Grotewohl spricht. Dessen Redetalent sorgt für weiteren Zustrom zur SPD in der Bülowstraße. „Viele Spitzenfunktionäre aus der SPD und den Gewerkschaften von vor 1933 fanden sich dort ein, so der Vorsitzende des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB), Theodor Leipart, die ADGB-Vorstandsmitglieder Carl Volmershaus und Hermann Schlimme, der Vorsitzende des Metallarbeiterverbandes, Alwin Brandes, der zu der illegalen Gniffke-Grotewohl-Gruppe gehörende frühere Waldenberger Polizeipräsident Richard Wende“, so Erich Gniffke in seinen Erinnerungen.[1] „Ehemalige Spitzenfunktionäre des Allgemeinen freien Angestelltenbundes (AfA-Bund) waren zahlreich vertreten, darunter Bernhard Göring, Helmut Lehmann und der spätere Bürgermeister Dr. Otto Suhr, ebenso ehemalige Reichstags- und preußische Landtagsabgeordnete, wie Engelbert Graf, Werner Luft, August Karsten, Friedrich Ebert, Otto Meier, Toni Wohlgemuth, Karl Litke u.a. Viele auch später bekanntgewordene Männer waren dabei, wie der ehemalige Vorwärts-Redakteur Gustav Klingelhöfer, der erste nach 1945 gewählte Berliner Oberbürgermeister Dr. Ostrowski, der spätere Präsident des Berliner Abgeordnetenhauses, Otto Bach, ferner Dr. Walter Menzel, der spätere Innenminister von Nordrhein-Westfalen und Schwiegersohn des ehemaligen Reichs- und preußischen Staatsministers Carl Severing.“
Gustav Dahrendorf, früherer Hamburger Reichstagsabgeordneter, Redakteur der SPD-Zeitung „Hamburger Echo“ und ehemaliger Mitarbeiter von Wilhelm Leuschner, ist Ende 1933 nach Berlin gekommen. Als Mitbeteiligter am Attentat vom 20. Juli wird er 1944 zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt und von der Roten Armee am 27. April 1945 aus dem Zuchthaus Brandenburg-Goerden befreit. Er findet rasch zur Gruppe in der Bülowstraße.
Sozialdemokrat Hermann Schlimme, der im Gürtlerweg 11 in Rudow wohnt und dort den neu eingesetzten Bürgermeister Glenz unterstützt, wendet sich am 11. Mai schriftlich an den Ortskommandanten der Roten Armee und bittet um Zustimmung zur Gründung eines lokalen Kampfverbandes „Freies Deutschland“.
Mitte Mai, so die Erinnerung von Dora Lösche[2], treffen sich bereits 100 bis 120 Britzer Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten im Lokal „Gletscher“ zu einer ersten Versammlung. Viele kommen aus der Hufeisensiedlung, vor 1933 eine Hochburg der SPD. In Britz organisieren Fritz Schreiber und Gustav Kamann die Zusammenkünfte, in Rudow Emil Wutzky. „Wir haben uns bei der Wiedergründung in Neukölln nicht nach den alten SPD-Abteilungen gerichtet“, erinnert sich Dora Lösche[3]. „Wir haben Ortsteile wiedergegründet. Der Einzugsbereich ergab sich durch die Brückensprengungen und Absperrungen.“
In Mitte, dem am meisten zerstörten Bezirk, gibt es zwei verschiedene Gruppen, die ohne voneinander zu wissen, den Aufbau einer SPD-Kreisorganisation betreiben. Eine organisiert der Gewerkschafter Saar, die andere Kurt Haase, 33 Jahre alt, mit 14 Jahren der Sozialistischen Arbeiterjugend beigetreten und während der NS-Zeit an der Produktion illegaler Flugblätter beteiligt. Nachdem er im Februar 1945 ausgebombt worden ist, kommt er bei verschiedenen Freunden und Genossen unter. Im Mai suchen sie sich gegenseitig wieder, zehn, zwölf sind sie. „Wir waren wie die Kinder, so voller Illusionen. Der Krieg war zu Ende, wir sind mit einer ungeheuren Begeisterung an die Arbeit gegangen. Jetzt sollte es losgehen“, erinnert sich Kurt Haase.[4] An den Ruinen der Häuser kleben Zettel mit Angeboten und Gesuchen, darunter ist einer, auf dem die Vervielfältigung von Texten angeboten wird. Haase zahlt die zehn Mark für hundert Aufrufe aus eigener Tasche. „Alle ehemaligen Mitglieder der SPD, die sich in keiner Form bei den Nazis betätigt haben und durch Zeugen eine einwandfreie politische Haltung nachweisen können, werden gebeten, sich sofort zu melden“, steht auf den Zetteln, darunter sind zwei Anlaufstellen genannt. Die Aufrufe werden an die Häuserwände geklebt. Noch ist die Aktion illegal. Am 9. Juni, einen Tag vor Veröffentlichung des Befehls zur Zulassung von Parteien, wird Kurt Haase deshalb von der sowjetischen Militäradministration acht Tage lang in Haft genommen.
