1945: Die Wiedergründung der SPD in Berlin (VII)

Ausriss aus der Zeitung "Das Volk", August 1945

Ausriss aus der Zeitung „Das Volk“, August 1945

Der Aufruf der KPD kommt für die Sozialdemokraten um Grotewohl und Gniffke nicht nur vom Zeitpunkt her überraschend. „Der Aufruf wirkte auf uns eher verwirrend als klärend“, beschreibt Gniffke die Stimmung. Er empfindet den Wortlaut nicht als kommunistisch, noch nicht einmal als sozialistisch. „Die Probleme, die in diesem Aufruf umrissen worden waren, hätten von einer Mittelstandspartei nicht anders formuliert werden können“, so Gniffke.[1] Klar ist, dass nun rasch die Lizensierung der SPD beantragt werden muss.

Für den 12. Juni hat Walter Ulbricht Vertreter der geplanten antifaschistisch-demokratischen Parteien SPD, KPD, Zentrum bzw. CDU und LDP, deren Gründung mit Stalin abgestimmt ist, in den großen Saal des Berliner Stadthauses geladen. Vor 200 Zuhörern erläutert er das geplante Zusammenwirken aller Kräfte in einem gemeinsamen Block, um die praktischen Alltagsprobleme zu lösen. In der späteren Geschichtsschreibung der DDR gibt Ulbricht ausschließlich positive Reaktionen auf den KPD-Aufruf wider. „Es gab in dieser Versammlung niemanden, der sich der Überzeugungskraft dieses Programms entziehen konnte und dagegen auftrat“, so Ulbricht. Neun Jahre später heißt es im Rechenschaftsbericht zum SED-Parteitag sogar schon vereinnahmend: „Das Aktionsprogramm der KPD vom Juni 1945, dem sich die SPD in ihrem Gründungsaufruf anschloss, wurde zur Grundlage für die Einigung der Arbeiterklasse, für das Bündnis mit der werktätigen Bauernschaft und für die Zusammenarbeit mit den antifaschistisch-demokratischen Parteien.“[2]

Für die SPD meldet sich Gustav Dahrendorf auf dem Treffen zu Wort. Er geht auf Distanz zur politischen Praxis der SPD in der Weimarer Zeit und grenzt sich auch deutlich von den Exilgruppen ab. Niemand im Ausland sei berechtigt, für die Sozialdemokratische Partei zu sprechen, so Dahrendorf. „Die Sozialdemokratische Partei will die politische und, wenn es sein kann, die organisatorische Einheit der Werktätigen in Stadt und Land. Wir sind rückhaltlos bereit, über den Vollzug dieser Einheit insbesondere mit unseren kommunistischen Freunden zu sprechen.“[3] Ulbricht reagiert darauf nicht. Aber ein Kurier überbringt den Sozialdemokraten noch am selben Tag eine Einladung für den 19. Juni: Fünf Vertreter des ZK und fünf Sozialdemokraten sollen dabei zusammenkommen.

Von Hannover aus knüpft Kurt Schumacher Kontakte zu anderen sozialdemokratischen Gruppen in der britischen und amerikanischen Zone, auch wenn Parteien dort noch nicht zugelassen sind. Kuriere überbringen die Briefe. In der französischen Zone erlauben die Restriktionen solche Kontakte zunächst nicht. Schon im Juli reist Schumacher selbst nach Frankfurt, Mannheim und Stuttgart.

