1945: Die Wiedergründung der SPD in Berlin (XII)

Ausriss aus der Zeitung "Das Volk", August 1945

Ausriss aus der Zeitung „Das Volk“, August 1945

Aus den Berliner Bezirksverwaltungen  erreichen den Zentralausschuss Berichte über Konflikte mit den KPD-Stadträten.  Nach der schon im Juni erfolgten Absetzung des Lichtenberger Bürgermeisters Franz Stimming (SPD) sieht sich die SPD auch in anderen Bezirken an den Rand gedrängt. 15 Stadträte gibt es in Reinickendorf, sieben von ihnen gehören der KPD an, ein weiterer parteiloser wird der KPD zugerechnet. Drei Stadträte stellt die SPD. Personalangelegenheiten obliegen wie in den meisten Bezirken einem KPD-Stadtrat. Acht der zehn Reinickendorfer Ortsteilverwaltungen werden von Kommunisten geleitet. Der sozialdemokratische Bezirksbürgermeister Paul Richter, im Mai von den Sowjets ernannt, wird vor der Übernahme des Bezirks durch die Briten, die am 12. Juli erfolgt,  gegen den KPD-Funktionär Erich Böhm ausgetauscht. Einer von drei Stellvertretern – die beiden anderen gehören der KPD an – wird der Sozialdemokrat Dr. Fritz Kucharski. Der wirft Anfang August das Handtuch, weil er keine demokratischen Handlungsmöglichkeiten mehr sieht. Nachfolger wird Franz Neumann, der wesentlich energischer auftritt und eine paritätische Aufteilung der Aufgaben des Bürgermeisters zwischen ihm und Böhm einfordert.[1] In Lichtenberg wird auf den SPD-Versammlungen offen über die „Rücksichtslosigkeit der KPD“[2] gesprochen, die Stimmung für die SPD wird als gut eingeschätzt.

Die  Versorgung mit Lebensmitteln hat seit Mitte Mai die sowjetische  Militäradministration organisiert, tonnenweise werden dabei auch Lebensmittel aus den Beständen der Roten Armee eingesetzt. Die jeweiligen Zonen sollen sich selbst versorgen, die drei westlichen Sektoren der Stadt, so fordert es Generalmajor Shukow, sollen mit Kohlen und Lebensmitteln aus den Westzonen beliefert werden. Im Sommer wächst die Sorge um das Einbringen der Ernte. Der SPD-Zentralausschuss ruft im „Volk“ am 8. Juli dazu auf, sich als Erntehelfer zu melden und erinnert an die Ablieferungspflicht. „Arbeiter und Bauern sind eine Notgemeinschaft“, so der Zentralausschuss.

In Berlin werden die Leitungsnetze instand gesetzt. Anfang Juli sind die Netze für Licht- und Arbeitsstrom weitgehend hergestellt, die Kraftwerke soweit repariert, dass die Stromversorgung aufgenommen wird. Einen Großteil des Stroms liefert das weitgehend unzerstörte Großkraftwerk Klingenberg. Es gibt Sperrstunden: Von 9 bis 19 Uhr darf in Privathaushalten kein Strom verbraucht werden. Vier Gaswerke versorgen etliche Stadtgebiete.  Das Wassernetz funktioniert in weiten Teilen der Stadt. Weniger gut sieht es bei den Verkehrsverbindungen aus. U-Bahntunnel sind durch die Sprengungen der SS noch geflutet, von den 1200 Kilometer langen Oberleitungen der Straßenbahn sind 84 Prozent zerstört, meldet „Das Volk“[3].  Die ersten Briefmarken mit den Werten 5 und 8 Pfennig für den Postversand innerhalb Berlins werden gedruckt, als Motiv zeigen sie den Berliner Bären. Ein Sportamt wird gegründet, um das wieder entstehende Vereinsleben zu unterstützen. Über 200 Kinos haben den Betrieb aufgenommen. Der Zoo öffnet, 92 Tiere haben den Krieg überlebt, dabei werden auch kleine Vögel mitgezählt.

