Zwölf Jahre NS-Diktatur haben Deutschland zerstört. Berlin ist zum Kriegsende eine Stadt voller Trümmer und Ruinen. Gegner des Nationalsozialismus kamen in den KZs ums Leben oder mussten ins Exil gehen. Dennoch finden sich schon in den ersten Tagen nach der Kapitulation Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten zusammen, um das Land, die Stadt und auch ihre Partei wieder aufzubauen.
Die Nachkriegsgeschichte der Stadt wird von der Berliner SPD entscheidend geprägt. Politiker wie Ernst Reuter und Willy Brandt geben den Menschen in beiden Teilen der Stadt Halt und Zuversicht. Die Erfahrungen von Verfolgung und Unterdrückung, die unsichere Situation der Stadt belasten und prägen die Berlinerinnen und Berliner ebenso wie die Mitglieder und Funktionäre der Berliner SPD. Und doch – oder gerade – entsteht in der Partei, die sich in der Konfrontation mit der KPD und später der SED zu bewähren hatte, und in der es eine innerparteiliche Linke zunächst schwer hat, sich zu behaupten, das Konzept einer neuen Ostpolitik, des Wandels durch Annäherung.
Die Geschichte der Berliner SPD ist ein wichtiger Teil der Stadtgeschichte mit all ihren Höhen und Tiefen. Wie selbstverständlich ergreifen in Berlin Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in den Stunden nach der Befreiung der Stadt 1945 die Chance, ihre Partei nach einer zwölfjährigen Zeit der Verfolgung und Unterdrückung wieder aufzubauen. Der Traum von einer einheitlichen Arbeiterbewegung, die eine bessere Gesellschaft errichten würde, ist rasch ausgeträumt, aus der Kooperation von SPD und KPD wird Konfrontation. Etliche Jahre ist die SPD für die Berlinerinnen und Berliner im Westteil ein Garant der Freiheit.
Viele unterschiedliche Positionen finden sich in der Berliner SPD wider. Neben überzeugten SozialdemokratInnen und SozialistInnen lockt ihre starke Position in den Bezirken und im Land auch manch einen Karrieristen an, neben strikten Antikommunisten kommen Anhänger der Studentenbewegung in die Partei. Auf charismatische Persönlichkeiten wie Ernst Reuter und Willy Brandt, die viele Jahre das Erscheinungsbild der Partei prägten, folgen innere Zerrissenheit und Streit. Ein langsamer Niedergang beginnt. Auf neue Herausforderungen wie die Hausbesetzungen der achtziger Jahre reagiert die Partei schwerfällig, ihre Integrationskraft geht verloren. Zudem spielen die bundespolitischen Entwicklungen auch in Berlin eine immer stärkere Rolle. Die Berliner SPD hatte ihre Sonderrolle verloren.
Unmittelbar nach Ende der Kriegshandlungen in Berlin beginnen ehemalige Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in verschiedenen Stadtteilen unabhängig voneinander mit dem Wiederaufbau der SPD. Eine einheitliche Arbeiterpartei, wie sie sich viele von ihnen wünschen, wird von den aus dem Moskauer Exil zurückgekehrten KPD-Funktionären zunächst abgelehnt.
In den letzten Apriltagen 1945 ist das Ende des Krieges absehbar. Trümmer und Ruinen bestimmen das Bild der Berliner Innenstadt, Folge zahlreicher schwerer Luftangriffe. Der Krieg wird nun dort geführt, wo er seinen Ausgang genommen hat. Mit dem 288. Luftangriff am Vormittag des 3. Februar 1945 haben mehr als 900 amerikanische Bomber große Teile von Kreuzberg und Mitte zerstört. 2500 Tonnen Bomben sind gefallen. Die Straßen sind weitgehend verlassen, kaum ein Haus hat dort noch ein Dach. Die Wehrmacht spricht von 2894 Toten, mehr als 100.000 Menschen werden allein an diesem Tag obdachlos. Es folgen weitere schwere Luftangriffe der US Luftwaffe am 6. Februar, am 18. März und am 10. April. An den zerstörten Hauseingängen finden sich Nachrichten über den Verbleib der ausgebombten früheren Bewohner.
