Kein Platz für Nettelbeck

Nettelbeckplatz: Brunnen „Tanz auf dem Vulkan“. Foto: Ulrich Horb

Im 19. Jahrhundert wuchs Berlin wieder über seine Stadtgrenzen hinaus. Die Wiesen und Felder des Wedding wurden parzelliert. Nach den Maschinenfabriken an der Chausseestraße entstanden im Wedding weitere Fabrikbauten. 1888 zog die AEG in die Ackerstraße und vergrößerte sich zusehends, der Vorläufer von Osram und die Chemische Fabrik von Ernst Schering sorgten für Arbeitsplätze. Die eingeschossigen Kolonistenhäuser wichen mehrstöckigen Gebäuden. Die Arbeiterinnen und Arbeiter der Industriebetriebe mussten sich mit ihren Familien in immer neue düstere und enge Mietskasernen zwängen. Straßen und Kreuzungen entstanden.  „Platz M“   nannte der Stadtplaner James Hobrecht in seinem Bebauungsplan von 1862 einen Ort unweit des Wedding-Platzes, an dem die Wege nach Reinickendorf und Pankow aufeinandertrafen.

Dieser Schnittpunkt von Reinickendorfer Straße, Pankstraße, Gerichtstraße und Lindower Straße wurde im Mai 1884 nach Joachim Nettelbeck (1738 – 1824) benannt, einem preußischen Seefahrer, der während der Napoleonischen Kriege 1806/1807 erfolgreich an der Verteidigung der preußischen Festung Kolberg mitgewirkt hatte und nun dafür gewürdigt werden sollte. Angeregt hatte die Ehrung der Weddinger Großgrundbesitzer Christian Wilhelm Griebenow, der mit Gneisenau und Nettelbeck in Kolberg gekämpft hatte und der der Stadt Berlin die Entscheidung für die Benennung mit einem großzügigen Vermächtnis erleichterte. Schon seit 1875 erinnerte die Kolberger Straße in unmittelbarer Nachbarschaft an die Kämpfe.

Nettelbeckplatz. Foto: Ulrich Horb

Nettelbeckplatz. Foto: Ulrich Horb

Der dreieckige Nettelbeckplatz, nur an den Straßeneinmündungen mit etwas Grün verziert, entwickelte sich rasch zum Verkehrsknotenpunkt.  Bahnhöfe für U- und S-Bahn entstanden in unmittelbarer Nähe, die Straßenbahn querte den Nettelbeckplatz.  In den zwanziger Jahren verschwand das Grün vollständig.

Die nächste große Veränderung erfuhr der Platz in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Es wurde im Sinne der autogerechten Stadt eine grüne Mittelinsel geschaffen, die vom Autoverkehr umbraust und von vier Straßenbahnlinien durchfahren wurde. Ein Aufenthalt war dort nicht vorgesehen.

Der Mauerbau schnitt den Wedding vom angrenzenden Ost-Berlin ab. Geschäfte und Kinos litten unter dem Schwund an Besucherinnen und Besuchern, der Autoverkehr nahm ab, die Ringbahn, von der DDR-Reichsbahn betrieben, wurde stillgelegt.

Nettelbeckplatz: Leerstand. Foto: Ulrich Horb

Nettelbeckplatz: Leerstand. Foto: Ulrich Horb

Um mehr Aufenthaltsqualität am Nettelbeckplatz zu erreichen wurde 1985 die Straßenführung geändert. Die Reinickendorfer Straße wurde umgeleitet, der Kreisverkehr verschwand. Der Verkehr floss am nun größeren Platz vorbei.

1988 wurde als Ergebnis eines Wettbewerbs der Brunnen „Tanz auf dem Vulkan“ auf dem Platz installiert, ein künstlerischer Kommentar zur Zeit des Kalten Kriegs, der in Berlin und eben auch im Wedding spürbar war. Die realistisch gestaltete Figurengruppe auf dem schiefen Kraterrand ist von der tschechisch-deutschen Bildhauerin Ludmila Seefried-Matejková erschaffen worden und kostete etwas über eine Million Mark. Der Vulkan, so die Künstlerin damals, symbolisiere die gegenwärtige Welt, die Menschen am Rande des Vulkans wollen die Gefahren nicht erkennen.  Einen Klavierspieler mit Pferdefuß hat die Künstlerin  vor dem Krater platziert, um für die Tanzmusik zu sorgen.

Nettelbeckplatz. Foto: Ulrich Horb

Bänke wurden auf dem nun gepflasterten Platz aufgestellt. Cafés luden zum Verweilen ein. 2005/2006 wurden nach Beteiligung der Anwohnerinnen und Anwohner unter den Bäumen weitere Sitzmöglichkeiten geschaffen. Geschäfte und Restaurants allerdings gaben nach und nach auf, die Hauptpost in der Gerichtstraße schloss.

