Es sind neun sehr unterschiedliche Lebenswege. Verbunden sind die Geschichten der neun Weddingerinnen durch ihr politisches Engagement in der Weimarer Republik und während der NS-Zeit. Verbunden sind sie auch durch ihren Mut und die Hoffnung auf ein Ende von Diktatur und Tyrannei und durch ihre Beiträge zum Widerstand. Walter Frey, Verleger der Wedding-Bücher, und die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Brunhilde Wehinger haben für ihren Band „Mut – Hoffnung – Widerstand“ Lebensläufe von Frauen ausgewählt, die sich in der Arbeiterbewegung engagierten und in der SPD, der KPD oder linkssozialistischen Gruppierungen aktiv waren.
Ein einführendes Kapitel beschreibt die Entwicklung vom revolutionären Aufbruch der Weimarer Zeit in die Zeit von Verfolgung und Unterdrückung in der NS-Diktatur. Der Wedding mit seiner Dominanz der Arbeiterparteien spielte dabei eine besondere Rolle. Armut und Wohnungsnot prägten den Bezirk. Aber hier entstanden auch mehrere attraktive und modern gestaltete Wohnviertel wie die Friedrich-Ebert- und die Schillerpark-Siedlung. Allein fünf der neun Biographien sind mit der Friedrich-Ebert-Siedlung verbunden.
Frauen, die während des 1. Weltkriegs im Berufsleben standen, gehörten zu den ersten, die nach Kriegsende entlassen wurden. Das Wahlrecht hatten sie erst 1918 erhalten. Es gehörten Mut und Überzeugung dazu, sich politisch zu engagieren. Die neun porträtierten Frauen haben dies auf unterschiedliche Weise getan.
Elly Kaiser (1891 – 1961) wuchs in einer sozialdemokratischen Handwerkerfamilie auf, der Vater starb früh. 1921 begegnete sie dem aus Russland stammenden Politiker und Publizisten Alexander Stein, mit dem sie eine lebenslange Partnerschaft verband, auch wenn er bis 1945 zunächst mit einer anderen Frau verheiratet blieb. Die gemeinsame, aber „uneheliche“ Tochter war ein Wunschkind, auch wenn das zu dieser Zeit noch als Makel galt.
Während er für sozialdemokratische Zeitschriften schrieb, arbeitete sie in der SPD-Reichstagsfraktion. Mit der Machtübernahme der Nazis ändert sich die Situation für den sozialdemokratischen russischen Juden dramatisch, auch Elly Kaiser erlebte Überfälle durch die SA in der Wohnsiedlung. Es begann ein Leben auf der Flucht, die von der Tschechoslowakei über Paris bis in die USA führte. 1945 heirateten Alexander Stein und Elly, die Vertriebenen kehrten zurück nach Deutschland, wo Stein bereits 1948 verstarb. Entschädigungszahlungen als Opfer des Nationalsozialismus wurden Elly Kaiser erst nach ihrem Tod 1961 bewilligt.
Der Name von Elly Kaisers Schwester Fanny Hüllenhagen findet sich in einem Eintrag in der Gedenkstätte Yad Vashem als „Gerechte unter den Völkern“. Fanny Hüllenhagen war bereits in der Sozialistischen Jugend aktiv. Während der NS-Zeit unterstützte die Schneiderin jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger, etwa mit Lebensmitteln. Als der Bibliothekarin und Autorin Helene Leroi als Jüdin die Deportation drohte, versteckte Fanny Hüllenhagen, die Leroi aus der SPD kannte, sie in ihrer Wohnung, einer Einzimmerwohnung in der Bellermannstraße. Lebensmittel kamen zum Teil auch durch Spenden aus der Nachbarschaft zusammen. Es gelang tatsächlich, Helene Leroi bis zum Kriegende versteckt zu halten. Nach 1945 gingen die beiden Frauen politisch unterschiedliche Wege, Fanny Hüllenhagen lehnte energisch die Politik von KPD und SED ab, Helene Leroi wurde Mitglied der SED, sie starb am 1. April 1950 im Jüdischen Krankenhaus an einer Lungenentzündung.