Die Einheit der Arbeiterbewegung hat für die SPD-Führung in Berlin weiter Priorität. „Wäre sie nach dem Zusammenbruch des Weltkriegs einig gewesen, die Erneuerung Deutschlands hätte ihr Werk sein können und Hitlers Weltverbrechen wäre unmöglich gewesen“, heißt es einer Würdigung zum 50jährigen politischen Wirken des KPD-Vorsitzenden Wilhelm Pieck im „Volk“. „Damit bekennen wir alle unseren Anteil an der Kollektivschuld des deutschen Volkes. Diese Selbsterkenntnis in den beiden jetzt noch getrennt marschierenden Heerhaufen der Werktätigen ist eine der Voraussetzungen für ihre künftige organisatorische Einheit.“[4]

Die SPD ist dabei an der Basis wie auch im Zentralausschuss selbstbewusst und überzeugt, im Wettbewerb mit der KPD nicht nur bestehen zu können, sondern ihn für sich entscheiden zu können. Dafür spricht auch der Zustrom zur Sozialdemokratie: Die Berliner SPD hat im Juli 1945 bereits geschätzt knapp 29.000 Mitglieder[5], die meisten davon, gut 19.000, in den Westsektoren. Dem sowjetischen Journalisten Karl Hoffmann, der im Juli ein Gespräch mit den Zentralausschuss-Mitgliedern Gniffke, Fechner, Grotewohl, Meier und Dahrendorf führt, wird erklärt:  „Die ideologische Erziehungsarbeit wird längere Zeit in Anspruch nehmen, und es ist zweckmäßig, dass jede Partei sie selbständig durchführt. Es ist möglich, dass auf diesem Gebiet bei uns ein Wettstreit mit den Kommunisten entstehen wird, aber wir und unsere kommunistischen Freunde begrüßen einen solchen Wettstreit. Er wird nur beitragen zu der ideologischen Heranbildung der Arbeiterklasse.“ Von den ins Ausland emigrierten SPD-Funktionären, die einer Zusammenarbeit mit der KPD ablehnend gegenüberstehen,  distanziert sich der Zentralausschuss deutlich: „Alle fortgeschrittenen Elemente unseres Volkes wünschen eine demokratische Erneuerung, nicht aber eine neue Ausgabe der Weimarer Republik. Nur wir haben heute das Recht, im Namen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands zu sprechen. Wir führten hier den Kampf gegen den Nazismus, und um diesen Kampf fielen Tausende unserer Genossen.“ Ähnlich distanziert gegenüber der Londoner SPD-Führung hatte sich Dahrendorf bereits am 12. Juni auf einem Treffen der neuentstehenden Parteien geäußert.

„Der Wunsch nach einer engeren Zusammenarbeit mit der KPD bei der grundlegenden Neuordnung der deutschen Gesellschaft ist einer der Hauptfaktoren gewesen, der die SPD in der Sowjetzone dazu veranlasst hat, den im Exil lebenden Führern der Partei, die als grundsätzlich antisowjetisch gelten, eine Absage zu erteilen“, so die Analyse von Herbert Marcuse über die SPD, die er im Herbst 1945 in seinem Exil für den US-Geheimdienst OSS anfertigt.[6]  Marcuses Prognose: Die gemeinsame Gegnerschaft gegen ehemalige Nazis „sowie ein gewisser Druck der Sowjets“ werden die Kommunisten und die Sozialdemokraten in dieser Zone „noch eine Weile zusammenschweißen“[7].

