Es war eine Begegnung, die ihr Leben veränderte. 1925 traf die 21jährige Walentina Nikitina, aufgewachsen in bürgerlichen Verhältnissen in St. Petersburg, auf den deutschen Maler Otto Nagel. Nagel nahm in Walentinas Heimatstadt, die seit 1924 Leningrad hieß, gerade an einer Ausstellung von rund hundert deutschen Künstlerinnen und Künstlern teil. Sie waren gekommen, um mit ihrer Kunst die aufstrebende Sowjetunion zu unterstützen. Walentina und Otto Nagel heirateten Hals über Kopf. Über ihr Leben und ihre Liebe zu Otto Nagel hat Walli Nagel ein berührendes Buch geschrieben, das unter dem Titel „Das darfst Du nicht“ im Verlag Walter Frey eine verdiente Neuauflage erlebt hat.
„Das darfst Du nicht“ – dieser Satz begegnet ihr zu Hause, in der Schule, in der Kirche. „Und ich wollte doch so gerne wissen, wann es endlich so weit ist, dass ich darf“, erinnert sich Walli Nagel. In ihrem Buch erzählt sie von ihrer Kindheit und Jugend und von ihrem Leben mit Otto Nagel.
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Walentinas Vater ist drei Monate vor ihrer Geburt verstorben, Ihre Mutter versorgt sie und fünf Brüder. Im Haushalt gibt es 3000 Bücher, die ihre Neugier ein wenig stillen. Ihre Heimatstadt erscheint ihr als die schönste Stadt der Welt. Die politischen Umbrüche im Land machen Hoffnung auf mehr Gerechtigkeit. Vier der sechs Geschwister werden Kommunisten.
Walentina interessiert sich für Kunst, für Musik, Schauspielerei und Malerei und steht am Beginn einer Theaterkarriere. Die zwanziger Jahre sind von Hunger und Mangel geprägt. Als die deutsche Kunstausstellung eröffnet wird, geht es in Russland gerade wirtschaftlich etwas aufwärts. „Man konnte wieder Brot, Kleider, Schuhe kaufen“, so Walli Nagel.
Die zahlreichen Besucher der Ausstellung bekommen realistische Bilder zu sehen, Menschen gekennzeichnet von Not und Armut. All das, „was wir eigentlich gar nicht mehr sehen wollten“, so Walli Nagel. Die ungewohnten Bilder haben aber etwas Revolutionäres. Ein deutscher Künstler veranstaltet Führungen und erläutert die Bilder: Otto Nagel. Für Walentina, die aufstrebende junge Schauspielerin, ist er der erste Deutsche, der ihr begegnet. Mit dieser Ausstellung, so notiert sie, findet sie nicht nur Zugang zur neuen deutschen Kunst, „sondern auch die tiefe Liebe zu einem wunderbaren Menschen“.
Als Otto Nagels Ehefrau kommt sie 1926 mit ihm im Berliner Wedding an. Es ist eine fremde und unerwartete Welt. Der berühmte Künstler wohnt in ärmlichsten Verhältnissen. Und vor dem Haustor begrüßt ein kleines Mädchen den Vater: Lotte, Otto Nagels neunjährige Tochter. Die winzige Wohnung ist im Hinterhof und auch der Schwager wohnt darin. Ihr, der kaum Deutsch sprechenden Russin, begegnen Vorurteile: „Von mir erwartete man, dass ich literweise Wodka trinke, hundert von Zigaretten, wenn nicht gar Zigarren, rauchte, und dass ich meinen Mann betrügen würde.“ Der Wedding ist für sie grau, bis zum 1. Mai, als plötzlich ein Meer von roten Fahnen zu sehen ist und sich Walli endlich heimisch fühlt.