Im Prenzlauer Berg haben frühere Sozialdemokraten verabredet, sich bei einem Ende der Kriegshandlungen im Rathaus des Bezirks zu treffen. Ella Kay, 1933 entlassene Jugendpflegerin, und Max Kreuziger gehören dazu. Als die Kämpfe abebben, läuft Ella Kay 11 Stunden lang von ihrer Wohnung in Müggelheim zum Rathaus Prenzlauer Berg. Einige andere, die im Bezirk wohnen geblieben sind, haben sich schon eingefunden. Als Ella Kay eintrifft, läuft gerade eine Sitzung des Bezirksamts mit russischen Offizieren. Zuerst wird sie nicht erkannt, so abgemagert ist sie. Aber sie kann anfangen zu arbeiten. „Ich kriegte einen Stadtrat vor die Nase gesetzt, das mussten ja alles Kommunisten sein“, erinnert sie sich später.[5]
Das Engagement für den Bezirk ist enorm: Im Mai und Juni arbeitet Ella Kay jeweils acht Tage im Prenzlauer Berg, dann läuft sie für zwei Tage zurück zu ihrer Wohnung in Müggelheim[6]. Viele Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten melden sich im Bezirksamt. Der ehemalige Bezirksbürgermeister Otto Ostrowski kann erst im Sommer 1945 zur Gruppe stoßen, weil er zunächst in Finsterwalde als Bürgermeister eingesetzt ist.
Ella Kay fängt an, sich um die Flüchtlingskinder zu kümmern. „Die liefen auf den Straßen umher, verhungert und verkommen, verlaust und verdreckt.“ Die Kindergärten der Kirchen und Vereine sind ausgeplündert. Ella Kay schaut sich im Umkreis der Einrichtungen in den Familien um und holt Kochtöpfe, Decken, Stühle und Tische heraus und bringt sie zurück in die Kindergärten. Sie sammelt die Kinder ein, von den Russen besorgt sie Essen.
Im traditionell „roten Bezirk“ Friedrichshain, einem wichtigen Industriebezirk, beginnt Willi Schwarz mit dem Wiederaufbau der SPD. Fast zwölf Jahre war er wegen illegaler Tätigkeit inhaftiert, im KZ Sachsenhausen einige Zeit gemeinsam mit dem Friedrichshainer KPD-Funktionär Heinrich Starck, der vom sowjetischen Militär Anfang Mai als stellvertretender Bürgermeister eingesetzt wird. Schwarz und Starck sehen aus ihren persönlichen Erfahrungen eine geeinte Arbeiterklasse mit einheitlicher Partei als beste Versicherung vor einem Wiedererstarken des Nationalsozialismus[7]. Der Aufbau von SPD und KPD erfolgt Anfang Mai trotz großer Zerstörungen der Wohnhäuser im Bezirk wieder rasch auf der Ebene von Abteilungen bei der SPD und von Straßenzellen bei der KPD. Aber auch in den Betrieben bilden sich erste Gruppen beider Parteien, die eng zusammenarbeiten, um die Produktion wieder in Gang zu bekommen.