Am Abend des 12. Juni – auf Funktionärsversammlungen sprechen Walter Ulbricht in Neukölln, Anton Ackermann im Wedding und Otto Winzer in Friedrichshain – wird bereits die erste Ausgabe der Deutschen Volkszeitung mit dem Datum vom 13. Juni als Zentralorgan der KPD verteilt. Abgedruckt ist darin der Aufruf. Ein Beitrag von Wilhelm Pieck  auf der Titelseite ist mit „Feste Einheit der demokratischen Kräfte“ überschrieben. Hitler  konnte nur zur Macht gelangen, weil das schaffende deutsche Volk gespalten war, stellt Pieck darin fest. „So gibt es kein höheres  Gebot der Stunde, kein dringenderes Interesse aller schaffenden Menschen als die Herstellung jener festen Einheit der antifaschistischen, demokratischen und fortschrittlichen Volkskräfte, wie sie im Aufruf des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Deutschlands vom 11. Juni 1945 vorgeschlagen wird.“[4]

Der KPD-Aufruf fordert, „die Sache der bürgerlich-demokratischen Umbildung, die 1848 begonnen wurde, zu Ende zu führen“. Beseitigt werden müssten feudale Überreste und reaktionärer altpreußischer Militarismus. Ausdrücklich wird festgestellt: „Wir sind der Auffassung, dass der Weg, Deutschland das Sowjetsystem aufzuzwingen, falsch wäre, denn dieser Weg entspricht nicht den gegenwärtigen Entwicklungsbedingungen in Deutschland.“ Im deutschen Interesse liege vielmehr der „Weg der Aufrichtung eines antifaschistischen, demokratischen Regimes, einer parlamentarisch-demokratischen Republik mit allen demokratischen Rechten und Freiheiten für das Volk“.   Für Ulbricht sind  die „Vollendung der bürgerlich-demokratischen Umwälzung und die Vernichtung der Grundlagen des deutschen Imperialismus“ notwendige Schritte. „Im Kampf um diese Ordnung einigte sich die deutsche Arbeiterklasse nach der langen Zersplitterung“, sie konnte „auf dem sicheren Fundament ihrer eigenen Einheit“ alle fortschrittlichen Kräfte zusammenführen und schließlich entwickelte dieser Kampf das „Klassenbewusstsein der Arbeiterklasse“[5].

Mit der Bildung von Parteien in der alten Reichshauptstadt sollen zugleich Weichen für die Entwicklung in allen Zonen geschaffen werden.[6] Zulassung und Kontrolle obliegen jetzt noch allein der sowjetischen Militäradministration. Während die Gruppe der aus dem Moskauer Exil heimkehrenden Kommunisten, auch durch Anforderung von Spezialisten durch Ulbricht, in Berlin immer größer wird, sind die sozialdemokratischen Funktionäre im Londoner Exil noch an einer Rückkehr gehindert.

Das Vorpreschen der KPD macht eine gleich zu Beginn entstehende einheitliche Arbeiterpartei, wie sie zumindest Wunschvorstellung einiger Sozialdemokraten und Kommunisten ist, für das erste  unmöglich. Eine Begründung für das Entstehen von zwei Arbeiterparteien erhält der Sozialdemokrat Fritz Erler in einem Gespräch mit Walter Ulbricht, über das Erler später in einem Brief an den in Berlin aktiven Weggefährten Erich Schmidt[7] berichtet: „Seine offensichtlich ehrliche Antwort war die, dass nach dem schmerzlichen Eindruck … der russ. Besatzung die Arbeitermassen der Bevölkerung ins bürgerliche Lager abwandern würden, wenn es keine Sozialdemokraten gäbe. Für mein künftiges Verhalten riet mir U., nur dann für eine Einheitspartei einzutreten, wenn kein nennenswerter Rest übrig bliebe. Andernfalls sei mein Platz in der SPD.“[8]

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Neben der taktischen Frage, mit der SPD eine zur Zusammenarbeit mit der KPD bereite, aber für das eher bürgerliche und gegenüber der Sowjetunion kritische Lager akzeptable Partei zuzulassen, dürften bei der KPD-Führung weitere Überlegungen eine Rolle gespielt haben. So wäre der sofortige Aufbau einer gemeinsamen Arbeiterpartei für sie nur schwer kontrollierbar gewesen, und die früheren Kommunisten, die die Illegalität überstanden hatten, hätten in Unkenntnis der neuen Parteilinie gehandelt. Ulbricht strebt daher den Aufbau einer starken und führenden KPD an, die der, so Ulbricht, durch preußischen Militarismus, durch den Imperialismus, durch die Rassentheorie „verseuchten Arbeiterklasse“ [9]  eine Orientierung geben kann. Es sollen zunächst die ideologischen Unklarheiten beseitigt werden.

