„Wenn man zurückblickt“, sagt Ella Kay, „dann merkt man doch, wie viele Verbesserungen es in einem Menschenalter gegeben hat.“ Noch deutlich erinnert sie sich etwa an ihren Vater, der mit seinen 72 Jahren arbeiten gehen musste, weil er keine Rente bekam. Schwere körperliche Arbeiten war das, bei einem Reinickendorfer Bauern. Von den 15 Mark Wochenlohn musste die ganze Familie leben. „Die so genannte gute alte Zeit“, stellt Ella Kay fest, „hat es nie gegeben.“ Dafür aber umso mehr soziale Ungerechtigkeit. An einigen bleibenden Verbesserungen hat Ella Kay mitgewirkt.
Ihr Vater war Sozialdemokrat und Gewerkschafter. Als der Sozialdemokrat Philip Scheidemann 1918 die Republik ausrief, war das ein ganz großer Augenblick für die dreiundzwanzigjährige Ella Kay. 1919 trat sie selbst in die SPD ein, gleichzeitig auch in die gerade gegründete Arbeiterwohlfahrt. Gesellschaftliche Veränderungen, das bedeutete Engagement und Mitarbeit. Manche ihrer Erwartungen erwiesen sich dann doch als zu groß. Es kam nicht gleich das Paradies auf Erden, aber es gab spürbare Erleichterungen. Die Durchsetzung des Acht-Stunden-Tages erlaubte Ella Kay endlich, nach der Arbeit in einer Fabrik noch etwas für die eigene Weiterbildung zu tun. Friedrich Ebert war erster demokratischer Reichspräsident geworden, Gustav Bauer Reichskanzler. Beide waren Sozialdemokraten.
Die Weimarer Republik hatte sich eine Verfassung gegeben, aber die Reaktionen ließen nicht lange auf sich warten. Am 13. März 1920 kam es zum Kapp-Putsch. „Wir trafen uns nachts in der Parteikneipe in Prenzlauer Berg“. erinnert sich Ella Kay. „Es war duster und wir warteten auf Nachrichten aus der Zentrale.“ Die Meuterei von Teilen der Reichswehr und dem rechtsradikalen ostpreußischen Großgrundbesitzer Kapp aber wurde nicht hingenommen: Der Generalstreik der Arbeiter fegte sie hinweg.
So einig war die Arbeiterbewegung jener Zeit sonst nicht. Die Bewilligung der Kriegskredite durch die Mehrheitssozialdemokratie hatte 1917 zur Entstehung der USPD geführt. Zur Jahreswende 1918/19 gründete sich die KPD, die 1920 auch den linken Flügel der USPD aufnahm. Die Rest-USPD kehrte einige Zeit später zur SPD zurück. Das Parteibüro der SPD befand sich in der Lindenstraße. Nach der Währungsreform, („als die Partei wieder Gehälter zahlen konnte“), nahm Ella Kay dort die Arbeit auf. Ihr Arbeitsgebiet: Arbeiterwohlfahrt und Frauensekretariat. Die AWO hatte damals nicht keine eigenen Einrichtungen. Gelegentlich wurde einmal Kakao verteilt, erinnert sich Ella Kay, aber die AWO verstand sich nicht als Wohltätigkeitsverein. „Wir haben mehr die öffentlichen Stellen eingesetzt“, sagt Ella Kay. „Wir sind mit den Betroffenen zu den Behörden gegangen und haben uns dort für ihre Rechte eingesetzt.“
Ella Kay und die Reform der Jugendämter
Mitte der zwanziger Jahre bekam Ella Kay eine neue Aufgabe. Sie fing im Jugendamt ihres Heimatbezirks Prenzlauer Berg an, machte nebenher eine Ausbildung als Fürsorgerin. Gleichzeitig war sie Bezirksverordnete und später Stadtverordnete.
Ella Kay im Interview mit Ulrich Horb 1985: Jugendarbeit im Prenzlauer Berg.
Im Prenzlauer Berg, wo Otto Ostrowski 1926 zum Bezirksbürgermeister gewählt wurde, konnten mit Walter Friedländer, Leiter des bezirklichen Jugendamts und Dozent an der Berliner Wohlfahrtsschule der Arbeiterwohlfahrt, neue Formen der Jugendarbeit entwickelt werden. Das „Jugendamt neuer Prägung“ entstand, ein Amt, das Kindern zu ihrem Recht verhelfen sollte. Das war notwendig in einer Zeit zunehmender Verelendung. 1931 gab es über 4 Millionen Arbeitslose, gleichzeitig sanken die Wochenlöhne. Die Sozialversicherungsleistungen wurden stetig abgebaut. Viele Arbeiterjugendliche hatten nur geringe Zukunftsaussichten. Es war eine gemachte Arbeitslosigkeit, wie Ella Kay im Nachhinein findet, gemacht, um die Arbeiter einzuschüchtern. „Man soll der Jugend mit der Fürsorge vom Hals bleiben – die braucht eine Erziehung, und keine Fürsorge“, so beschrieb Ella Kay die Aufgabe des Jugendamtes.