In Lankwitz geht der frühere SPD-Abteilungsvorsitzende Albert Kaiser Mitte Mai 1945 seinen eigenen Weg zur einheitlichen Partei: Er versucht ehemalige SPD-Mitglieder von einem gemeinsamen Eintritt in die KPD zu überzeugen[8], die der sowjetischen Besatzungsmacht näher steht und damit gute Voraussetzungen für politische Betätigung zu bieten scheint. Das bleibt aber ein Einzelfall.
Im Mai kommen in Berlin auch bereits Mitglieder der Gruppe „Neu Beginnen“ zusammen. Das von Walter Loewenheim Ende der zwanziger Jahre gegründete konspirative Netzwerk, in dem Mitglieder von KPD und SPD zusammenarbeiteten, um den Kampf gegen den Nationalsozialismus zu führen, war aktiv im Widerstand. Nun finden sich die in Deutschland verbliebenen Anhänger wieder zusammen. „Organisatorisch wurde die alte konspirative Struktur zwar nicht im Detail wieder aufgebaut, die Ähnlichkeiten aber waren frappierend“, so der Historiker Tobias Kühne[9]. „Die Gruppe von etwa dreißig Personen gliederte sich in einen inneren Leitungskreis, der aus Georg Müller, Ernst Jegelka, Kurt Schmidt (später Eberhard Hesse), Theo Thiele und dem Ehepaar Tinz bestand (…).“ Hesse und Thiele arbeiten später als Landessekretäre und Landesgeschäftsführer der Berliner SPD, Kurt Schmidt ist ein wichtiger Parteiorganisator und Redenschreiber. Mit Briefen aus dem Exil versuchen Walter Loewenheim und Richard Löwenthal die Entwicklung zu beeinflussen. Vor allem die Ablehnung von Totalitarismus prägt die Gruppe. Kritisch beurteilen ihre Vertreter auch die Bedingungen in Berlin. „Wir wurden erobert, aber nicht befreit“, schreibt Kurt Schmidt im Februar 1946 rückblickend – und das Ende des Nationalsozialismus ausblendend – an Mitstreiter der Gruppe, die in den USA geblieben sind[10].
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Seit Anfang Mai bereiten sich die von den Sowjets mit Unterstützung der Gruppe Ulbricht ausgewählten Magistratsmitglieder, zur Hälfte sind es ehemalige KPD-Mitglieder, auf ihre Aufgaben vor, offiziell werden sie am 19. Mai in ihr Amt eingeführt. Oberbürgermeister ist der parteilose 68jährige ehemalige Bauingenieur Dr. Arthur Werner, der mit seinem bürgerlichen Auftreten, seiner wissenschaftlichen Bildung, seinem Doktortitel und seiner seriösen Kleidung den Vorstellungen Ulbrichts von einer respektablen, aber auch beeinflussbaren Persönlichkeit besonders entspricht.
Die Sozialdemokraten Otto Grotewohl, der ehemalige Leipziger Reichstagsabgeordnete Engelbert Graf vom linken SPD-Flügel und Erich Gniffke suchen am 14. Mai das Gespräch mit den Mitgliedern des Magistrats, darunter Arthur Pieck, Sohn des KPD-Vorsitzenden, den Graf aus früheren Zeiten kennt. Rotes Rathaus und Stadthaus sind zerstört, so hat der Magistrat seinen Sitz zunächst im Gebäude der städtischen Feuersozietät in der Parochialstraße. Ein längeres Gespräch führen die drei mit dem ehemaligen SPD-Mitglied Josef Orlopp, der sich im Magistrat um Handel und Handwerk kümmern soll. Ihn laden sie zu den Treffen in die Bülowstraße ein. Orlopp, der 1910 in die SPD eingetreten war, dann 1919 zur USPD und 1922 zur KPD wechselte, hatte am 4. Mai Besuch von Walter Ulbricht bekommen, der ihn für den Aufbau der Stadtverwaltung gewinnen wollte. Einen Tag später erschienen russische Offiziere, die, so erzählt Orlopp es Gniffke, rund 50 ahnungslose und besorgte Nachbarn im Flur des Hauses zusammengeholt hätten. Sie seien gefragt worden, ob sie mit Orlopp als Stadtrat einverstanden seien. Nach dieser Zustimmung war Orlopp „gewählt“.