Nettelbeckplatz: Gerichtsstraße. Foto: Ulrich Horb

Nettelbeckplatz: Gerichtstraße. Foto: Ulrich Horb

Für den Namensgeber des Platzes interessierte sich lange Zeit niemand. Aber im Wedding mit seinem Afrikanischen Viertel und den Straßennamen, die an Kolonialzeiten erinnerten, lag ein kritischer Blick auf Straßennamen nahe. Und siehe da: Nettelbeck war nicht nur der Held von Kolberg, er war auch in seiner Zeit als Seemann und Obersteuermann, die er häufig auf niederländischen Schiffen zubrachte, wesentlich am Versklavungshandel an der afrikanischen Küste beteiligt. In seiner Heimat Preußen warb er 1814, wenn auch erfolglos, für die Inbesitznahme von Kolonien, die Gewinne durch Sklavenarbeit abwerfen sollten. Dazu bedurfte es auch kaum einer intensiven Recherche. Nettelbeck selbst berichtete in seiner Autobiographie „Des Seefahrers Nettelbeck Lebensgeschichte“ über diesen Abschnitt seines Lebens. Hans Magnus Enzensberger legte das Werk in der „Anderen Bibliothek“ 1987 neu auf.

„Nachdem wir in Texel Wasser, Proviant und alles, was der Sklavenhandel erfordert, an Bord genommen hatten, gingen wir in See“, berichtet Nettelbeck über seine ersten Fahrten als Jugendlicher. „Der Kapitän hatte anderthalb Hundert Schwarze beiderlei Geschlechts gekauft und einen guten Handel mit Elfenbein und Goldstaub gemacht. Für alle diese Artikel gilt Kap Lagos als Hauptstation. Landeinwärts ist nämlich ein viele Meilen langer und breiter See, auf welchem die Sklaven von den Menschenhändlern (Kaffizieren) aus dem Innern in Kanus herbeigeschafft werden.“

An anderer Stelle berichtet Nettelbeck  ganz offen und mit etwas Distanz: „Bevor ich in meinem Lebensberichte fortfahre und mich zu den kleinen Abenteuern wende, die mir an der afrikanischen Küste begegnet sind, will ich ein wenig über den Sklavenhandel erzählen. »Wie?« wird vielleicht mancher fragen; »Nettelbeck ein Sklavenhändler? Wie kommt ein so verrufenes Handwerk mit seinem ehrlichen pommerschen Herzen zusammen?« – Allein dies Handwerk stand zu damaliger Zeit bei weitem nicht in einem solchen Verrufe. Erst seitdem man, besonders in England, wider den Sklavenhandel als einen Schandfleck der Menschheit geschrieben und im Parlament gesprochen hat, ist das der Fall. Und wenn dieser Handel nun entweder ganz abgekommen ist oder doch mit heilsamer Einschränkung getrieben wird, so ist der alte Nettelbeck gewiß nicht der Letzte, der seine herzliche Freude darüber hat. Vor fünfzig Jahren aber war und galt dieser böse Menschenhandel als ein Gewerbe wie andere, ohne daß man viel über seine Recht- und Unrechtmäßigkeit grübelte. Wer sich dazu brauchen ließ, hatte die Aussicht auf einen harten und beschwerlichen Dienst, aber auch auf leidlichen Gewinn. Barbarische Grausamkeit war damit nicht unbedingt verbunden und fand auch wohl nur in einzelnen Fällen statt. Ich wenigstens habe nie dazu geraten oder geholfen. Freilich sah ich oft genug Roheit und Härte; aber die waren mir leider überall, wohin mich der Seemannsberuf führte, ein nur zu gewohnter Anblick.“

Über den Handel selbst schreibt Nettelbeck: „Da hier Menschen als Ware angesehen wurden, mußten solche Artikel gewählt werden, welche den Schwarzen am unentbehrlichsten waren. Schießgewehre aller Art und Schießpulver in kleinen Fässern nahmen hierunter die erste Stelle ein. Fast ebenso begehrt war Tabak, sowohl geschnitten als in Blättern, samt irdenen Pfeifen; auch Branntwein. Dann kamen Kattune von allen Sorten und Farben in Frage sowie leinene und seidene Tücher, von denen sechs bis zwölf zusammengewirkt waren. Ebensowenig durfte ein guter Vorrat von linnenen Lappen fehlen, die dort als Leibschurz getragen werden. Den Rest der Ladung machten allerlei Kurzwaren aus; so kleine Spiegel, Messer aller Art, bunte Korallen, Nähnadeln und Zwirn, Fayencesachen, Feuersteine, Fischangeln und dergleichen.

