Als Eintrittsdatum für die aktiven Sozialdemokraten der ersten Stunde gilt der 17. Juni 1945, in vielen Mitgliedsausweisen, auch in der mit der Nummer 2006 gekennzeichneten Mitgliedskarte von Otto Grotewohl, aber steht als Eintrittsdatum der 1. Juli. Der monatliche Mitgliedsbeitrag beträgt zunächst einheitlich 50 Pfennig, in einigen Kreisen werden rasch Zusatzbeiträge erhoben. Mitgliedsbücher und Beitragsmarken sollen Ende Juli vorliegen.
Den Berliner Mitgliedern stehen Ende Juni/Anfang Juli 1945 Kreisgeschäftsstellen im Wedding (Luxemburger Str. 33), Friedrichshain (Grünberger Str. 16), Kreuzberg (Oranienstr. 42)[1], Wilmersdorf (Nassauische Str. 49), Schöneberg/Friedenau (Großgörschenstr. 27), Steglitz (Schloßstr. 17 ptr.). Neukölln (Bergstr. 159, heute: Karl-Marx-Straße), Weißensee (Langhansstr. 22) und Pankow (Breitestr. 48) zur Verfügung.[2] Damit verfügt die SPD in neun der 20 Berliner Bezirke über eigene Kreisbüros.[3] Vor allem im stark zerstörten Innenstadtbereich sind aber kaum Büroräume zu finden. „In Spandau, Reinickendorf, Tempelhof“, so der Historiker Ditmar Staffelt, „verfügten die Kreisvorsitzenden Lezinsky, Neumann und Swolinsky über ausreichenden Wohnraum, so dass ihre Wohnungen bzw. Häuser zumindest vorübergehend als Geschäftsstelle dienen konnten.“
Die Kreuzberger SPD hat ihr Büro in einer Fünf-Zimmerwohnung „mit Bad in günstiger Lage, vorn I. Treppe“[4] eingerichtet. Angesichts der Wohnungsnot will die SPD diese Räume im August 1945 aufgeben und stattdessen Gewerberäume beziehen. Mit dem Eigentümer der Oranienstraße 42, der Salamander AG, einigt sich der Kreisvorstand, Räume zu anzumieten, über die bislang die Firma von Arthur Pretsch verfügt. Pretsch hat am 25. Mai 1945 beim Abschnittsbürgermeister im Bezirk III ein Gewerbe für „Milch, Lebensmittel, Genussmittel, Speiseeis, Süßwaren, Großhandel, Fabrikation und Kleinhandel“ angemeldet. Das Wohnungsamt Mitte bittet der Kreisvorsitzende Kiaulehn am 10. August um Ausstellung eines Einweisungsscheins in die Räume. Pretsch habe, so teilt die Kreuzberger SPD dem Wohnungsamt mit, „seit längerer Zeit keine Miete gezahlt und auch keinerlei Anstalten getroffen, einen selbständigen Gewerbebetrieb wieder zu eröffnen“. Schon am 15. August erteilt das Quartieramt Berlin-Mitte den gewünschten Einweisungsschein für drei Räume, der auch das Recht beinhaltet, das vorhandene Mobiliar zu nutzen. Das will die Kreuzberger SPD zwar gar nicht, Pretsch erscheint allerdings zu den anberaumten Terminen nicht. Mit einem Schreiben vom 23. August weist die SPD den Vermieter Salamander AG deshalb noch einmal darauf hin, dass die Mietrückstände von Pretsch die Kündigung rechtfertigen. Vorsichtshalber führt die SPD noch ein weiteres Argument an: Der im Mietvertrag vorgesehene Betrieb einer Eiskonditorei werde vom Magistrat des Bezirks Kreuzberg keinesfalls genehmigt. Solange sie kein anderes Unterkommen finden, sei der Laden von einem Schlächter und einem Bäcker belegt, so die SPD-Kreisleitung. Schlächter und Bäcker seien wichtiger als eine Eiskonditorei. Am 3. September übergibt die SPD dem Verwalter von Salamander und Geschäftsführer der Filiale im Haus die Miete von 350 Reichsmark. Salamander reicht Räumungsklage gegen Pretsch ein. Da die Räume für die SPD zu groß sind, vermietet sie sie unter.