Gegenüber dem stellvertretenden Oberbürgermeister Karl Maron (KPD)[11], neben dessen Büro russische Offiziere ein Verbindungsbüro zur Stadtkommandantur eingerichtet haben, stellen sich die drei Sozialdemokraten als Vertreter des Vorbereitenden Ausschusses der SPD vor. Gniffke bietet Pieck die Unterstützung der Sozialdemokraten an und lädt die Mitglieder des ZK der KPD zum Besuch im Aktionsbüro in der Bülowstraße am 17. Mai um 12 Uhr ein. Allerdings warten die Sozialdemokraten an diesem Tag vergeblich. Und auch ein zweiter Termin eine Woche später verstreicht, ohne dass KPD-Vertreter erscheinen.
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Der Gewerkschafter und Journalist Dr. Otto Suhr hat in den letzten Kriegswochen – obwohl ständig von Verhaftung bedroht, mit Freunden wie Gert von Eynern, Ludwig Heuss, Robert Tillmanns und Ludwig von Einsiedeln über Fragen der Versorgung diskutiert, aber auch über eine neue Wirtschaftsordnung für die Zeit nach dem Ende des Kriegs nachgedacht. Im Mai werden sie von Hermann Landwehr in die Abteilung Wirtschaft des Magistrats gerufen. Otto Suhr erhält ein kleines Büro im halbzerstörten Berliner Stadtschloss. Jeden Tag läuft er nun zwölf Kilometer von der Wohnung in der Wilmersdorfer Sodener Straße zur Arbeit. Noch im Mai nimmt er Kontakt zu seinem früheren Vorstandskollegen im AfA-Bund Bernhard Göring auf, der sich um den Aufbau der Gewerkschaft kümmert, Suhr erfährt von den unterschiedlichen SPD-Kreisen um Fechner in Neukölln, Gniffke in Schöneberg und Germer in Charlottenburg. Ab 1. Juni ist Suhr im Magistrat verantwortlich für die Abteilung Druck und Papier. [12] Zugleich engagiert er sich er sich bei der Gewerkschaftsgründung.
Das alte Zeitungsviertel rund um die Kochstraße ist von Bomben zerstört. Die Druckmaschinen liegen unter Schutt und Steinen. Einige werden Anfang Mai freigelegt und notdürftig repariert. Zeitungspapier hat die russische Armee beschlagnahmt. Mit der von der Sowjetarmee herausgegebenen „Täglichen Rundschau“ erscheint am 15. Mai in Berlin die erste Tageszeitung, die Redakteure im großen Redaktionsgebäude am Friedrichshain tragen meist Uniformen, auch die aus Moskau heimgekehrten Deutschen. Druck- und Büromaterial wird aus dem Verlag des „Völkischen Beobachters“ herbeigeschafft. Als dort die Druckmaschinen wieder in Gang gebracht werden, wird die Zeitung auf das größere Format des früheren NSDAP-Kampfblatts umgestellt. Die „Tägliche Rundschau“ veröffentlicht u.a. die Befehle des sowjetischen Stadtkommandanten Generaloberst Bersarin zur Lebensmittelausgabe. Schwerarbeiter und Arbeiter in gesundheitsschädlichen Betrieben erhalten pro Tag u.a. 600 Gramm Brot, 100 Gramm Fleisch und 30 Gramm Fett. Verdiente Gelehrte, Ingenieure, Ärzte, Kultur- und Kunstschaffende sind dem gleichgestellt. Arbeiter, die weniger