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Trotz aller verbalen Betonung der Einheit der Arbeiterklasse nehmen die Konflikte vor Ort zu. In Lichtenberg betreibt die KPD-Führung die Entlassung des sozialdemokratischen Bürgermeisters Franz Stimming, der ihr zu unabhängig erscheint. „Stimming ist korrumpiert als früherer Bürgermeister[10] aus der Zeit vor 1933“, stellt Gustav Gundelach, Mitglied der Gruppe Ulbricht, am 7. Juni auf einer bezirklichen Funktionärsversammlung der KPD fest. Damals habe Stimming die Positionen der sozialdemokratischen Führung mitgetragen. Zudem wird dem Sozialdemokraten, der unter den Nazis zweimal inhaftiert war, vorgehalten, „ganz untragbare Element“ in den Verwaltungsapparat einzubauen. Darunter dürften sozialdemokratische Verwaltungsfachleute aus der Zeit vor 1933 zu verstehen sein.[11] So hat Stimming in Lichtenberg Paul Mielitz, von 1920 bis zur Absetzung 1933 sozialdemokratischer Bezirksbürgermeister von Friedrichshain, als Personalchef eingesetzt. Gegen ihn macht die KPD nach einem Gespräch mit ihm Stimmung: „Die einzige Frage, die dieser immer wieder stellte, war die Demokratie. Er wollte revolutionärer sein als alle anderen.“[12]

Am 14. Juni wird Stimming, der bis dahin auch von den bezirklichen Kommunisten unterstützt worden war,  seines Postens enthoben, die KPD vermeldet es als Übereinkunft der örtlichen KPD-Leitung mit „verantwortlichen Sozialdemokraten“. Einen Befehl des Stadtkommandanten Bersarin gab es dazu wohl nicht, möglicherweise eine Absprache zwischen Ulbricht und Shukow. „Ganz offensichtlich“, so die Historiker Norbert Podewin und Manfred Teresiak, „wurden hier alte Rechnungen präsentiert, denn bis 1933 waren in Lichtenberg die Auseinandersetzungen zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten sehr heftig.“[13] Auf Stimming folgt der bürgerliche Dr. Günter Riesebrodt, der, so vermerkt es Gundelach wenige Tage später, „mit unseren Genossen gut zusammenarbeitet“[14]. Riesebrodt wird später Mitglied der sich im Sommer gründenden Lichtenberger CDU. Sozialdemokraten thematisieren die Absetzung Stimmings in den kommenden Wochen immer wieder, von einer Zustimmung „verantwortlicher Sozialdemokraten“ ist dabei keine Rede.

Auf den Straßen Berlins bestimmen die Frauen das Bild. Sie organisieren den Alltag und räumen den Schutt der Häuser beiseite. Wo früher Hauswände standen, werden sauber geputzte Ziegelsteine aufgestapelt. Als im August 1945 die erste Volkszählung erfolgt, kommen auf 100 Männer 170 Frauen. Auf einem Schulhof in der Moabiter Zwinglistraße findet am 13. Juni eine erste Frauenversammlung statt, auf der Vertreterinnen der KPD, Elli Schmidt und Martha Arendsee,  das Wort führen. Sie setzen sich für die Gründung überparteilicher Frauenausschüsse ein.[15] Im Frauensekretariat der SPD glauben Louise Schroeder und Toni Wohlgemuth nicht an die propagierte Parteiunabhängigkeit und sehen mehr Sinn in Schulungsangeboten für Frauen. Auf erneute Nachfrage der KPD wird Annedore Leber vom Zentralausschuss in den Frauenausschuss entsandt.