Für die Mehrheit des SPD-Zentralausschusses ist die Einheit eine logische Entwicklung. Als ebenso selbstverständlich wird ein gleichberechtigter Umgang der beiden Arbeiterparteien angesehen, der vertrauensvoll sein und ohne Druck auskommen soll. Die Erwartungen der SPD-Führung beschreibt Erich Gniffke in einem Leitartikel für „Das Volk“ am 12. Juli: „Gelungen ist im Jahre 1945 der Zusammenschluss der Werktätigen zu einem einheitlichen politischen Willen und Handeln. Diese Einheit sich angebahnt in den Konzentrationslagern, in den Zuchthäusern und Gefängnissen; sie wird von uns Überlebenden als teuerstes Vermächtnis übernommen, sie wird zukunftweisend gestaltet. Sie bedeutet nicht:  Sich mit dem nachbarlichen Freund nur ‚auf guten Fuß‘ stellen, sondern sie stellt die vorbehaltlose Einheit aufrichtigster und herzlichster Freundschaft zum gemeinsamen politischen Handeln auf weiteste Sicht dar. Es ist ein eingeschlagener Weg in die Zukunft, der keinen Stimmungen der Gegenwart und der Zukunft geopfert wird. Dabei sind die Organisationsformen von ganz untergeordneter Bedeutung. In ihnen können sich ideologische Unterschiede ausleben und schließlich auch an- und ausgleichen, wobei jetzt oder in Zukunft niemandem ein Leitseil um den Hals geworfen wird. Entscheidend ist dabei  das innere Vertrauen. Jedenfalls ist die geschaffene Einheit der stärkste Aktivposten in der Bilanz. Sie muss eine Dynamik ausstrahlen in alle antifaschistischen Kreise der Bevölkerung im gesamten Reichsgebiet. Schon sehen wir die ersten Ansätze, auch im Lager des politischen Bürgertums zu einer geistigen Klärung zu gelangen.“[8]

Im Prenzlauer Berg kommen am 12. Juli rund 400 Mitglieder von SPD und KPD zu einer ersten gemeinsamen Konferenz zusammen. Treffpunkt ist das heutige Käthe-Kollwitz-Gymnasium in der Dunckerstraße 65/66. Es spricht Waldemar Schmidt, Sekretär der Bezirksleitung Berlin der KPD.

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In der sowjetischen Besatzungszone bestätigt die sowjetische Militäradministration die Provinzial- und Landesverwaltungen, an deren Spitze sich auch Sozialdemokraten befinden. So wird in Brandenburg Dr. Steinhoff,  von 1928 bis 1932 Oberpräsident von Ostpreußen,  Präsident der Provinzialverwaltung, in Mecklenburg übernimmt  Willi Hoecker die Leitung der Landesverwaltung, in Sachsen der Sozialdemokrat Rudolf Friedrichs, Oberbürgermeister von Dresden. Auch der 2. Vizepräsident Prof. Richard Woldt gehört der SPD an.

Otto Grotewohl hält auf der Tagung des Zentralausschuss der SPD am 10. Juli ein Grundsatzreferat. „Besondere Berücksichtigung fanden dabei die von den neugebildeten Landesverwaltungen betreuten Gebiete“, meldet „Das Volk“ in einer kurzen Nachricht. Grotewohl sichert noch einmal die Mitarbeit der SPD im Block antifaschistischer Parteien zu, der Zentralausschuss bestätigt einstimmig Grotewohls Erklärung. Es ist der Tag, an dem die alleinige sowjetische Zuständigkeit in Berlin offiziell endet. Am 11. Juli tagt erstmals die Interalliierte Militärkommandantur.

Bei einem Treffen von FDGB-Mitgliedern im Großen Saal des Prater in der Kastanienallee greift der Sozialdemokrat Otto Suhr am 17. Juli ein Thema auf, das ihn schon vor 1933 bei seiner Tätigkeit für die Angestelltengewerkschaft, den AfA-Bund, bewegt hat: Er wirbt für eine Gesellschaftsordnung mit „planmäßiger Wirtschaftsführung“.[9] Eine solche Planwirtschaft scheint gerade angesichts des Mangels an lebensnotwendigen Waren und des sich entwickelnden Schwarzmarkts verlockend. Schon Mitte Juni hat es bei einer der ersten Razzien gegen Schwarzmarkthändler  in der Mulack- und Gormannstraße 429 Verhaftungen gegeben. Immer wieder kommt es in der Folge zu Polizeieinsätzen.

An die Arbeit!

Auf der Konferenz der drei Alliierten im Schloss Cecilienhof Mitte Juli werden die unterschiedlichen  Interessen der Siegermächte offenkundig. Im Zentralausschuss der SPD wachsen im Herbst 1945 Zweifel an der Verlässlichkeit der KPD, dazu tragen auch willkürliche Verhaftungen von Sozialdemokraten bei. Die Berliner Parteiorganisation nimmt Formen an.