schwer arbeiten, haben u. a, Anspruch auf 500 Gramm Brot, 65 GrammFleisch und 15 Gramm Fett – ihnen sind Lehrer und Geistliche gleichgestellt. Angestellte erhalten u.a. 400 Gramm Brot, 40 Gramm Fleisch und10 Gramm Fett. Der übrigen Bevölkerung steht die Kinderration von 300 Gramm Brot, 20 Gramm Fleisch und 7 GrammFett zu. „Diese Staffelung der Lebensmittelrationen nach der gesellschaftlichen Bedeutung des einzelnen wirkte anregend und belebend auf dem Arbeitsgeist. Manch einer erkannte, dass für Parasiten und Nichtstuer künftig kein Platz sein würde, und überwand die bisherige Zurückhaltung“, so Walter Ulbricht in einem Rückblick.[13]
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Am 15. Mai trifft sich in der Wohnung von Karl Germer sen. in der Charlottenburger Kantstraße 125 ein Organisationskomitee der Sozialdemokratischen Partei mit Gewerkschaftern. Hermann Schlimme übernimmt den Vorsitz der Runde. Mit ihm und Bernhard Göring gehören zwei Sozialdemokraten aus dem Kreis um Gniffke dazu. Als weitere Teilnehmer des ersten Treffens vermerkt das Protokoll Kurt Michaelis, Richard Weimann[14], Otto Maecker[15], Ludwig Wünsch, Georg Werner, Otto Urban, Fritz Neubecker[16], Richard Barth, Albert Horlitz, Karl Germer sen., seinen Sohn Karl Germer jun.[17], Otto Germer, Heinrich Schreiber als Gast sowie Heinrich Pohlmann.
Schlimme stellt zu Beginn der Besprechung fest, dass nur Genossen teilnehmen dürften, „von denen aus Gründen zukünftiger Reinlichkeit in Partei und Gewerkschaften feststehe, dass sie sich in keiner Weise für die NSDAP und ihre Gliederungen eingesetzt haben“[18]. Keiner der Anwesenden sieht sich veranlasst, das Treffen zu verlassen. „Der Aufbau der Partei soll sofort in Angriff genommen werden“, vermerkt das Protokoll. Die Anwesenden gehen davon aus, dass „der Neuaufbau der Sozialdemokratischen Partei nach Verlautbarung vom russischen Stadtkommandanten gestattet sein soll“. Für jeden der ehemaligen an den Berliner Bezirksgrenzen orientierten Parteibezirke soll rasch ein Vertrauensmann eingesetzt werden.[19] Der Aufbau der Gewerkschaften – die nur noch als sozialistische Gewerkschaften aufgebaut werden sollen – soll getrennt davon in Angriff genommen werden. Die Herausgabe einer Zeitung muss geplant werden, Richard Weimann soll sich um die vorbereitenden Arbeiten für Rundfunk- und Filmpropaganda kümmern. Zudem wird verabredet, Fachleute für den Aufbau der Verwaltung zu suchen. In der Diskussion geht es vor allem darum, so heißt es im Protokoll, „etwa noch vorhandene Reste des Nationalsozialismus mit Stumpf und Stiel auszurotten“. Dazu wird die Zusammenarbeit mit dem Kampfverband „Freies Deutschland“ befürwortet. Karl Germer jun, sein Vater und Richard Barth sollen den Kampfverband entsprechend informieren, Otto Germer soll als Verbindungsmann fungieren.