„Einmal gewöhnt, diese verschiedenen Artikel von den Europäern zu erhalten, können und wollen die Afrikaner sie nicht missen. Sie sind darum unablässig darauf bedacht, sich die Ware zu verschaffen, welche sie dagegen eintauschen können. Also ist auch das ganze Land immerfort in kleine Parteien geteilt, die sich in den Haaren liegen und alle Gefangenen, welche sie machen, entweder an die schwarzen Sklavenhändler verkaufen oder sie unmittelbar zu den europäischen Sklavenschiffen führen. Wenn es ihnen an solcher Kriegsbeute fehlt, greifen ihre Häuptlinge, die eine despotische Gewalt über ihre Untertanen haben, auch diejenigen auf, welche sie für die entbehrlichsten halten. Oder es geschieht, daß der Mann sein Weib, der Vater sein Kind und der Bruder den Bruder auf den Sklavenmarkt zum Verkauf schleppt.“

Nettelbeck selbst profitierte von diesem Handel, er kaufte und verkaufte Menschen. Sowohl im Wedding als auch in Erfurt, wo es ein Nettelbeckufer gab, forderten Initiativen eine Umbenennung. Der Bezirk Mitte beschloss, mit einem Dekolonialisierungskonzept den Umgang mit der kolonialen Vergangenheit grundsätzlich zu regeln. Die Bezirksverordnetenversammlung Mitte beriet im Frühjahr 2023 über die Umbenennung und rief dazu auf, Namensvorschläge einzureichen.

Nettelbeckplatz: Lokal "Magendoktor". Foto: Ulrich Horb

Nettelbeckplatz: Lokal „Magendoktor“. Foto: Ulrich Horb

Eine Initiative fordert eine Namensgebung, die an die  Opfer von Gewalt gegen Frauen erinnert. Auch der Weddinger Heimatverein hält eine Umbenennung für richtig und legte einen eigenen Vorschlag vor, um drei Frauen zu ehren, die sich aktiv gegen den Nationalsozialismus eingesetzt hatten.  Der Platz sollte, so der Heimatverein, „unter Verwendung eines Begriffes von Kurt R. Grossmann aus seinen in den fünfziger Jahren erschienen Buch Platz der unbesungenen Heldinnen benannt werden“.

Gerade in dieser Zeit aufkeimenden Autoritarismus und Verfolgung Andersdenkender wäre dies ein Zeichen, so Bernd Schimmler, Vorsitzender des Heimatvereins. „Die dort genannten sind Menschen gewesen, wie viele Weddinger damals und heute. Dies erleichtert die Identifikation mit Namensgebungen, die in jüngster Zeit – wie im Afrikanischen Viertel – nicht  überall Anklang fanden.  Mit Stelen o.ä. könnte an diese Frauen erinnert werden. Dies würde auch zur ursprünglichen Vorstellung bei der Umgestaltung des Platzes passen, dessen in der Mitte aufgestellter Brunnen von seiner Bildhauerin als „Tanz auf dem Vulkan“ betitelt wurde, in Anspielung auf den Roman „Der Vulkan. Roman unter Emigranten“ von Klaus Mann.“

Geehrt werden sollten Marie Burde, (* 9. 6. 1892; † 12. 7. 1963), die drei jüdische Jugendliche vor den Nationalsozialisten versteckte, Elise Garzke-Israelowicz (geb. Paulick, *15.6.1896, † 8.7.1982), die Isaak Grünberg im Frühjahr 1942 vor der Deportation rettete sowie die Schneiderin Stephanie Hüllenhagen, (geb. Kaiser, *1.1.1893, † 15.1.1967), die in ihrer Einraumwohnung in der Bellermannstraße 14 ihre langjährige Bekannte Dr. Helene Leroi unterbrachte.

Auf mein.berlin.de hatte das Bezirksamt Mitte bis zum 24. April 2023 um Vorschläge und Ideen für einen neuen Namen gebeten: https://mein.berlin.de/projekte/der-nettelbeckplatz-braucht-einen-neuen-namen/. Die Einsendungen werden durch ein Beratungsgremium geprüft und diskutiert, so das Bezirksamt. Dem Beratungsgremium gehören neben Mitgliedern der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) und des Bezirksamts Menschen aus der Nachbarschaft und zivilgesellschaftliche Organisationen an, die sich für die Umbenennung des Nettelbeckplatzes eingesetzt hatten.

Mehr:

https://www.projekt-gutenberg.org/netlbeck/netlbeck/netlbeck.html 

Über Ulrich Horb

Jahrgang 1955, Journalist und Fotograf in Berlin
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