Ella Kay im Interview mit Ulrich Horb 1985: Anfänge der NSDAP im Prenzlauer Berg.
Zwei Nazis waren Ende der zwanziger Jahre ins Bezirksparlament im Prenzlauer Berg gewählt worden, erinnert sich Ella Kay. „Wir haben sie zuerst belächelt: so eine kleine Partei und keine Fraktion. Das nächste Mal zogen sie ins Rathaus: in voller Nazi-Uniform.“ Eine Legislaturperiode saß sie in der Stadtverordnetenversammlung neben Goebbels. Auf den Straßen herrschte blutiger Terror. SPD-Versammlungen waren Ziel von SA-Überfällen. Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold bildet zum Schutz sozialdemokratischer Treffen eine „Schutzformation“ mit 160.000 Mitgliedern.
Ella Kay im Interview mit Ulrich Horb 1985: SPD im Prenzlauer Berg
„Zum Schluss“, sagt Ella Kay, „war ich fast jeden Abend auf SPD-Versammlungen, um vor den Nationalsozialisten zu warnen.“ Straßenterror und die finanzielle Not vieler Familien zeigten Wirkung.
Ella Kay im Interview mit Ulrich Horb 1985: Soziale Not im Prenzlauer Berg
Und nach Hitlers Machtergreifung geht es Schlag auf Schlag: die Gewerkschaftshäuser waren besetzt, die KPD wird verboten, das Vermögen der SPD beschlagnahmt, die Partei am 22. Juni 1933 verboten.
Ella Kay im Interview mit Ulrich Horb 1985: der Zusammenhalt der Sozialdemokraten
„Im Juni 33 kam es auch zur Köpenicker Blutnacht“, erinnert sich Ella Kay. In einer Siedlung, in der hauptsächlich SPD-Mitglieder wohnten, darunter Marie Juchacz und Ernst Reuter, richteten die Nazi-Horden ein Blutbad an. Die Einschüchterung war perfekt. Viele SPD-Mitglieder waren verhaftet, viele gingen ins Exil nach Prag. Viele aber blieben auch, weil sie ihre Familien versorgen mussten oder nicht durch Flucht gefährden wollten. Ella Kay hatte zu den ersten gehört, die nach Hitlers Machtergreifung entlassen worden war. Die folgenden zwölf Jahre musste sie sich mit Gelegenheitsarbeiten durchschlagen, mehrmals erschien die Gestapo bei ihr. Trotz alledem gab es auch in der Illegalität noch einen Zusammenhalt der Sozialdemokraten. „Wir trafen uns anfangs noch in der Neuen Welt zu Tanzveranstaltungen. Während man miteinander tanzte, konnte man auch miteinander reden. Solche Veranstaltungen haben wir mehrmals noch 1933 und 34 machen können.“
Ella Kay im Interview 1985 mit Ulrich Horb : Verfolgung der Nazi-Gegner.
Ella Kay im Interview mit Ulrich Horb 1985: persönliche Verfolgung in der Nazi-Zeit.
Später allerdings traf man sich meist in kleineren Kreis, tauschte Informationen aus, die man von ausländischen Sendern empfangen hatte. So kam der Zusammenbruch nicht gänzlich überraschend.
Ella Kay im Interview mit Ulrich Horb 1985: Neuanfang 1945
Von Müggelheim aus lief Ella Kay in elf Stunden zum Prenzlauer Berg, wo sie sich im Rathaus – nach zwölf Jahren Zwangspause – wieder zum Dienst melden konnte. Von den Sowjets eingesetzt waren inzwischen meist kommunistische Bürgermeister mit der Verwaltung betraut. In den KZs hatten sich eingekerkerte Sozialdemokraten und Kommunisten Einigkeit geschworen. nun, im politischen Alltag, zeigte sich bald wieder die Differenz. „Wir gingen zunächst einmal daran, die alten SPD-Genossen wiederaufzufinden, die vor 33 in Funktionen waren“, sagte Ella Kay.
Mit ihnen wurde der Aufbau begonnen, Trümmer und Schutt beiseite geräumt. „Festessen waren selbstgebratene Bouletten aus Kartoffelschalen.“ Gleichzeitig wurde die Partei wieder aufgebaut. „In endlosen Versammlungen haben wir damals mit der KPD über die Vereinigung der beiden Parteien diskutiert, ohne Ergebnis.“ In einer Urabstimmung entschied sich die Mehrheit der Sozialdemokraten in den Berliner Westsektoren im Frühjahr 46 gegen den Zusammenschluss. Die Befürworter der Vereinigung bildeten mit der KPD die SED, Otto Grotewohl, Vorsitzender des Zentralausschusses der SPD wird Vorsitzender der SED und später Ministerpräsident der DDR. In der Gesamtberliner Wahl des Jahres 46 wurde Ella Kay an der Seite Louise Schroeders und Franz Neumanns ins Berliner Parlament gewählt. Ende des Jahres aber wählte sie ihr Heimatbezirk zur neuen Bürgermeisterin.