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Zusammenschlüsse von Antifaschisten wie der Kampfverband oder die antifaschistischen Ausschüsse entstehen im Mai überall auf lokaler Ebene, meist von Kommunisten und Sozialdemokraten initiiert, um die Verwaltungen neu zu besetzen und ehemalige Nationalsozialisten ausfindig zu machen. Es ist eine Möglichkeit ehemaliger Hitler-Gegner, auch im vermuteten Interesse der sowjetischen Besatzungsmacht politisch aktiv zu werden. Aber damit hätte sich – neben der Verwaltung und der KPD – eine andere, neue Struktur verfestigen können. Die Sowjetunion strebte jedoch eine „möglichst reibungslose Kontrolle über die deutsche Verwaltung“ an, so der Historiker Peter Brandt.[20] „Dabei ging es einmal um die gründliche Entnazifizierung der Bürokratie – schon um jede Möglichkeit der Sabotage von dieser Seite auszuschalten – und zum zweiten um die Besetzung der wichtigsten politischen Schlüsselstellungen mit deutschen Kommunisten, die in einem besonderen Loyalitäts- und Abhängigkeitsverhältnis zur Sowjetunion standen.“ Um eine bessere Kontrolle zu erreichen, werden die Antifa-Ausschüsse daher aufgelöst. In Berlin sorgen die Mitglieder der Exil-KPD in Gesprächen mit den überlebenden Berliner Kommunisten für den Vollzug, den Walter Ulbricht mit dem diskreditierenden Hinweis einfordert, dass solche Antifa-Büros von ehemaligen Nazis aufgezogen worden seien. Nur in Charlottenburg besteht der Kampfverband Freies Deutschland noch bis August 1945 weiter.[21] Wolfgang Leonhard bezeichnet den Vorgang als „Zertrümmerung erster Ansätze einer vielleicht machtvollen, selbständigen, antifaschistischen und sozialistischen Bewegung“.[22] Für Leonhard ist es ein erster Sieg des „Apparats“. Etliche Mitglieder der aufgelösten Gruppen ziehen sich enttäuscht ins Privatleben zurück.
Leonhards Einschätzung wird von Ulbricht bestätigt, wenn er 1955 das Vorgehen rückblickend mit dem „notwendigerweise provisorischen Charakter“ der Komitees und Ausschüsse rechtfertigt: Dies hätte die Antifaschisten nur daran gehindert, „schnell neue, demokratische Staatsorgane zu organisieren und von der festen und beständigen Position der Macht her die Leitung der Dinge in die Hand zu nehmen“[23]. Eine ähnlich „feste und beständige Position der Macht“ haben die aus dem Moskauer Exil zurückgekehrten Kommunisten inzwischen auch in der eigenen Partei eingenommen. Die in den ersten Tagen der Nachkriegszeit selbständig entstandenen KPD-Gruppen sind aufgelöst. Der KPD-Vorsitzende Wilhelm Pieck im Moskauer Exil und Rückkehrer Walter Ulbricht sehen die Alt-Kommunisten mit Misstrauen, sie bedürfen in ihren Augen zunächst der Schulung[24], denn sie verfolgen noch die überholte KPD-Programmatik der Jahre vor 1933.
Am 21. Mai 1945 trifft sich die Gruppe um Karl Germer bei Fritz Neubecker am Tempelhofer Kleineweg 77. Neubeckers Familie gehörte wie die Familien Burgemeister, Westphal und Klühs zu den bekannteren sozialdemokratischen Adressen in Neu-Tempelhof, mit Elfriede Klühs ist Neubecker seit 1928 verheiratet. Schon im Mai kommen in diesem Bereich rund 40 Genossinnen und Genossen zusammen. Neubecker selbst hat am 12. Mai eine Stelle beim Magistrat angetreten, um beim Wiederaufbau der städtischen Betriebe zu helfen.
In den Bezirken läuft die Erfassung von Mitgliedern. Neubecker und Germer entwerfen ein provisorisches Parteistatut. An diesem Montag erscheint erstmals auch die „Berliner Zeitung“ als Verlautbarungsorgan des neuen Magistrats, redaktionell geleitet von Oberst Kirsanov, aber durch Beratung deutscher KPD-Mitglieder in der Anmutung einer deutschen Lokalzeitung.