Am 26. Juni werden Grotewohl, Gniffke und Fechner erneut zu General Bokow geholt. Jetzt wird ihnen bedeutet, den Sitz der Partei in den sowjetischen Sektor zu verlegen. Schließlich gelte nur in diesem Sektor noch der Befehl 2 der SMAD, Parteien zuzulassen. Die Zentralausschuss-Vertreter akzeptieren dieses Argument[5]. Schon einen Tag später werden ihnen Räume im Ostteil der Stadt präsentiert: das beschädigte Verwaltungsgebäude der Dresdener Bank in der Behrenstraße, das unbeschädigte Vereinshaus der Tischler in der Wallstraße und ein Fabrikgebäude auf einem Hof in der Greifswalder Straße. „Das Haus in der Wallstraße sagte uns am meisten zu“, so Gniffke.[6] Aber auch der zurückgekehrte KPD-Vorsitzende Wilhelm Pieck, gelernter Tischler, begeistert sich für das Gebäude und erhält eine Zusage für das ZK der KPD.
In Neukölln treffen sich die „alten Parteigenossen“ der 97. Abteilung, wie es im Protokoll heißt, am 29. Juni zur ersten Abteilungsversammlung[7]. Wilhelm Krüger, der an diesem Abend durch Zuruf zum Vorsitzenden gewählt wird, berichtet über die Zusammenkunft in der Luckauer Straße. Er kündigt zudem für den 30. Juni eine Funktionärsversammlung in der Berliner Kindl-Brauerei an. Zusammenkünfte der Abteilung sollen alle 14 Tage stattfinden.
Otto Grotewohl wird am Sonntag, dem 1. Juli gegen Mittag in die Kommandantur seines Heimatbezirks Schöneberg geholt. Nun stehe der Einzug von Amerikanern und Briten in ihre Sektoren unmittelbar bevor, erfährt Grotewohl. Anwesend sind auch Vertreter der Stadtkommandantur, die ihm mitteilen, das Gebäude der Dresdener Bank in der Behrenstraße 35 – 39 im sowjetischen Sektor sei nun für den Zentralausschuss beschlagnahmt, der es am nächsten Morgen in Besitz zu nehmen habe. Das Gebäude liegt am Opernplatz mit Blick auf „Unter den Linden“. Grotewohl und Gniffke entscheiden sich ohne Rückkoppelung mit den anderen ZA-Mitgliedern für den Umzug in den „goldenen Käfig“, wie es Dahrendorf später formuliert. Gniffke: „Am nächsten Morgen bereits fuhren drei sowjetische Transportwagen in der Ziethenstraße vor, Rotarmisten luden Möbel und Akten auf und beförderten sie in die Behrenstraße.“[8] Dort ist eine Baustelle, auf der in den kommenden Wochen rund 200 Handwerker unter Lärm und Staub die Räume herrichten.
„Sämtliche Mitglieder des Zentralausschusses, die in den später unter westlicher Besatzungsregie stehenden Berliner Bezirken wohnten (und wahrscheinlich noch viele andere politisch engagierte Personen), erhielten in persönlichen Gesprächen überraschende russische Angebote“, erinnert sich später Zentralausschussmitglied Karl. J. Germer.[9] Die russische Führung mache sich wegen des Einzugs der Westalliierten Sorgen, hieß es. Sie habe im „Vertrauen auf das demokratische Fundament im deutschen Volk“ das Entstehen von Parteien und Gewerkschaften gefördert, die Westalliierten könnten dies nun „aus ihrem eigenen großen Misstrauen gegenüber den Deutschen“ zurückdrehen. Politische Repressalien drohten. Es handele sich zudem um Vertreter eines kapitalistischen Systems. Germer: „Es wurde uns daher dringend empfohlen, in den zukünftigen Sowjetsektor umzuziehen, dort ständen für uns in herrlichsten Wohngegenden leerstehende ,Nazi-Villen‘ zur Auswahl.“ Keines der SPD-Mitglieder geht darauf ein. „Nach den ersten politischen Kontakten mit der kommunistischen Welt galt all unsere Hoffnung der Erwartung, dass wir zu den Vertretern der demokratischen Staaten ein Verhältnis finden würden, das nicht so penetrant unter der Spannung eines allgegenwärtigen Misstrauens stehen würde“, so Germer, der in den kommenden Monaten einer der entschiedensten Gegner eines Zusammengehens mit der KPD sein wird.