 

Die SPD ist wieder da

Die Sozialdemokraten setzen den Aufbau von Parteistrukturen in Berlin und in der gesamten sowjetischen Zone fort. Noch sind es vor allem ehemalige Parteimitglieder, die wieder aktiv werden und dabei ihre früheren,  auch unterschiedlichen Erfahrungen mit einbringen.  Die Gründungsversammlung am 17. Juni wird zu einem bewegenden Moment der Wiederbegegnung. Sie ist auch die Geburtsstunde der Berliner SPD. Die sowjetische Militäradministration sorgt dafür, dass der Sitz der SPD in der sowjetischen Zone liegt.   

 

Im ersten Stock der Bülowstraße 7 wird nach dem KPD-Aufruf schnell gehandelt. Gniffke hat sein Firmenschild abmontieren lassen, ein Maler setzt darauf jetzt die Schrift „Sozialdemokratische Partei Deutschlands“. August Karsten, der in der Schöneberger Alvenslebenstraße wohnt, und Gniffkes zwei Büroangestellte, die sozialdemokratischen Familien entstammen, kümmern sich um die zunehmende Zahl von Besuchern.

Um Spenden zu organisieren, übernimmt der Buchdrucker Ziegler den Druck von Sammellisten, die schon am nächsten Tag, so Gniffke, „mit ansehnlichen Beträgen gezeichnet“ zurückkommen. „Damit war mein aus sieben Räumen bestehendes Geschäftslokal zum ersten Parteibüro der wiedererstandenen SPD geworden.“[16] Otto Grotewohl, so vermerkt es Gniffke kritisch in seinen Erinnerungen, fällt für die SPD-Aufbauarbeit weitgehend aus. Am 6. Juni ist er Dezernent für Steuer und Finanzen beim Bezirksamt Schöneberg geworden, er muss sich um die Lebensmittelversorgung, den Arbeitseinsatz der Frauen und die Verwaltung der kümmern.

Der SPD-Aufruf soll möglichst schnell nach dem der KPD herauskommen. Karl Germer, Karl Kleikamp, Otto Grotewohl, Helmut Lehmann und Erich Gniffke haben eigene Entwürfe  formuliert. Grotewohl, Gniffke und Lehmann setzen sich zusammen, um daraus einen gemeinsamen Text zu machen.  Der Text des jungen Karl Germer „mit seinen schwungvollen, naiv-idealistischen Formulierungen“ (Harold Hurwitz)[17] erwies sich ebenso wie der eher theoretisch gehaltene Entwurf  Kleikamps als wenig brauchbar. Ein wichtiges Thema ist der Umgang mit dem Vorwurf einer Kollektivschuld des deutschen Volks am Nationalsozialismus. „Wir waren uns einig, dass die Schuldfrage zwar angesprochen, aber nicht so prononciert gestellt werden sollte, als wäre das ganze deutsche Volk mitschuldig geworden“, so Gniffke.[18]

Grotewohl und Dahrendorf setzen in ihren Entwürfen zum Teil unterschiedliche Akzente, sprechen sich aber beide ausdrücklich für die organisatorische Einheit der Arbeiterklasse aus, was schließlich in abgemilderter Form aus Grotewohls Entwurf übernommen wird. Grotewohl will den KPD-Entwurf, insbesondere die zehn Punkte des Aktionsprogramms als Grundlage nehmen und daran in vorsichtiger Abgrenzung die eigene Programmatik entwickeln. Er formuliert aber keine sozialistischen Nahziele[19]. Dahrendorf, obwohl engagierter Anhänger der Einheitsidee, will die sozialdemokratischen Ideen stärker in den Vordergrund stellen. Gniffke schwebt ein selbstbewusster Hinweis auf die demokratische Meinungsbildungskultur der SPD und ihre nationale Verwurzelung vor, eine erkennbare Abgrenzung zur KPD. Aus Lehmanns Entwurf fließen wirtschaftspolitische Nahziele in den Entwurf ein. Schließlich werden in den neun Punkten der SPD konkrete sozialistische Forderungen benannt, der Begriff Sozialismus kommt ausdrücklich vor. Geschichtliche Aufgabe der Arbeiterklasse sei es nun, Trägerin des Staatsgedankens zu sein.