 

Am 16. Juli fahren US-Präsident Truman, sein Staatssekretär Byrnes und Flottenadmiral Leahy im offenen Wagen durch das zerstörte Berlin, vorbei an „Haufen von Schutt und Stein“, wie Truman in seinen Memoiren festhält[10]. „Noch deprimierender als der Anblick der zerstörten Gebäude wirkte jedoch die nie endende Kette von alten Männern, Frauen und Kindern, die ziellos auf der Autobahn und den Landstraßen einherwanderten und den Rest ihrer Habe vor sich herschoben oder nachschleppten.“ Es ist der Tag vor dem Beginn der „Dreimächtekonferenz von Berlin“, der sogenannten „Potsdamer Konferenz“.  Im Schloss Cecilienhof bei Potsdam kommen vom 17. Juli bis 2. August 1945 Truman, Stalin und anfangs Großbritanniens Premierminister Winston Churchill, nach dessen Wahlniederlage ab 28. Juli sein Nachfolger Clement Attlee, zusammen. Grenzziehungen in Europa, Reparationsleistungen und die Verwaltung Deutschlands stehen auf der Tagesordnung, aber auch der fortdauernde Krieg im Pazifik. US-Präsident Truman, von Stalin als Vorsitzender der Konferenz vorgeschlagen, fordert bereits am ersten Konferenztag die Überprüfung und Einhaltung der in Jalta getroffenen Vereinbarungen über die Staatenbildung im befreiten Europa. Mit sowjetischer Unterstützung haben die Kommunisten in Bulgarien die Regierung übernommen, in Rumänien wird die bürgerliche Regierung zum Rücktritt gezwungen. Truman fordert, die drei großen alliierten Staaten müssten sich für eine sofortige Umbildung der gegenwärtigen Regierungen Rumäniens und Bulgariens  aussprechen. Dazu  müsse ein entsprechenden Verfahrens entwickelt werden, das die Teilnahme von Vertretern aller namhaften demokratischen Gruppen gewährleistet.

Eine Zerstückelung Deutschlands, wie noch auf der Konferenz von Jalta  von den Alliierten angedacht, wird in Potsdam nicht weiter verfolgt. Stattdessen geht es um Entnazifizierung, Umerziehung, Demokratisierung und Demilitarisierung Deutschlands.

Stalin macht das sowjetische Interesse an deutschen Reparationsleistungen, auch aus den westlichen Besatzungszonen, deutlich. Belastet werden die Verhandlungen vor allem durch Stalins Vorpreschen bei der neuen Grenzziehung Polens. Ohne ausdrückliche Zustimmung der Westalliierten hat er die bislang zu Deutschland gehörenden Gebiete östlich der Oder an die neue von Kommunisten geführte polnische Regierung übergeben – als Entschädigung für die von den Sowjets einbehaltenen Gebiete Ostpreußens. Die Westalliierten wollten dagegen eine endgültige Grenzziehung Deutschlands einem Friedensvertrag vorbehalten.

Die Gebietsverluste Deutschlands stoßen bei den im Exil befindlichen SPD-Funktionären auf heftigen Widerspruch. „Die Sozialdemokraten in Deutschland selbst“, so vermerkt es Herbert Marcuse in seiner Analyse für dem US-Geheimdienst OSS, „haben sich zu diesem Punkt des Potsdamer Abkommens nicht geäußert – wahrscheinlich, weil ihnen inzwischen klargeworden ist, dass sie aus ihrer Position heraus in dieser Sache wenig oder gar nichts ausrichten können, sodass es für sie nahelag, sich ihrem Schicksal zu ergeben. Das trifft vor allem auf die Haltung der SPD-Führung in der Sowjetzone zu.“ Und Marcuse warnt: „Sollte sich herausstellen, dass solche Gebietsansprüche die ersten Schritte zu einer generellen Teilung Deutschlands sind, wird die SPD – obwohl sie sich mit dem Verlust gewisser Gebiete im Osten abfinden dürfte – wahrscheinlich nichts unversucht lassen, um ihren Widerstand zum Ausdruck zu bringen.“[11]

Vereinbart wird auf der Konferenz der Alliierten ein „Rat der Außenminister“, der Friedensverträge für Italien, Rumänien, Bulgarien, Ungarn und Finnland entwerfen und „zur Vorbereitung einer friedlichen Regelung für Deutschland benutzt werden“ soll. [12]