Zu den Porträtierten gehört auch Dora Lösche, 1906 geboren und 1921 von Hagen nach Berlin gezogen. 1927 heiratete sie Bruno Lösche, den sie aus der Arbeiterjugend kannte. Eine Wohnung fanden sie in der Friedrich-Ebert-Siedlung. Bis 1933 arbeitete Dora Lösche als Sekretärin im Fraktionsbüro erst der USPD, dann der SPD im Preußischen Landtag. Ihr Mann wurde 1933 einige Monate inhaftiert, Dora arbeitete für die Zeitschrift „Blick in die Zeit“, die bis zum Verbot 1935 durch geschickte Aneinanderreihung von Pressestimmen zur Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus anregte. Danach sorgte sie als Stenotypistin für das Familieneinkommen. Vom Wedding zogen sie nach Britz in eine ebenfalls sozialdemokratisch geprägte Wohnumgebung. 1945 gehörte sie hier zu den ersten, die an der Wiedergründung der SPD mitwirkten.
Erna Wiechert, geborene Schlingmann, wirkte zunächst hauptamtlich in der ostwestfälischen SPD. Ab 1933 versuchte sie, die zerschlagenen Strukturen der SPD und SAJ in Berlin notdürftig zu erhalten. Ihr späterer Ehemann Theodor Wiechert war aktiv im Widerstand und wurde 1933 verhaftet und schwer misshandelt, auch Erna kam vor Gericht. Theodor Wiechert, der nach dem Krieg Mitglied der SED wurde, starb 1946 mit 36 Jahren an den Spätfolgen der Misshandlungen, Erna Wiechert übernahm für die SPD Aufgaben im Wedding, wurde Bezirksverordnete, Stadträtin und Abgeordnete.
Ein längeres Kapitel ist der Schriftstellerin und Malerin Hilde Rubinstein gewidmet, die 1904 geboren wurde. In Köln und Düsseldorf studierte sie Kunst und erlebte die Aufbruchstimmung der Weimarer Republik. 1930 zog sie mit ihrem Mann in die Weddinger Friedrich-Ebert-Siedlung, begann erfolgreich mit dem Schreiben von Theaterstücken und engagierte sich in der KPD. Die hoffnungsvolle Karriere endete abrupt 1933, es begann eine Odyssee von Verfolgung, Haft und Flucht, von Hitlers Terrorregime geriet sie in das von Stalin, verlor ihr Weltbild. Schließlich gelang die Flucht nach Schweden. In der Nachkriegszeit schlug sie sich mit viel Mühe durch, Mit 78 Jahren kehrte Hilde Rubinstein 1982 nach Berlin zurück, 1993 zog sie wieder zu ihrer Familie nach Schweden.
Auch Ruth Schwalbach, geborene Schedlich, wuchs in einer sozialdemokratischen Familie auf. Wie ihr Mann Hans engagierte sie sich zunehmend kritisch in der KPD und wechselte dann zu einer linken Abspaltung. 1933 emigrierte Hans Schwalbach nach Paris, wo ihn Ruth im Sommerurlaub besuchte, um erst später zu folgen. Aber kurz nach ihrer Rückkehr aus Paris wurde sie verhaftet und in der Gestapozentrale misshandelt. 1936 kam sie frei. Ruths Bruder Heinz unterstützte als Kurier die „Gruppe Funke“, die illegal Druckschriften verbreitete, bis ihre Mitglieder 1934 inhaftiert wurden. Nach der Ausbürgerung ihres Mannes Hans wurde auch Ruth Schwalbach die deutsche Staatsangehörigkeit entzogen. 1936 ging Ruth Schwalbach ins Pariser Exil und arbeitete in der Funke-Gruppe mit. Nach der Besetzung Belgiens wurde sie im Mai 1940 interniert, dann wieder von der Gestapo verhaftet. Von 1942 bis 1945 arbeitete sie für eine Firma im Wedding, nach Kriegsende wurde sie wieder in der KPD aktiv, allerdings auch wegen ihrer früheren Kritik an der KPD-Politik angefeindet.