Am 23. Mai lädt Karl Schwarz bereits „im Namen des Kreisvorstandes der Reinickendorfer SPD“ förmlich den Vorstand der bezirklichen KPD zu einem Gespräch über „die politischen Verhältnisse, insbesondere das getarnte Untertauchen der Nazis in den Verwaltungsstellen“ ein. In Köpenick kommt am selben Tag Bürgermeister Gustav Kleine (KPD) mit den sozialdemokratischen Dezernenten und Referenten zusammen. Kleine stimmt die Sozialdemokraten mit Hinweisen auf die Politik von Otto Wels und auf die Bedeutung der Revolution 1917 in der Sowjetunion auf die neue Zeit ein und hält anschließend ihre Reaktion fest: „Sie erkennen, dass eine Anknüpfung an die Politik von vor 1933 überhaupt nicht in Frage kommt. Sie verurteilen die Stellung von Wels vor 1933 und erklären ihr Einverständnis damit, dass die abendländische Kultur und Zivilisation durch die siegreiche Oktoberrevolution in der Sowjetunion gerettet wurde.“ Die antifaschistische Einheit wird beschworen und im Bericht wird als Haltung der Köpenicker Sozialdemokraten Willam, Tolksdorf, Küster und Röhl notiert: „Sie erkennen die große Leistung der Sowjetunion an und freuen sich, dass heute der Zeitpunkt gekommen und eine Basis geschaffen ist, die Einigung auf breiter demokratischer Grundlage zu vollziehen.“[26]
„Es muss doch weitergehen“, hat sich auch Gertrud Loppach Im Mai 1945 gesagt. 1931 ist sie in die SPD eingetreten. Kontakt zu ehemaligen Genossen hat sie nach dem SPD-Verbot 1933 kaum, bis sie 1943 ausgebombt wird und bei einer Freundin, Tochter eines ehemaligen Genossen, unterkommt. Mit ihrer Freundin und deren Bruder beschließt sie, die SPD in der Wohnsiedlung Lindenhof wiederaufzubauen. Die Genossen, die sich noch kennen, treffen sich zum ersten Mal in der „Bessemer Klause“ in einem kleinen Raum.
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Es gibt vorsichtige Versuche zur Normalisierung des Alltagslebens in Berlin. Im Funkhaus an der Masurenallee findet am 18. Mai ein erstes Konzert des Orchesters des Deutschen Opernhauses statt, zwei Tage später öffnet das Kino Marmorhaus am Kurfürstendamm wieder. Kinos in den Bezirken spielen sowjetische Filme. Am 26. Mai geben die Berliner Philharmoniker im Steglitzer Titania-Palast ihr erstes Nachkriegskonzert, eine persönliche Initiative des Dirigenten Leo Borchard, der Genehmigungen, Musiker und Instrumente zusammenbringt. Mit der Ouvertüre zum Sommernachtstraum von Felix Mendelssohn-Bartholdy wird ein während der Nazi-Zeit verfemtes Werk aufgeführt. Borchard selbst wird wenige Wochen später, am 23. August, nach einem Missverständnis bei einer Straßenkontrolle von einem amerikanischen Wachposten erschossen. Am 27. Mai öffnet das Renaissance-Theater seine Türen für das Publikum, zu sehen ist der „Raub der Sabinerinnen“.