Die Siegermächte – die französische Regierung stimmt der „Mitteilung über die Dreimächtekonferenz von Berlin“ mit einigen Vorbehalten am 7. August zu – können sich  in vielen Fragen nicht einigen. So kommt aufgrund unterschiedlicher Demokratievorstellungen kein gemeinsames Umerziehungskonzept zustande, um nationalsozialistische Haltungen in der Bevölkerung zu überwinden. Auch territoriale Fragen – Frankreich erhebt Ansprüche auf das Saarland – werden nicht geklärt. Die Unterzeichner des Potsdamer Abkommens „verpflichteten sich lediglich, eine demokratische Umgestaltung Deutschlands zu ermöglichen und es als wirtschaftliche Einheit zu behandeln“, so der Politologe Lars C. Colschen. „Letzteres wurde durch das Prinzip der Entnahme von Reparationen aus der jeweiligen Besatzungszone faktisch konterkariert.“[13]

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Nachdem die erste Sitzung der „Alliierten Kommandatura“, der obersten gemeinsamen Verwaltungsbehörde der Siegermächte, am 11. Juli noch am Sitz des sowjetischen Stadtkommandanten in der Luisenstraße in Mitte stattgefunden hat, kommen die Alliierten zur dritten Sitzung am 25. Juli erstmals in der Dahlemer Kaiserswerther Straße im amerikanischen Sektor zusammen. Der französische Stadtkommandant nimmt als Gast teil, erst Mitte August ist er stimmberechtigt. Genutzt wird das frühere Gebäude des Verbandes Öffentlicher Feuerversicherungsanstalten.

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Schon vor Kriegsende zeigt sich der Londoner Exil-Vorstand der SPD um Hans Vogel und Erich Ollenhauer skeptisch, was die Arbeitsmöglichkeiten in der künftigen sowjetischen Besatzungszone angehen würde: „Was in der russischen Zone wird, weiß niemand; wir Sozialdemokraten werden dort wohl keine Möglichkeit zur politischen Arbeit finden“, so die Einschätzung von Erich Ollenhauer im Februar 1945.[14]  Mitte August 1945 berichtet der Exil-Vorstand  über die ersten Verbindungen zum Zentralausschuss in Berlin, er sieht sich „freudig begrüßt“ von den Berlinern.  Während die Londoner auf ihrem Mandat als letzter gewählter Parteivorstand beharren, beansprucht der Zentralausschuss für sich  die reichsweite Vertretung der wieder entstehenden SPD. Sein Sitz in der Hauptstadt ist dabei ebenso Begründung wie der Hinweis auf, so Grotewohl, die Teilnahme von etwa 300 Sozialdemokraten auf der Gründungsversammlung am 17. Juni, die von außerhalb nach Berlin kamen. „Wir hielten es nicht für ganz unwahrscheinlich, dass unsere Freunde  unsere Rückkehr verlangen würden, nachdem die Russen den gesamten kommunistischen deutschen Stab aus Moskau mit zurückgebracht und sofort aktiv eingesetzt hatten“, so die Einschätzung von Hans Vogel. „Wenn die Russen auf ein solches Verlangen eingegangen wären, hätte uns das möglicherweise in einige Verlegenheit gebracht.“[15]

Leichter fällt dem Exil-Vorstand der Blick nach Hannover, wo Kurt Schumacher mit der Neuorganisation der Partei rasch vorankommt. „Für uns demokratische Sozialisten“, so formuliert es Kurt Schumacher in seinem Aufruf „Für ein neues, besseres Deutschland“, „ist  die Demokratie ein unverrückbares und unverzichtbares Prinzip. Sie ist uns nicht und kann uns nicht sein eine Frage der taktischen Schlauheit oder der opportunistischen Angleichung.“ Die Sozialdemokratie ist für Schumacher „die Partei der politischen, geistigen und wirtschaftlichen Befreiung des Volkes“. Und er hält „unverrückbar an den Grundsätzen des Sozialismus fest“: „Sie kämpft für die Vergesellschaftung der sozialisierungsreifen Zweige des Wirtschaftslebens, für die Abschaffung der Monopolrenten, für die Unterstellung der Kartelle  und Truste unter die Herrschaft der Allgemeinheit.“ In der Landwirtschaft sollten Grund und Boden der kapitalistischen Ausbeutung entzogen werden, so Schumacher, und Großgrundbesitz begrenzt werden. Der Wiederaufbau müsse „planmäßig gelenkt“ vor sich gehen. Schumacher fordert eine gerechte Verteilung der Lasten und nimmt auch die Forderung nach einer Trennung von Kirche und Staat in sein Programm auf. Schumachers Aufruf endet mit einem Dreiklang: „Kämpft mit uns für Frieden, Freiheit, Sozialismus!“[16]