Trotz eines Auflösungsbeschlusses der SPD vom April 46 besteht sie auch im sowjetischen Sektor Berlins weiter, ein alliiertes Tauschgeschäft, nachdem die SED die Zulassung in den Westsektoren beantragt hatte. Die SPD verfehlt nur knapp die absolute Mehrheit, die SED erhält weniger Stimmen als die CDU. Ende 1946 wurde Ella Kay zur Bürgermeisterin ihres Heimatbezirkes Prenzlauer Berg gewählt. Nur ein Jahr blieb sie es, dann wurde sie vom sowjetischen Stadtkommandanten abgesetzt. Sie ging in den Westteil der Stadt.
1947 war hier Ernst Reuter zum Bürgermeister gewählt worden, wegen eines sowjetischen Protestes konnte er sein Amt nicht antreten. 1948 war das, im Jahr der Luftbrücke. Louise Schroeder war geschäftsführende Bürgermeisterin. Die Spaltung der Stadt wurde vollzogen, Friedrich Ebert trat an Spitze der Ostberliner Verwaltung, der Sozialdemokrat Ernst Reuter übernahm von Louise Schroeder, die in den Bundestag ging, 1950 das Amt des Regierenden Bürgermeisters. Ella Kay übernahm die Verwaltung des Hauptjugendamts, das dem Bürgermeister direkt unterstand. Erst unter Otto Suhr, der 1955 zum Regierenden Bürgermeister gewählt wurde, erhält das Jugendamt Selbständigkeit. Ella Kay wird Senatorin.
Manches von den politischen Zielen der ersten Nachkriegsjahre verschwand wieder von der Bildfläche: Einheitsschule, Einheitsversicherung sehr zum Bedauern von Ella Kay. Aber der Widerstand des bürgerlichen Lagers gegen alles, was auch Kommunisten forderten, war in der Zeit des „Kalten Krieges“ immer stärker geworden. Aber der Inselcharakter der Stadt bewirkt auch eine ständige Auseinandersetzung mit der Ost-West-Politik. Hier entsteht die Entspannungspolitik. Die SPD entwickelt sich zur Volkspartei, maßgeblich beeinflusst von Willy Brandt. „Es war ja schon damals so, dass niemand gern Mitglied einer Arbeiterpartei sein wollte. Jeder will doch etwas besseres sein“, sagt Ella Kay.
„Es hat sich gelohnt, politisch zu arbeiten“
Die Entwicklung von der Arbeiterpartei zur Volkspartei jedenfalls bescherte Willy Brandt bei den Berliner Wahlen 1958 zum ersten Mal seit 1948 wieder eine absolute Mehrheit. Mit dem Godesberger Programm 1959 fand diese Entwicklung auch in der Bundespartei ihren Ausdruck. Im August 1961 wurde die Spaltung mit dem Bau der Berliner Mauer vorerst besiegelt. Ella Kay kehrte von einem Parteitag in Bayern zurück. Zusammen mit Kurt Neubauer fuhr sie in den Ostteil der Stadt, wo noch immer die Büros der SPD-Ost waren. „Wir haben den Genossen noch einmal Mut gemacht“. Die Büros wurden kurze Zeit später geschlossen.
Im Jahr darauf trat Ella Kay als Senatorin zurück. Sie übernahm die politische Verantwortung für eine Fehlentscheidung eines Bezirksbediensteten, durch die ein Pflegekind zu Tode kam. Ihre entschlossene Haltung wurde Ella Kay hoch angerechnet. Als Abgeordnete, machte sie, 67jährig, weiter, ihre jugendpolitischen Reformen wurden von der neuen Senatorin Ilse Reichel fortgeführt. Heinrich Albertz war Stellvertreter Willy Brandts und Innensenator. Nach der Bildung der Großen Koalition 1966 wurde er für ein Dreivierteljahr Brandts Nachfolger. Der Tod des Studenten Benno Ohnesorg vor der Deutschen Oper bei einem Polizeieinsatz veranlasste Albertz zum Rücktritt. Ella Kay war in der Oper an diesem 2. Juni, die vom Schah von Persien bei seinem Besuch an diesem Tag mitgebrachten „Jubelperser“ hatten für eine angeheizte Stimmung gesorgt, erinnert sich Ella Kay.
Die APO-Zeit, die Zeit des Protests gegen den Vietnam-Krieg und die verkrustete Politik der Adenauer-Ära fand in der SPD ihren Widerhall. Und sie führte auch viele neue Mitglieder in die Partei. Die Zeit des Aufbruchs, der Reformen begann. 1968 zog sich Ella Kay aus der Abgeordnetenhaustätigkeit zurück. Klaus Schütz war Regierender Bürgermeister, gefolgt von Dietrich Stobbe und Hans-Jochen Vogel. Ihre Amtszeit hat Ella Kay schon aus größerer Ferne beobachtet, auch wenn sie, weit über achtzigjährig, zu Parteitagen in Berlin und im Bundesgebiet reiste und mit Rat und Tat zur Seite steht. „Es hat sich gelohnt, politisch zu arbeiten“, sagt Ella Kay. „Ich bin ja sowieso unverbesserlicher Optimist. Es wird uns gelingen, die Mehrheit einer besseren Zukunft entgegenzuführen.“
Tondokumente: (c) Ulrich Horb