——-
1936 war Berlin mit rund 574.000 Beschäftigten die größte deutsche Industriestadt, Schwerpunkte waren die Elektroindustrie und der Maschinenbau. Ein erheblicher Teil der Betriebe ist im Krieg zerstört worden. Industrieanlagen, die noch funktionstüchtig sind, werden nun von den sowjetischen Truppen als Ausgleich für erlittene Kriegsschäden abgebaut und in die Sowjetunion geschickt. Die Verringerung der Industriekapazitäten soll zudem Deutschlands Nachbarn eine höhere Sicherheit garantieren. Über die Höhe der Reparationsleistungen konnte auf der Konferenz von Jalta im Februar 1945 zwischen den USA, Großbritannien und der Sowjetunion zunächst keine Einigung erzielt werden. So verstärkt die sowjetische Militäradministration vor dem für Anfang Juli geplanten Einzug der amerikanischen und britischen Truppen in ihre jeweiligen Sektoren die Demontagen im Westteil der Stadt. Die Rheinmetall-Borsig-Werke in Berlin-Tegel, dem späteren französischen Sektor, sind demontiert, unter großem Zeitdruck werden im künftigen amerikanischen Sektor bis Ende Juni Maschinen, Werkzeuge und Meßgeräte des Friedenauer Goerzwerks, Hersteller von Kameras und optischen Geräten, von den früheren Beschäftigten abgebaut. Zuletzt, so erinnert sich der dort beschäftigte Oskar Dahlke[10], werden die schweren Werkzeugmaschinen in aller Eile ins Treppenhaus gezerrt und die Stufen hinuntergestürzt: „Da ging einiges zu Bruch.“ Das OSRAM-Werk in Friedrichshain, Hersteller von Glühbirnen, wird im Mai 1945 einem „Lichttechnischen Büro des Ministeriums für Elektroindustrie der UdSSR“ unterstellt, das die Maschinen, aber auch die Forschungsergebnisse für die Sowjetunion nutzbar machen soll. Ingenieure und Spezialisten aus Berlin werden aufgerufen, die Maschinen nach Russland zu begleiten[11]. Osram und der im selben Bezirk beheimatete Betrieb Knorr-Bremse, wo am 11. Juni die erste Betriebsgruppe der KPD gegründet wurde, werden vollständig demontiert, die Julius Pintsch KG wird teildemontiert.
Während die Sowjetische Militäradministration (SMAD) unter Marschall Shukow vor allem in ihrem Sektor einen Kernbestand an Industrie erhalten möchte, sorgt Georgi Malenkow, der Moskau direkt unterstellte Verantwortliche eines Sonderkomitees, für möglichst viele Transporte nach Russland. Neben dem Abbau von Maschinen fordert die Sowjetunion, anders als die Westalliierten, auch Waren aus der laufenden Produktion ein.
Für die KPD werden die Demontagen zu einer ernsten Bewährungsprobe, weil den Beschäftigten das Verständnis dafür fehlt. In einem Ende Juni von Ulbricht verantworteten Situationsbericht aus den Bezirken wird aus dem Wedding berichtet: „Die Bevölkerung spricht viel über den Abtransport von Maschinen.“ Der Ärger der Beschäftigten schlägt sich wenige Wochen später im Arbeiterbezirk Friedrichshain auch bei der Wahl der Delegierten zum Freien Deutschen Gewerkschaftsbund nieder. Längst sind es im Herbst nicht nur Betriebe der Rüstungsindustrie, die im Bezirk auf Betreiben des Moskauer Sonderkomitees demontiert werden. Es werden nun auch Möbel- und Pianofabriken abtransportiert, eine Tütenfabrik und ein Hersteller zahnärztlichen Bedarfs.
