Es ist sein erstes Buch und ein persönlicher Rücksturz in die Kindheit: Mit dem kleinen Geschichten-Band „Raumpatrouille“ hat nun nach Lars und Peter Brandt auch Matthias Brandt ein Buch veröffentlicht, das von der Familie und dem Alltag im Haus des berühmten Vaters berichtet.
„Andenken“ hatte Lars Brandt 2006 die Sammlung kleiner Beobachtungen überschrieben, in denen er dem wenig nahbaren „V.“ auf literarische Weise näher zu kommen suchte. 2013 erschien „Mit anderen Augen: Versuch über den Politiker und Privatmann Willy Brandt“, in dem der drei Jahre ältere Bruder Peter Persönliches und Politisches mit dem Blick des Historikers zusammenführte und verständlich machte.
Jetzt hat Matthias Brandt, 1961 in Berlin geboren, kleine und behutsame Geschichten veröffentlicht, die nicht nur persönliche Befindlichkeiten schildern. Sie zeigen auch, wie sehr sich das Leben Willy Brandts und der Familie mit den Jahren verändert hat. Der zehn Jahre nach Lars Brandt geborene Matthias erlebt – inzwischen in Bonn – eine völlig andere Kindheit als seine Brüder.
So taucht denn auch in der ersten Geschichte nicht der Vater auf, mit dem es erst in der letzten Geschichte eine zärtliche Begegnung gibt, sondern der Wachmann Bernd Stöckl, der dem von Langeweile geplagten Jungen ein wenig Unterhaltung bietet. Matthias Brandt erzählt vom Hund Gabor, der sein Beschützer war und auch mal die Wachleute bedroht hat. Es bleibt viel Zeit für Kopf-Abenteuer. Der jüngste Brandt-Sohn, der heute als Schauspieler einfühlsam in das Leben anderer schlüpft, bewegt sich als Kind in seiner eigenen Welt. „Wieder und wieder überlegte ich, ob es mich wirklich gab oder ob ich mir meine Existenz nur einbildete“, schreibt Brandt in der Geschichte „Kleiner Schritt noch“. Und hat schließlich Angst, dass er am Ende seines Nachdenkens verschwunden sein könnte.
Für zwanzig Mark, das Geld, das ihm seine Mutter für neue Schulbücher gegeben hat, ersteht er in der Spielwarenabteilung des Kaufhof eine Astronautenausrüstung, eigentlich mehr eine Art Pyjama mit gummierter silberfarbener Beschichtung, wie Matthias Brandt im Rückblick eingesteht. Egal, er behält sie gleich an, fährt im Raumanzug nach Hause, wo die Mutter mit ihm schimpft. Er aber ist der vierte Mann bei der Mondmission. Beim Friseur lässt er sich den passenden Mecki schneiden. Natürlich liebte er seine Mutter, schreibt Brandt, „aber jetzt, mit sieben, wurde es Zeit, endlich auf eigenen Beinen zu stehen und mein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen“.
Mit der Mutter fährt Matthias Brandt nach Norwegen, ein Land bevölkert von Onkeln und Tanten. Er beobachtet die Passagiere auf der Fähre: „Waren sie ebenfalls auf dem Heimweg, wie meine Mutter? Oder kamen sie von zu Hause, wie ich?“
Mit einem Nachbarn, dem Herrn Lübke, der dem damals noch Vierjährigen einen riesigen Stoffelefanten geschenkt hatte, trifft sich Matthias Brandt, schick gemacht, auf eine Schokolade. Der vergessliche alte Bundespräsident und das Kind – sie haben eine ähnliche Wahrnehmung der Umgebung.
Und dann ist der Vater doch einmal dabei: Familienausflug zur Kirmes. Im Gefolge: unzählige Fotografen. Matthias Brandt, der sich ein paar Lose kaufen will, bekommt einen ganzen Topf voll und muss so lange das Papier aufreißen, bis er endlich einen Gewinn hat. Oder der Fahrradausflug mit dem Vater, bei dem auch ein Herr Wehner dabei ist. Der Vater kämpft mit dem ungewohnten Beförderungsmittel, verliert den Kampf schließlich in einem Möhrenbeet. Matthias Brandt hat das Gefühl, nicht genug auf seinen Vater aufgepasst zu haben.
Vieles sind einfach Jungsgeschichten. Und manchmal vergisst man für einen Moment, wer der Vater war.
Matthias Brandt, Raumpatrouille, Kiepenheuer&Witsch 2016, ISBN: 978-3-462-04567-3, 176 Seiten, gebunden mit SU, 18 Euro