Der Aufruf verweist auf die Opfer, die die Sozialdemokratie im Kampf gegen das NS-Regime gebracht hat. „Mit diesen Feststellungen wollten wir uns den Rücken freihalten für die Verhandlungen mit den Besatzungsmächten und nicht zuletzt gegenüber der KP-Führung“, erläutert Gniffke später die Motivation. Die SPD begrüßt den Aufruf der KPD und setzt sich ausdrücklich für die organisatorische Einheit der deutschen Arbeiterklasse ein – als „moralische Wiedergutmachung politischer Fehler der Vergangenheit, um der jungen Generation eine einheitliche politische Kampforganisation in die Hand zu geben“.

Anders als der KPD-Aufruf fordert die SPD die Verstaatlichung von Banken und Bodenschätzen, sie setzt sich ausdrücklich für Freiheit, Demokratie und Sozialismus ein. Unterzeichnet wird der SPD-Aufruf vom „Zentralausschuss der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands“, wie sich der bisherige Vorbereitende Ausschuss um Grotewohl, Fechner und Gniffke nun nennt. „Von noch größerer Bedeutung als das politisch-ideologische Bekenntnis in diesem Aufruf schien uns damals zu sein, dass wir Sozialdemokraten als einzige politische Gruppe auf breitester Basis als Traditionsträger der parlamentarischen Demokratie von Weimar auftreten konnten“, so die Erinnerung des jungen Karl Germer.

Den Lizenzantrag bringt keines der Vorstandsmitglieder des Zentralausschusses zur Kommandantur, sondern Otto Meier. Die sowjetischen Offiziere interessieren sich sehr für die neue Gruppierung, über die sie, wie Sergej Tulpanow von der Informationsabteilung des SMAD später zugibt, „wenig konkrete Vorstellungen“ haben. Meier wird zum Umtrunk eingeladen und erst spät in der Nacht mit einem Wagen nach Hause gebracht.

Veröffentlicht wird der SPD-Aufruf am 15. Juni, vier Tage nach dem der KPD. Zugleich hat der Zentralausschuss zu einem ersten Treffen von Funktionären und Mitgliedern eingeladen, das am 17. Juni im „Deutschen Hof“ in der Luckauer Straße in Kreuzberg stattfinden soll. Im „Deutschen Hof“ gab es bereits vor 1933 immer wieder Versammlungen der SPD, Rosa Luxemburg hatte hier schon 1907 auf Bitten der sozialdemokratischen Berliner Wahlvereine an sechs Abenden über die  Entwicklung des Kapitalismus referiert.

Dokument: SPD-Aufruf vom 15. Juni 1945:


Arbeiter, Bauern und Bürger! Männer und Frauen! Deutsche Jugend!

Der Nazifaschismus ist in einem grausigen Abgrund der Vernichtung versunken! Er hat das deutsche Volk in tiefster seelischer Qual, in einer unvorstellbaren Not zurückgelassen! Das Gefühl für Rechtlichkeit ist gelähmt! Die nackte Not grinst dem Volke aus den Ruinen vernichteter Wohnungen und geborstener Fabriken entgegen. Hitlers Cäsarenwahnsinn ist durch die siegreichen verbündeten Armeen ausgemerzt und damit die militärische Raubgier des deutschen Imperialismus für alle Zeiten vernichtet.

Das deutsche Volk muß die Kosten der faschistischen Hochstapelei bezahlen! Ehrlose Hasardeure und wahnwitzige Machtpolitikaster haben den Namen des deutschen Volkes in der ganzen Welt geschändet und entehrt.