„Eine exakte Ermittlung der durch die Demontagen entstandenen Verluste kann nicht erfolgen, annähernd ist von 460 vollständig bzw. teilweise demontierten Betrieben auszugehen, was etwa 40 bis 50 Prozent der industriellen Kapazität von 1936 entspricht“, so der Historiker Heiko Schützler[12]. „In Bezug auf die bei Kriegsende noch vorhandene Kapazität wurden im sowjetischen Sektor 33, in den Westsektoren aber 85 Prozent demontiert. In 20 führenden Industrieunternehmen der Westsektoren wurden insgesamt 33 500 Maschinen abgebaut.“ Mit den Maschinen verschwinden auch die Arbeitsplätze.
——-
Ruhr und Typhus breiten sich im Sommer aus. Die Abwässer können seit Wochen nicht auf die vor der Stadt liegenden Rieselfelder abgepumpt werden, da die 87 Pumpwerke defekt sind. Damit Schmutzwässer nicht zurück in die Wohnungen gedrückt werden, werden sie in die Kanäle gepumpt. Deshalb, so berichtet es die „Tägliche Rundschau“[13], mache sich der Landwehrkanal „in den heißen Tagen durch recht unangenehmen Geruch bemerkbar“. Mitte August sind wieder 62 Pumpwerke in Betrieb. Trinkwasser muss an einzelnen Straßenpumpen geholt werden. In der dritten Juliwoche steigern sich die neuen Ruhr-Erkrankungen auf 2500 Fälle, bei Typhus werden in einigen Wochen 900 Neuerkrankungen registriert. Im August 1945 gibt es insgesamt 2254 Erkrankungen und 219 Sterbefälle durch Typhus, im September 3517 Krankheitsfälle, von denen 377 tödlich verlaufen.[14] Erst im Oktober geht die Zahl der Neuerkrankungen ein wenig zurück.
Vielfach entstehen auf Abteilungs- und Kreisebene die am 19. Juni zwischen SPD und KPD verabredeten gemeinsamen Arbeits- bzw. Aktionsausschüsse. Bis Ende August gibt es zahlreiche solcher Ausschüsse in den Bezirken, auf Groß-Berliner Ebene tritt er im Oktober zusammen.
In Lichtenberg hat sich der Aktionsausschuss bereits am 1. Juli konstituiert. Wilhelm Peters, SPD-Vorsitzender, Mitglied seit 1902 und Anhänger einer schnellen Vereinigung der Arbeiterparteien, verständigt sich mit dem Lichtenberger KPD-Vorsitzenden Kurt Smettan schon wenig später auf einen „Gemeinsamen Aufruf beider Arbeiterparteien zum Arbeitseinsatz“ am 30. Juli. Den Haus- und Straßenobleuten wird die Verantwortung für das Gelingen der Aktion übertragen – „strengstens kontrolliert“ durch die antifaschistischen Parteien. Bei einer gemeinsamen Veranstaltung am Abend des 30. Juli spricht der Sozialdemokrat Buchholz aber auch ein heikles Thema an: die Parität. Wobei vor allem die älteren Sozialdemokraten darunter eine Parität verstehen, die sich an Mitgliederzahlen orientiert. Ein gemeinsamer Arbeitsausschuss könne nur zustandekommen, wenn die Parität von Bezirksverwaltern, Straßenältesten und Hausältesten gewahrt werde. Eine Forderung, die auch der Sozialdemokrat Peters unterstützt. „Die Zusammenarbeit mit den Kommunisten ist schlecht“, so der Vereinigungsbefürworter.[15]
In Kreuzberg wird auch die neugegründete Christlich-Demokratische Union zum gemeinsamen Arbeitsausschuss von SPD und KPD hinzugezogen. Der Arbeitsausschuss soll „die Interessen der gesamten antifaschistischen Bevölkerung des Bezirks“ vertreten. Eine „saubere“ Kommunalverwaltung, so verabreden es SPD und KPD, soll sich um die Gesundheit der Bevölkerung kümmern, um Jugenderziehung, Spiel, Sport, Kultur und die Ausrottung jeder faschistischen Ideologie. „Die Bevölkerung muss uns durch eifrige Mitarbeit unterstützen“, fordert der Aktionsausschuss, fügt aber hinzu: „Wir verbitten uns aber jedes Denunziantentum, wir werden jeden, der nur aus Eigensucht den Versuch unternimmt, Mitbürger zu denunzieren, zur Rechenschaft ziehen.“[16]