In der Weddinger KPD wirkte auch Ella Trebe, 1929 wurde sie in die BVV gewählt, wobei es der KPD in dieser Zeit wohl eher um eine Bühne für Agitation ging als um konkrete kommunale Reformen. Die Konfrontation zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten wurde auch in den Gewerkschaften ausgetragen und zunehmend handgreiflicher. Ella Trebe wirkte nach dem KPD-Verbot in der Illegalität weiter, ihr Ehemann Paul Trebe wurde mehrfach verhaftet, sie selbst wurde 1943 im KZ Sachsenhausen hingerichtet. Gedenktafeln und Gedenksteine, die nach dem Krieg an Ella Trebe erinnerten, wurden jeweils nach kurzer Zeit entfernt. Seit 2005 ist eine Straße in Moabit nach ihr benannt.
Aus einer christlich geprägten Familie stammte Maria Hodann, geb. Saran. Politisiert wurde sie durch die Aufbruchstimmung nach dem 1. Weltkrieg, aktiv wurde sie zuerst im Internationalen Jugend Bund IJB, einem Vorläufer des Internationalen Sozialistischen Kampfbundes ISK, einer Gruppierung, deren Mitglieder sowohl in der SPD wie auch in der KPD aktiv waren, um eine Einheitsfront gegen den Nationalsozialismus zu erreichen. Die sektenartige Gruppe verpflichtete ihre Mitglieder zum Vegetarismus, zum Verzicht auf Alkohol und zum Kirchenaustritt. Maria Hodann lebte mit anderen Mitgliedern der Gruppe in einer Wohngemeinschaft in der Weddinger Adolfstraße, sie wirkte als Sozialfürsorgerin und hielt für den ISK Vorträge. Nach der Machtübernahme der Nazis und dem Reichstagsbrand emigrierte Maria Hodann, die, so die Historikerin Susanne Miller, „wahrscheinlich bekannteste Vertreterin des ISK“ nach Großbritannien. Auch die Tochter Renate folgte. Viele Jahre lebte Maria Hodann in Wohngemeinschaften des britischen ISK-Ablegers. Mit Beginn des 2. Weltkriegs setzte der ISK angesichts von Stalins Terror nur noch auf die Sozialdemokratie. 1950 arbeitete Maria Hodann in London für die Sozialistische Internationale, 1976 starb sie in London.
Die Biographien über die neun fast vergessenen Weddingerinnen erzählen über die je nach Quellenlage ausführlich dargestellten Einzelschicksale hinaus auch von den verpassten Chancen, die Machtübernahme der Nazis zu verhindern, von der Uneinigkeit der Linken Ender der zwanziger und zu Beginn der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts. Thematisiert wird die Wankelmütigkeit der SPD-Führung beim „Preußenschlag“ 1932, als die sozialdemokratisch geführte preußische Regierung als demokratisches Bollwerk abgesetzt und von der Zentralregierung unter Franz von Papen ersetzt wurde.
Die Geschichten geben aber auch Einblick in das Gemeinschaftsgefühl, das etwa in der neugebauten Friedrich-Ebert-Siedlung entstand. Und es wird sichtbar, wie die deutsche Politik und die Weltpolitik das Leben der mutigen Frauen im Wedding beeinflusst und verändert haben.
Walter Frey, Brunhilde Wehinger, Mut Hoffnung Widerstand – Politisch engagierte Frauen in Berlin-Wedding während der Weimarer Republik und NS-Diktatur, 252 Seiten, ISBN 978-3-946327-40-0, 20,– €, Band 10 der Reihe „Wedding-Bücher“ (2024)