Schweigend und voll Ergriffenheit senken wir unsere Fahnen vor unserem Johannes Stelling, Rudolf Breitscheid, Julius Leber, Wilhelm Leuschner und vor den tausendfachen Opfern aus allen Parteien, Konfessionen und Gesellschaftsschichten des deutschen Volkes, die der blutgierige Faschismus verschlungen hat. Aber all diese Opfer an Gesundheit und Blut, Hab und Gut in der illegalen Arbeit haben es leider nicht vermocht, die satanische Organisation der Unterdrückung zu beseitigen.

Das deutsche Volk wird nicht verzweifeln! Sein Lebenswille wird stärker sein als sein Unglück! Mit seinen letzten Kräften wird es sich aufraffen, denn es will, wird und muß weiterleben!

Die Geschichte erteilt dem deutschen Volk die eherne Lehre, sich auf seinem dornenvollen Opfergang, trotz Hunger und Elend, durch unermüdliche Arbeit und eisernen Willen die Achtung aller friedlichen, freiheitliebenden Völker zu erwerben.

Niemals und von niemandem soll das deutsche Volk je wieder als vertrauensseliges Opfer gewissenloser politischer Abenteurer mißbraucht werden. Der politische Weg des deutschen Volkes in eine bessere Zukunft ist damit klar vorgezeichnet: Demokratie in Staat und Gemeinde, Sozialismus in Wirtschaft und Gesellschaft!

Wir sind bereit und entschlossen, hierbei mit allen gleichgesinnten Menschen und Parteien zusammenzuarbeiten. Wir begrüßen daher auf das wärmste den Aufruf des Zentral-Komitees der Kommunistischen Partei Deutschlands vom 11. Juni 1945, der zutreffend davon ausgeht, daß der Weg für den Neubau Deutschlands von den gegenwärtigen Entwicklungsbedingungen Deutschlands abhängig ist, und daß die entscheidenden Interessen des deutschen Volkes in der gegenwärtigen Lage die Aufrichtung eines antifaschistischen demokratischen Regimes und einer parlamentarisch-demokratischen Republik mit allen demokratischen Rechten und Freiheiten für das Volk erfordern.

In dieser entscheidenden Stunde ist es wiederum die geschichtliche Aufgabe der deutschen  Arbeiterklasse, Trägerin des Staatsgedankens zu sein: einer neuen antifaschistisch-demokratischen Republik! Jedes eigensüchtige Parteiengezänk, wie es das politische Schlachtfeld der Weimarer Republik erfüllte, muß im Keime erstickt werden. In einer antifaschistisch-demokratischen Republik können demokratische Freiheiten nur denen gewährt werden, die sie vorbehaltlos anerkennen. Demokratische Freiheiten sind aber denen zu versagen, die sie nur nutzen wollen, um die Demokratie zu schmähen und zu zerschlagen.

Das elementarste Lebensgesetz des neuen Staates verlangt die völlige Beseitigung aller Reste der faschistischen Gewaltherrschaft. Ebenso muß der Militarismus aus den Köpfen und Herzen getilgt werden. Die durch den Faschismus geistig entwurzelte Jugend muß wieder zu freien und kritisch denkenden Menschen erzogen werden.

Der neue Staat muß wieder gutmachen, was an den Opfern des Faschismus gesündigt wurde, er muß wieder gutmachen, was faschistische Raubgier an den Völkern Europas verbrochen hat.

Dieser Staat muß zuerst und vor allem dem deutschen Volk die wirtschaftliche und moralische Kraft geben, diese übermenschliche Aufgabe zu erfüllen.