——-
Während die KPD die breite antifaschistische Zusammenarbeit propagiert, treibt sie Entwicklungen wie die Gründung des „Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands“ zunächst lieber allein voran. Vorarbeit hat 1944 im Moskauer Exil der expressionistische Dichter Johannes R. Becher geleistet, der dem ZK der KPD angehört und die Kulturkommission leitet. Er verfügt über die Kontakte zu namhaften Künstlerinnen und Künstlern, in seiner Wohnung findet am 25. Juni das erste Treffen statt. Im kulturpolitischen Aktionsausschuss hat Otto Meier von den KPD-Vertretern nichts über das Vorhaben gehört. „Durch Zufall hatte Gustav Dahrendorf von der geplanten Gründungsversammlung, unmittelbar vor ihrem Zusammentritt, erfahren“, erinnert sich Erich Gniffke[17]. „Er war hingegangen, gehörte auf diese Weise zu den Mitbegründern des Kulturbundes.“ Die KPD ist mit Kulturdezernent Otto Winzer, Johannes R. Becher und Intendant Gustav Wangenheim gut vertreten. Der SPD-Zentralausschuss ist verstimmt, fordert schriftlich von der KPD die Einhaltung der Aktionsgemeinschaft. Ackermann entschuldigt sich – die KPD habe sich nicht in die Vorbereitungen der Künstler einmischen wollen. Zweifel bleiben bei den Sozialdemokraten.
Am 4. Juli tritt der Kulturbund mit einer Kundgebung im Großen Saal des Charlottenburger Rundfunkhauses an die Öffentlichkeit. Leo Borchard dirigiert die Berliner Philharmoniker, die zum Auftakt Beethovens Egmont-Ouvertüre spielen. Schauspieler Kai Moeller verliest das Manifest des Kulturbundes, das eine Abrechnung mit Größenwahn, Selbstüberheblichkeit und Geschichtsfälschung der Nazis ist. „Wir anerkennen die Kriegsschuld Deutschlands. Wir haben Unsägliches wieder gutzumachen“, so der Aufruf. Und: „Wir dürfen die Millionen Verzweifelter nicht ihrer Verzweiflung überantworten, sondern müssen sie hochreißen und ihnen ein neues, großes, leuchtendes Ziel zeigen und eines geben, worauf es in dieser Katastrophe ankommt, Vertrauen in die Lebensfähigkeit des von all seinen reaktionären Übeln befreiten Volkes und Mut.“
——-
In Karow kommt der Ortsverein der SPD erstmals am 2. Juli zusammen. Der Sozialdemokrat Thiele begrüßt „eine große Zahl Parteigenossinnen und –genossen“. Friedrich Ebert stellt die Aufrufe der bislang gegründeten Parteien gegenüber und spricht sich für „eine zunächst selbständige sozialdemokratische Partei“ aus, die „unabhängig von allen anderen politischen, wirtschaftlichen und religiösen Vereinigungen in ihren Entschlüssen nur an ihr immer als verantwortungsbewusst bewährtes Gewissen und das Wohl der arbeitenden Massen Deutschlands gebunden ist“.[18]
Die erste Abteilungsversammlung der 14., 15. und 16. Abteilung der Weddinger SPD – später wird daraus die 17. Abteilung – findet am 8. Juli bei Bethke in der Usedomer Straße 27a statt[19]. Mit dabei ist Walter Wels, Sohn von Otto Wels. Gemeinsam gedenken die Anwesenden der von den Nazis ermordeten Genossen und der im Krieg Gefallenen. „In den anschließenden Diskussionen wurde Beschwerde geführt über die eigenartigen, befremdenden Begünstigungen der Geschäftsleute (…) Auch über eigenartige Maßnahmen der KPD wurde berichtet“, heißt es im Sitzungsprotokoll.