Kuriere Schumachers halten den Kontakt zu den offiziell noch nicht zugelassenen SPD-Gruppen in Frankfurt oder Stuttgart, Dortmund, Köln, Düsseldorf, Hamburg und Bremen. Nirgendwo anders wird in den Westzonen der Führungsanspruch Schumachers in Frage gestellt. Ende August sendet Schumacher den SPD-Bezirken in den Westzonen seine „Politischen Richtlinien für die SPD in ihrem Verhältnis zu den anderen politischen Faktoren“  zur Diskussion zu. Die 30 Schreibmaschinenseiten sollen kein Programm ersetzen, das müsse, so Schumacher, in einer gemeinsamen Anstrengung auf Basis der früheren Programme entwickelt werden. Entwürfe von Einzelpersonen hält Schumacher für „schädlich“. Nicht nur in der Zusammenfassung der Ideen, sondern auch der Menschen müsse es  zu einer Synthese kommen.[17]

Die Zentralausschussmitglieder sind in diesen Tagen viel unterwegs. In den neugegründeten Abteilungen und Kreisen stellen sie ihre Sicht auf die Entwicklung dar. Gustav Dahrendorf hält Anfang August auf dem ersten Treffen des Kreises Weißensee einen Vortrag, im Hintergrund der Bühne ist ein Porträt von Karl Marx aufgehängt.  Durch die Totalkatastrophe habe der deutsche Staat seine Souveränität verloren, erklärt Dahrendorf. Jetzt müsse ganz von vorn begonnen werden, um als Staat wieder anerkannt zu werden. Es müsse Pionierarbeit für eine bessere Zukunft geleistet werden. In der 136. Abteilung in Reinickendorf spricht Dahrendorf über das Attentat vom 20. Juli 1944, das seiner Einschätzung nach mangels „organisierter Breitenbildung durch die Arbeiterschaft“ zum Scheitern verurteilt gewesen sei. Oft haben die ersten größeren Treffen den Charakter von Gedenkfeiern, auf denen der verfolgten und ermordeten früheren Mitglieder gedacht wird. Mitte August vertritt Dahrendorf die SPD-Positionen auf einer gemeinsamen Sitzung der Funktionäre von KPD und SPD in Britz.

Toni Wohlgemuth, seit 1914 SPD-Mitglied und von 1919 bis 1933 SPD-Abgeordnete im  Preußischen Landtag,  kümmert sich vor allem um den Aufbau von Frauenorganisationen. Auf einer öffentlichen Versammlung in Kreuzberg ruft sie Ende Juli die Frauen auf, sich beim Neuaufbau des neuen Staates zu engagieren, da sie ja die Mehrheit der Bevölkerung darstellten. Anfang August wirbt sie auch in Brandenburg an der Havel  für die Beteiligung von Frauen. Der starke Frauenüberschuss hätte schon nach dem ersten Weltkriege „die politische Entwicklung Deutschlands zum friedlichen Zusammenleben mit anderen Völkern entscheidend beeinflussen können, wenn wir Frauen damals unsere Schuldigkeit getan hätten“, so Toni Wohlgemuth[18]. Der demokratische Staat werde auch die Rechte von Frauen sichern.