(wird fortgesetzt)
[1] Erich Gniffke, Jahre mit Ulbricht, S. 20
[2] Ditmar Staffelt, Der Wiederaufbau der Berliner Sozialdemokratie 1945/46 und die Einheitsfrage; Frankfurt am Main, 1986, S. 61
[3] Ulrich Horb in Berliner Stimme, Juni 1985
[4] Berliner Stimme, Juni 1985
[5] Ella Kay im Interview mit Manfred Rexin, Manuskript
[6] Interview des Verfassers mit Ella Kay 1985, Audiomitschnitt im Archiv des Verfassers; s.a. Ditmar Staffelt, Der Wiederaufbau der Berliner Sozialdemokratie 1945/46 und die Einheitsfrage; Frankfurt am Main, 1986, S. 66
[7] Vgl. Norbert Podewin, Vereinigung oder Vereinnahmung? Untersuchungen zum Zusammenschluss von KPD und SPD in Friedrichshain, Berlin 1993, S. 17
[8] Harold Hurwitz, Demokratie und Antikommunismus in Berlin nach 1945, Band 4, Teil 1, S. 75
[9] Tobias Kühne, Das Netzwerk „Neu Beginnen“ und die Berliner SPD nach 1945, Berlin 2018, S. 251
[10] Zitiert nach Kurt Mattick, Vorwort für: Entscheidung in Berlin, Der Freiheitskampf der Sozialdemokratie – Eine Dokumentation des Jahres 1946. Herausgegeben vom Landesverband Berlin der SPD, März 1966
[11] Karl Maron (1903 – 1975) emigrierte 1934 zunächst nach Kopenhagen, 1935 dann nach Moskau. Von 1943 bis 1945 arbeitete er als Redakteur der Zeitung „Freies Deutschland“ des Nationalkomitees Freies Deutschland, Von 1955 bis 1963 war er Minister des Inneren in der DDR.
[12] Gunter Lange: Otto Suhr, Im Schatten von Ernst Reuter und Willy Brandt, Eine Biographie. Verlag Dietz Nachfolger, Bonn 1994, S. 110
[13] Walter Ulbricht, Zur Geschichte der neuesten Zeit, Berlin 1955, S.70
[14] Richard Weimann, geb. 1980, vor 1933 Bildungssekretär der SPD, im ZA zuständig für Bildungsarbeit, 1946 Mitglied der SED
[15] Otto Maecker, geb. 1890, Handlungsgehilfe und ab 1925 Werbeleiter beim sozialdemokratischen „Hamburger Echo“, gehört 1948 als Kaufmännischer Direktor zur Gesamtleitung des Neuen Deutschland
[16] Fritz Neubecker, geb. 1903, ab 1921 Mitglied der SPD, Mitarbeiter des Vorwärts, im ZA Gegner der Vereinigung mit der KPD, ab 1947 Direktor der BVG
[17] Karl J. Germer (jun.), geb 1913, Journalist, ab 1931 Mitglied der SPD, im März 1946 wegen seiner Ablehnung der Vereinigung mit der KPD aus dem ZA ausgeschlossen, von April bis Juni 1946 einer von drei Vorsitzenden der Berliner SPD
[18] Protokoll der ersten Tagung des Organisationskomitees der SPD, der freien Gewerkschaften und des Afa-Bundes am 15. Mai 1945 in Berlin-Charlottenburg, Kantstr. 125, NL Fritz Neubecker, August Bebel Institut
[19] Karl J. Germer, Von Grotewohl bis Brandt, Landshut 1974, S. 25, vgl. auch SPD Berlin-Charlottenburg, Neubeginn vor 50 Jahren, Berlin 1995, Herausgeber SPD Charlottenburg, S. 19.
[20] Arbeiterinitiative 1945, Antifaschistische Ausschüsse und Reorganisation der Arbeiterbewegung in Deutschland, Wuppertal 1976, S. 641
[21] Mario Frank, Walter Ulbricht: Eine deutsche Biographie, 2009,
[22] Wolfgang Leonhard, Die Revolution entlässt ihre Kinder, S. 388
[23] Walter Ulbricht, Zur Geschichte der neuesten Zeit, Berlin 1955, S.62
[24] Manfred Wilke, Kommunismus in Deutschland und Rahmenbedingungen politischen Handelns nach 1945, in: Manfred Wilke (Hg.) Die Anatomie der Parteizentrale, Berlin 1998, S.17
[25] Erklärung des SPD-Exilvorstands in: Sozialistische Mitteilungen Nr. 73/74, April/Mai 1945,
[26] Manfred Teresiak, Die SED in Berlin, Dokumente zur Vereinigung von KPD und SPD, Band 1, Berlin 1994, S. 45