——-
Wie sich die wiederentstehende Berliner Sozialdemokratie in der Stadt publizistisch bemerkbar machen könnte, hatte schon bei den ersten Zusammenkünften in der Bülowstraße eine Rolle gespielt. Nachdem am 12. Juni bereits die erste Ausgabe der Deutschen Volkszeitung der KPD erschienen ist, beantragt der Zentralausschuss am 17. Juni die Lizenz für die Herausgabe einer sozialdemokratischen Tageszeitung. Drei Tage später erfolgt die Genehmigung[20], es dauert aber noch bis zum 7. Juli, ehe die erste Ausgabe tatsächlich erscheinen kann. Bis dahin gibt es Nachrichten nur über den von der Roten Armee kontrollierten Rundfunk in der Masurenallee, sofern noch Radiogeräte vorhanden sind, sowie über die „Tägliche Rundschau“ der Roten Armee und die „Berliner Zeitung“ des KPD-dominierten Magistrats. Diese beiden Zeitungen wurden anfangs noch kostenlos verteilt, mit dem Erscheinen der „Deutschen Volkszeitung“ werden sie verkauft.
Der Traditionstitel „Vorwärts“ wird zunächst nicht wieder belebt, da keine reichsweite Zeitung genehmigt ist. „Die ehemaligen Vorwärts-Redakteure plädierten jetzt für den Titel ,Das Volk‘[21], und der Vorstand gab diesen Wünschen statt“, erinnert sich Erich Gniffke, der zusammen mit Max Fechner und Otto Grotewohl Lizenznehmer wird[22]. Sie werden mit je 10.000 Reichsmark Einlage treuhänderisch für die Partei Gesellschafter.
Die künftigen Redaktionsmitglieder reichen Lebensläufe ein. Als Chefredakteur wird Otto Meier bestätigt, von 1921 bis 1933 SPD-Abgeordneter im Preußischen Landtag. „Eine Reihe von Leuten, die mit seinem Vorleben vertraut sind, halten ihn für einen Opportunisten“, so die nüchterne Einschätzung von Herbert Marcuse, der für den US-Geheimdienst OSS die Entwicklung in der Sozialdemokratie analysiert. [23] Engelbert Graf, zwischen 1928 und 1933 Mitglied der SPD-Fraktion im Reichstag und Vertreter des marxistischen Flügels, soll Meiers Stellvertreter werden, findet aber nicht die Zustimmung der sowjetischen Militäradministration. Er hatte nach 1933 als geographischer Mitarbeiter der Deutschen Allgemeinen Zeitung auch Berichte über die Sowjetunion verfasst[24]. Seine Position nimmt Paul Ufermann ein. Zur Redaktion gehören zudem Max Nierich und Hermann Trojan. „Das Volk“ erscheint – anders als die Deutsche Volkszeitung – im kleineren Berliner Format mit vier Seiten Umfang, bietet also etwas weniger Raum für Text. Papier- und Druckkontingente werden von der Sowjetischen Militäradministration zugeteilt. Erich Gniffke erinnert sich an eine Startauflage von 50.000 Exemplaren für das „Volk“, andere Quellen sprechen von 100.000 Exemplaren[25], der Auflagenhöhe der Deutschen Volkszeitung. Da die ehemaligen Zentren der Papierherstellung in der sowjetischen Zone liegen, ändert sich bei der Papierzuteilung auch mit dem Einzug der West-Alliierten nichts.
Die sowjetische Militäradministration hindert Otto Meier daran, den Sitz der Zeitung – wenige Tage vor dem Einzug der Westalliierten in Berlin – in den US-Sektor zu legen[26]. Verlag und Redaktion ziehen zum Zentralausschuss und dem SPD-Bezirksverband in die Behrenstraße 35 – 39. Damit unterliegt das Blatt der sowjetischen Zensur. Meier klagt, so berichtet der Historiker Harold Hurwitz, über die „Ostorientierung seiner Nachrichtenquellen“, von den Amerikanern erhofft er Einflussnahme auf die Sowjets, damit das „Volk“ auch westliche Meldungen verwerten kann. Doch die Amerikaner bleiben nach ihrem Eintreffen zurückhaltend.