Es ist die pragmatische Walli, die dem Maler Otto Nagel mit dem scharfen Blick und seinem Gefühl für soziale Missstände und Ungerechtigkeiten immer wieder die Arbeit ermöglicht. Sie organisiert ihm Leinwände und Farben, damit er an Ausstellungen teilnehmen kann. Sie kümmert sich um das alltägliche Überleben, während Otto unerschütterlichen Optimismus ausstrahlt. Der Verkauf seiner Bilder aber fällt ihm trotz aller Not schwer: Sie sollen nicht in Privatwohnungen verschwinden sondern Öffentlichkeit finden. In ihren Erinnerungen zitiert sie Otto Nagel: „Entweder sind die Bilder, die ich male, gut, ehrlich und für unsere Sache überzeugend, dann kann meine Kunst in keinem Spießersalon hängen – oder aber es wird eine Zeit kommen, wo meine Bilder in unseren Museen hängen. Dann werden sie an diese furchtbare Zeit erinnern und dafür sorgen, dass solches Elend nie wiederkommt.“
Otto und Walli Nagel engagieren sich in der KPD, sie pflegen die Freundschaft mit Heinrich Zille, Gabriele Münter oder Käthe Kollwitz. Der Verkauf von Bildern wird Anfang der dreißiger Jahre immer schwieriger, die Künstler tauschen ihre Arbeiten gegen Wintermäntel oder Pyjamas. Im Februar 1933 stürmen Nazis in Uniform die Wohnung, zerstören Bilder und Zeichnungen, einige nehmen sie mit. Walli Nagel geht drei Tage später in das Lokal der SS und SA, sie verlangt die entwendeten Bilder zurück und erhält sie tatsächlich.
1934 wird Otto Nagel verboten, in seinem Atelier zu malen. Nun entstehen seine Bilder vor Ort, im „Nassen Dreieck“, auf Hinterhöfen. Als Otto Nagel verhaftet wird, kämpft sie mit Erfolg für seine Freilassung.
Walli Nagel beschreibt, wie sich die Motive ihres Mannes ändern. Er stellt nun das „alte Berlin“ dar: „Er wollte ganz einfach zeigen, dass es in dieser schweren Zeit, wo Menschen durch Menschen totgeschlagen wurden, auch Blumen oder zum Beispiel einen Park gab. Er wollte den Leuten zeigen, dass es trotz allem noch Schönheit gab, damit sie nicht verzweifelten, damit sie wissen sollten, dass es eine andere Welt geben wird, für die es sich zu leben und auch zu kämpfen lohnte.“
In Forst in der Lausitz kommt 1943 die gemeinsame Tochter Sibylle zur Welt. Otto Nagel malt, Walli arbeitet im Krankenhaus. So überstehen sie die Nazi-Herrschaft und den Krieg. Walli Nagel beschreibt diese Zeit nicht. In einem kurzen Rückblick berichtet sie noch vom Besuch ihrer Heimatstadt Leningrad in den fünfziger Jahren. Entstanden ist dieser Text 1979, da ist Otto Nagel, von 1956 bis 1962 Präsident der Ost-Berliner Akademie der Künste, schon zwölf Jahre tot, gestorben in ihren Armen. „In meinem Mann sah ich etwas Großes, weil er absolut ehrlich war. Otto Nagel hat nie versucht, in irgendeiner schwierigen Situation seine Haut zu retten. Für mich war mein Mann alles“, schreibt Walli Nagel. 1983 ist sie gestorben.
Walli Nagel, Das darfst Du nicht, Von St. Petersburg nach Berlin Wedding, Erinnerungen, Band 2 der Reihe Wedding-Bücher, Verlag Walter Frey, Berlin 2018, 209 Seiten, ISBN 978-946327-10-3, 15 Euro.
leicht gekürzte Neuausgabe der 1981 im Mitteldeutschen Verlag erschienenen Fassung.
Danke für diese berührende Rezension, es freut mich sehr, dass die Biografie noch Interesse findet – ich habe als Kind in Walli Nagel eine fürsorgliche und überaus liebenswerte Großmutter gehabt. Ihre russische Seele war etwas ganz Besonderes!
Ich kann mich noch sehr gut an das Haus in Biesdorf erinnern – auch das Atelier von Otto Nagel – der Geruch der Ölfarben und was gab es nicht alles zu entdecken. Das war meine Begegnung mit meinem Großvater, wie gern hätte ich ihn kennen gelernt. Aber das Buch „Das darfst Du nicht“ hat mir die Tür zu der Welt von Otto und Walli Nagel geöffnet. Und wie stolz war ich, dass sie das Buch ihren Enkelkindern, so auch mir, gewidmet hat.