Deshalb fordert die Sozialdemokratische Partei Deutschlands:

  1. Restlose Vernichtung aller Spuren des Hitlerregimes in Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung. Einen sauberen Staat der Rechtlichkeit und Gerechtigkeit. Haftpflicht der Mitglieder der NSDAP und ihrer Gliederungen für die durch das Naziregime verursachten Schäden.
  2. Sicherung der Ernährung. Bereitstellung von Arbeitskräften und genossenschaftlichen Zusammenschluß in der Landwirtschaft. Verbreiterung der Fettgrundlage durch Einfuhr von Rohstoffen, Futtermitteln und Vieh. Förderung der Verbrauchergenossenschaften und Neuregelung des Kleinhandels.
  3. Sicherung des lebensnotwendigen Bedarfs der breiten Volksmassen an Wohnung, Kleidung und Heizung mit Hilfe der kommunalen Selbstverwaltung.
  4. Wiederaufbau der Wirtschaft unter Mitwirkung der kommunalen Selbstverwaltung und der Gewerkschaften. Beschleunigte Wiederherstellung der Verkehrsmittel. Beschaffung von Rohstoffen. Beseitigung aller Hemmungen der privaten Unternehmerinitiative unter Wahrung der sozialen Interessen. Beseitigung der nazistischen Überorganisation in der Wirtschaft. Klaren und einfachen Neuaufbau ehrenamtlich verwalteter Wirtschaftsverbände. Neuaufbau des Geldwesens. Sicherung der Währung. Kommunale Kredite für Industrie, Handwerk und Handel.

Belebung des bargeldlosen Zahlungsverkehrs. Vereinfachung des Steuerwesens durch straffste Zusammenfassung der Steuerarten. Stärkere Berücksichtigung der sozialen Lage bei der Bemessung der Steuern.

  1. Volkstümlichen Kulturaufbau. Erziehung der Jugend im demokratischen, sozialistischen Geiste. Förderung von Kunst und Wissenschaft.
  2. Neuregelung des Sozialrechtes. Freiheitliche und demokratische Gestaltung des Arbeitsrechtes. Einbau der Betriebsräte in die Wirtschaft. Mitwirkung der Gewerkschaften und Verbrauchergenossenschaften bei den Organisationen der Wirtschaft. Ausbau der Sozialversicherung zur Sozialversorgung für Kranke, Wöchnerinnen und Mütter, Invalide und Unfallverletzte, Witwen, Waisen, Kriegsversehrte und Arbeitslose. Einbeziehung aller arbeitenden Menschen in die Sozialversorgung.
  3. Förderung der Wohnungsfürsorge und des Siedlungswesens, Kommunale Wohnungsaufsicht. Anpassung der Mieten und Hypotheken an die durch die Kriegsfolgen geschaffene Wirtschaftslage. Aufteilung des Großgrundbesitzes zur Schaffung von Grund und Boden für umsiedlungsbereite Großstädter. Verpflanzung von mittel- und kleinindustriellen Betrieben in wirtschaftlich günstig gelegene Landbezirke.
  4. Verstaatlichung der Banken, Versicherungsunternehmungen und der Bodenschätze, Verstaatlichung der Bergwerke und der Energiewirtschaft. Erfassung des Großgrundbesitzes und der lebensfähigen Großindustrie und aller Kriegsgewinne für die Zwecke des Wiederaufbaus. Beseitigung des arbeitslosen Einkommens aus Grund und Boden und Mietshäusern. Scharfe Begrenzung der Verzinsung aus mobilem Kapital. Verpflichtung der Unternehmer zur treuhänderischen Leitung der ihnen von der deutschen Volkswirtschaft anvertrauten Betriebe. Beschränkung des Erbrechtes auf die unmittelbaren Verwandten.
  5. Anpassung des Rechtes an die antifaschistisch-demokratische Staatsauffassung. Staatlichen Schutz der Person. Freiheit der Meinungsäußerung in Wort, Bild und Schrift unter Wahrung der Interessen des Staates und der Achtung des einzelnen Staatsbürgers. Gesinnungsfreiheit und Religionsfreiheit. Strafrechtlichen Schutz gegen Rassenverhetzung.