Auf der Titelseite der Erstausgabe des „Volk“ vom 7. Juli wird der Gründungsaufruf der SPD unter der Überschrift „Vom Chaos zur Ordnung“ veröffentlicht. In einem Leitartikel beschreibt Otto Grotewohl das Treffen von „weit über tausend kampferprobten Funktionären“ am 17. Juni im „Deutschen Hof“. „Da standen sie wieder nebeneinander, Mann neben Mann, Frau neben Frau aus den Gefängnissen, Zuchthäusern und Konzentrationslagern. Geschlagen, gemartert und gefoltert, aber ungebrochen in ihrem Kampfesmut und ungebrochen in ihrem Willen, den Aufbau der Organisation überall sofort tatkräftig zu beginnen.“[27] Grotewohl bekennt sich zur Wiedergutmachung, um das Vertrauen der Welt zurückzugewinnen. Wesentliche Aufgabe sei der Aufbau einer antifaschistischen, demokratischen Republik und die Ausrottung nazistischen und militaristischen Denkens. Zugleich geht es Grotewohl um den Wiederaufbau der Wirtschaft, „um dem deutschen Volk Lebensmöglichkeiten und ein Dach über dem Kopf“ zu geben. Der „nackte Existenzkampf“, so Grotewohl, eine „uns mit allen antifaschistischen Kreisen und Parteien“. „Vom Zeitpunkt seines Erscheinens am 7. Juli an stand Das Volk unter einer rigorosen Zensur“, so der Historiker Harold Hurwitz. „Getadelt wurde der ZA bereits dafür, dass in seinem Gründungsaufruf explizit von ‚Sozialismus‘ die Rede war.“[28]
In seiner ersten Ausgabe meldet das „Volk“ auch den Einzug der amerikanischen und britischen Truppen in Berlin, der am 4. Juli begonnen hat. Der Wechsel hat sich nicht ganz so reibungslos vollzogen, wie er im „Volk“ dargestellt wird. Dort ist zu lesen: „Der Einmarsch der verbündeten Truppen in das Territorium ‚Groß-Berlin‘ vollzieht sich in strenger Ordnung. Das Sowjetkommando erweist den einmarschierenden verbündeten Truppen jede Art von Unterstützung.“ Tatsächlich offenbaren sich in diesen Tagen bereits die aufkommenden Konflikte unter den Alliierten. Es gibt bis zum 29. Juni keine Vereinbarung über freie Zugangswege nach Berlin. So wird ein amerikanisches Vorauskommando unter Oberst Howley, das Mitte Juni aus dem bis dahin von den Amerikanern besetzten Halle kommt und in Berlin Unterkünfte organisieren soll, von den Sowjets an der Elbe gestoppt. Ein kleinerer US-Verband – nur 37 Offiziere, 175 Mannschaften und 50 Fahrzeuge – darf schließlich passieren und wird dann noch einmal zehn Tage in Babelsberg festgehalten. Erst am 29. Juni wird von den Alliierten festgelegt, dass eine Straße, eine Bahnlinie und ein Luftkorridor für den ungehinderten Zugang zur Verfügung stehen sollen.
Die ersten amerikanischen Einheiten, die in Berlin eintreffen, müssen, da keine Vorbereitungen getroffen werden konnten, im Grunewald campieren. In der ehemaligen preußischen Hauptkadettenanstalt, zwischenzeitlich von der Leibstandarte SS Adolf Hitler genutzt, nun „Andrews Barracks“ genannt, feiern die Amerikaner pünktlich zum amerikanischen Unabhängigkeitstag am 4. Juli ihren Einzug in die Hauptstadt mit einer Parade. Um weitere Verzögerungen zu verhindern – Marschall Shukow will die Sektoren der West-Alliierten erst an sie übergeben, wenn die Alliierte Kommandatura ihre Arbeit aufgenommen hat – besetzen die Amerikaner am frühen Morgen des 5. Juli kurzerhand die Bezirksämter in ihrem Bereich. Und sie nehmen vor allem in Zehlendorf zahlreiche Wohnungen und Häuser für sich in Beschlag. Die Bewohnerinnen und Bewohner müssen sie innerhalb weniger Stunden verlassen. Auch die britischen Truppen ziehen in Berlin ein, am 6. Juli wird an der Siegessäule ihre Flagge gehisst. Fünf Tage später, am 11. Juli, übernimmt die interalliierte Militärkommandantur die Kontrolle über die Verwaltung der Stadt.