In Schöneiche bei Berlin, wo der 76jährige frühere Reichstagsabgeordnete Georg Schöpflin wieder aktiv ist,  spricht Max Fechner. Einige Tage später ist Fechner in Adlershof Redner auf der ersten öffentlichen Veranstaltung, auf der es um eine Abrechnung mit dem NS-Regime geht. Otto Suhr erläutert im Parteilokal in Hohenschönhausen die wirtschaftspolitischen Perspektiven, spricht über die Schuldenhinterlassenschaft der Nazis und die Versorgung der Geflüchteten. Gniffke ist neben Draemert Redner auf der ersten Mitgliederversammlung in Zehlendorf, auf der die alte Traditionsfahne der Partei aus der Zeit nach dem ersten Weltkrieg wieder übergeben wird. Ende August tritt er im Saal der Kammerlichtspiele von Klein-Machnow auf.   Termine in Brandenburg nimmt vor allem Friedrich Ebert wahr, er besucht im August Versammlungen in Geltow, Töplitz, Eiche und Werder. Im Rathenower Stadtcasino spricht auf der ersten SPD-Versammlung der sozialdemokratische Oberbürgermeister Paul Szillat[19], langjähriger preußischer Landtagsabgeordneter, zuletzt im März 1933 Fraktionsvorsitzender.

Der Zentralausschuss unternimmt erste Versuche, die Berufsgruppen zu organisieren. So erscheint Ende Juli im „Volk“ ein Aufruf an die SPD-Juristen, die beim Berliner Stadtgericht oder den Amtsgerichten als Richter tätig sind „und alle anderen juristisch vorgebildeten Genossen“, ihre Anschriften zu melden.

(wird fortgesetzt)

 

[1] Hurwitz, Die Anfänge des Widerstands, Teil 1,  S.27
[2] Heuer/Podewin, Der Vereinigungsprozess in Lichtenberg, Berlin 1993, S. 27
[3] Das Volk, Nr. 1 vom 7. Juli 1945, Seite 4
[4] Das Volk, Nr. 2 vom 8. Juli 1945, Seite 2
[5] Hurwitz, Die Anfänge des Widerstands, Teil 1,  S.258
[6] Franz L. Neumann,  Herbert Marcuse, Otto Kirchheimer, Hrsg. von Raffaele Laudani, Im Kampf gegen Nazideutschland – Die Berichte der Frankfurter Schule für den amerikanischen Geheimdienst 1943-1949, Frankfurt 2016, S. 302
[7] Franz L. Neumann,  Herbert Marcuse, Otto Kirchheimer, Hrsg. von Raffaele Laudani, Im Kampf gegen Nazideutschland – Die Berichte der Frankfurter Schule für den amerikanischen Geheimdienst 1943-1949, Frankfurt 2016, S. 303
[8] Das Volk, 12. Juli 1945, S. 1, Fettungen entsprechen dem Original
[9] Gunter Lange: Otto Suhr, Im Schatten von Ernst Reuter und Willy Brandt, Eine Biographie. Verlag Dietz Nachfolger, Bonn 1994, S. 113
[10] Harry S. Truman, Memoiren, Band 1, Das Jahr der Entscheidungen, Bern 1955, S.333
[11] Franz L. Neumann,  Herbert Marcuse, Otto Kirchheimer, Hrsg. von Raffaele Laudani, Im Kampf gegen Nazideutschland – Die Berichte der Frankfurter Schule für den amerikanischen Geheimdienst 1943-1949, Frankfurt 2016, S. 307
[12] Protokoll über die Dreimächtekonferenz von Berlin (Potsdamer Protokoll),
[13] Lars C. Colschen, Deutschlandpolitik der Vier Mächte, in: Werner Weidenfeld, Karl Rudolf Korte (Hrsg.) Handbuch zur deutschen Einheit 1949 – 1989 – 1999, Bonn 1999, S. 270
[14] Albrecht Kaden, Einheit oder Freiheit, S. 95
[15] Albrecht Kaden, Einheit oder Freiheit, S. 97
[16] Kurt Schumacher, Nach dem Zusammenbruch, Hamburg 1948, S. 11
[17] Albrecht Kaden, Einheit oder Freiheit, S. 71
[18] Das Volk, 9. August 1945, S.1
[19] Paul Szillat unterstützt 1945/46 die Vereinigungsbestrebungen von SPD und KPD, übernimmt Funktionen in der SED, wird dann 1950 als sozialdemokratischer Abweichler kritisiert, als Oberbürgermeister abgesetzt, inhaftiert und wegen angeblicher Wirtschaftsvergehen verurteilt.  Im April 1956 wird er begnadigt und geht nach West-Berlin.

Über Ulrich Horb

Jahrgang 1955, Journalist und Fotograf in Berlin
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