Unser armes und gequältes Volk muß durch die Schuld Hitlers durch unsägliches Elend und ein tiefes Tal des Leides gehen! Wir wollen mithelfen, es wieder emporzuführen zu den Höhen einer menschenwürdigen Kultur, zu der Freundschaft mit allen Völkern der Welt.

Wir wollen vor allem den Kampf um die Neugestaltung auf dem Boden der organisatorischen Einheit der deutschen Arbeiterklasse führen! Wir sehen darin eine moralische Wiedergutmachung politischer Fehler der Vergangenheit, um der jungen Generation eine einheitliche politische Kampforganisation in die Hand zu geben. Die Fahne der Einheit muß als leuchtendes Symbol in der politischen Aktion des werktätigen Volkes vorangetragen werden!

Wir bieten unsere Bruderhand allen, deren Losung ist: Kampf gegen den Faschismus, für die Freiheit des Volkes, für Demokratie und Sozialismus!

Darum rufen wir alle unsere Freunde, Genossinnen und Genossen in Stadt und Land auf, mit der alten Hingabe und neuem Mut sofort mit dem Aufbau der Organisation zu beginnen.

Vorwärts! An die Arbeit!

Zentralausschuß der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands


 

(wird fortgesetzt)

[1] Erich Gniffke, Jahre mit Ulbricht, S. 27
[2] „Protokoll der Verhandlungen des IV. Parteitages der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands“, Band 1, Berlin 1954, S. 169
[3] Gustav Dahrendorf, zitiert nach Erich Gniffke, Jahre mit Ulbricht, S. 28
[4] Deutsche Volkszeitung, Nr. 1, 1. Jahrgang, 13. Juni 1945, S.1
[5] Walter Ulbricht, Zur Geschichte der neuesten Zeit, Berlin 1955, S. 116
[6] Walter Ulbricht, Zur Geschichte der neuesten Zeit, Berlin 1955, S. 117
[7] Fritz Erler und Kurt Schmidt kennen sich aus der Berliner SAJ und der Arbeit der Gruppe „Neu Beginnen“, in der Mitglieder von KPD und SPD zusammenkamen
[8] Vgl. Harold Hurwitz, Die Anfänge des Widerstandes, Teil 1, Führungsanspruch und Isolation der Sozialdemokraten, Berlin 1990, S.47
[9] Vgl. Harold Hurwitz, Die Anfänge des Widerstandes, Teil 1, Führungsanspruch und Isolation der Sozialdemokraten, Berlin 1990, S.123
[10] Franz Stimming war vor 1933 stellvertretender Bezirksbürgermeister
[11] Lutz Heuer, Norbert Podewin, Der Vereinigungsprozess in Lichtenberg, Berlin 1993, S. 14
[12] Bericht über die Besprechung W. Ulbrichts mit KPD-Funktionäre aus den Berliner Verwaltungsbezirken am 27. Mai 1945, in: Manfred Teresiak, Die SED in Berlin, Berlin 1994, S.51
[13] Norbert Podewin / Manfred Teresiak, „Brüder in eins nun die Hände“, S. 21
[14] Lutz Heuer, Norbert Podewin, Der Vereinigungsprozess in Lichtenberg, Berlin 1993, S. 13
[15] Erich W. Gniffke, Jahre mit Ulbricht, S.57
[16] Erich W. Gniffke, Jahre mit Ulbricht, S.20
[17] Harold Hurwitz, Teil 1, S. 149
[18] Erich W. Gniffke, Jahre mit Ulbricht, S.29
[19] Vgl. Harold Hurwitz, Die Anfänge des Widerstandes, Teil 1, Führungsanspruch und Isolation der Sozialdemokraten, Berlin 1990, S.150

Über Ulrich Horb

Jahrgang 1955, Journalist und Fotograf in Berlin
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