(wird fortgesetzt)
[1] In der SPD-Zeitung Das Volk wird am 16. Juli als Anschrift der Kreuzberger SPD Felsendamm 19, der heutige Bethaniendamm, angegeben
[2] Angaben nach Ditmar Staffelt, Der Wiederaufbau der Berliner Sozialdemokratie 1945/46 und die Einheitsfrage, S. 160
[3] Ditmar Staffelt, Der Wiederaufbau der Berliner Sozialdemokratie 1945/46 und die Einheitsfrage, S. 149
[4] Schreiben des SPD-Kreises vom 3.9.1945 an die Salamander AG, Kopie im Archiv des Verf.
[5] Harold Hurwitz, Die Anfänge des Widerstands, S. 157
[6] Erich Gniffke, Jahre mit Ulbricht, S. 46
[7] Protokoll der 97. Abteilung der SPD Neukölln, der späteren 6. Abteilung, im Archiv des Verfassers.
[8] Erich GniffkeJahre mit Ulbricht, S. 46
[9] Karl J. Germer, Von Grotewohl bis Brandt, S. 51
[10] Berlin Friedenau 1933 – 1945, Hrsg. Hermann Ebling und Evelyn Weissberg, Berlin 2011, S. 229
[11] Podewin/Teresiak, Brüder in eins nun die Hände….“, Dietz Berlin 1996, S.
[12] Heiko Schützler, „Die Russen erschienen erfreut“, in: Berlinische Monatsschrift, Heft 5/1999, S.39 ff
[13] Tägliche Rundschau, Nr. 83, 18. August 1945, „Aufgaben der Stadtentwässerung“
[14] Nach: Der Berliner, Tageszeitung der britischen Militärbehörde, Nr.43 vom 8. November 1945, s.a. Gniffke, Jahre mit Ulbricht, S. 59
[15] Heuer/Podewin, Der Vereinigungsprozess in Lichtenberg, S.25
[16] Das Volk, 16. Juli 1945, S. 4
[17] Erich Gniffke, Jahre mit Ulbricht, S. 56
[18] Das Volk, Nr.4 vom Juli
[19] Schriftenreihe des Weddinger Heimatvereins, Verein für Weddinger Geschichte, Band 2, Jahrbuch 1987, S. 78
[20] Peter Strunk, Zensur und Zensoren: Medienkontrolle und Propagandapolitik unter sowjetischer Besatzungsherrschaft in Deutschland, 1996, S. 70
[21] Unter dem Namen „Das Volk“ erschien 1848 auch das von Stephan Born herausgegebene Organ des „Zentralkomitees der Arbeiter“
[22] Erich W. Gniffke, Jahre mit Ulbricht, S. 87
[23] Franz L. Neumann, Herbert Marcuse, Otto Kirchheimer, Hrsg. von Raffaele Laudani, Im Kampf gegen Nazideutschland – Die Berichte der Frankfurter Schule für den amerikanischen Geheimdienst 1943-1949, Frankfurt 2016, S. 303
[24] Erich W. Gniffke, Jahre mit Ulbricht, S. 22
[25] Peter de Mendelssohn, Zeitungsstadt Berlin, erw. Auflage 1982, S. 520
[26] Harold Hurwitz, Die Stunde Null der deutschen Presse, S. 307
[27] Das Volk, Ausgabe 1 vom 7. Juli 2017, S.1
[28] Harold Hurwitz, Die Anfänge des Widerstands, Teil 1, S. 285