Zehntausende deutsche und sowjetische Soldaten sterben bei den letzten großen Kämpfen vom 16. bis 19. April auf den Seelower Höhen, danach rückt die Rote Armee rasch auf Berlin vor. Britische Bomber fliegen am 19. April 1945 einen letzten Angriff auf die Hauptstadt. Dann schließt sich der Ring der Roten Armee um Berlin. Dicht über den Hausdächern greifen nun sowjetische Jagdflieger mit Maschinengewehren an. Das Heulen von „Stalinorgeln“, den sowjetischen Mehrfachraketenwerfern, ist zu hören. Der „Panzerbär“, eine letzte nationalsozialistische Zeitung, schürt die Angst vor den „bolschewistischen Unterweltkräften“ im „Schicksalskampf um Berlin“ und stellt noch am 28. April die Ankunft angeblicher Reservekräfte in Aussicht. Die allerdings gibt es längst nicht mehr.
Es sind Tage der Ungewissheit. Weit über zwei Millionen Menschen halten sich noch in der Stadt auf, über 4 Millionen waren es zu Beginn des Krieges. „Mit einem gewissen von Galgenhumor getragenen Fatalismus, hinter dem sich schon manche innere Verzweiflung verbirgt, sieht man allem weiteren entgegen“, so beschreibt der Bericht Nr. 25 der Abteilung „Wehrmachtspropaganda des OKW“, des Oberkommandos der Wehrmacht, am 10. April 1945[1] die Stimmungslage der Berliner Bevölkerung. Die teilweise verbreitete Hoffnung, dass Amerikaner und Briten die Stadt noch vor den sowjetischen Truppen erreichen, erfüllt sich nicht.
Pro Tag und Kopf gibt es im April 1945 243 Gramm Brot, 36 Gramm Fleisch, 18 Gramm Fett, 11 Gramm Nährmittel und wenige Gramm Käse, Quark und Zucker[2]. Nicht alle dieser Rationen sind überhaupt noch erhältlich. Stundenlang stehen die Berlinerinnen und Berliner vor den Geschäften an, zwischendurch von Tieffliegerangriffen in die nächsten Hauseingänge vertrieben.
Berliner Jugendliche werden in die letzten Kämpfe geschickt, Deserteure auf der Straße erhängt, Standgerichte verhängen eine Vielzahl von Todesurteilen. Hitler feiert am 20. April 1945, einem wolkenverhangenen und düsteren Tag, im Bunker unter der Reichskanzlei seinen Geburtstag. Zur gleichen Zeit dringen sowjetische Soldaten an der nordöstlichen Stadtgrenze vor. Über Berlin ist der Belagerungszustand verhängt.
Die überlebenden Hitler-Gegner in der Stadt hoffen auf ein schnelles Ende des Kriegs, auf eine Befreiung. Am 21. April erobert die Rote Armee Weißensee, am 23. April wird in Tempelhof, Steglitz und Zehlendorf gekämpft, Köpenick, Lichtenberg und Pankow sind erobert. Der U-Bahn-Verkehr wird eingestellt, zwei Tage später auch der letzte S-Bahn-Verkehr. 140 der 225 Brücken sind gesprengt. Hitler-Jungen sind bewaffnet in den zerstörten Straßen unterwegs, SA- und SS-Männer machen Jagd auf alle, die der Aufforderung der Roten Armee folgen und die weiße Fahne hissen. „Am 22. April sonntags früh um halb zwei kam die Gestapo, die Feldjäger, die Partei, um alle Männer aus den Kellern der ,Freien Scholle’ herauszuholen und zum ‚Volkssturm‘ zu holen“, erinnert sich Franz Neumann, späterer SPD-Landesvorsitzender, an die letzten Kriegstage in seiner Reinickendorfer Wohnsiedlung.[3]
Die Berlinerinnen und Berliner verstecken sich in den Luftschutzbunkern und in den Kellern der Wohnhäuser. Am 26. April rücken sowjetische Panzer in Wilmersdorf vor. „Das Infanteriefeuer nähert sich vom Breitenbachplatz her“, notiert Susanne Suhr[4] in ihrem Tagebuch[5]. Gegen 11 Uhr fährt ein russischer Panzer vorbei, die erste russische Patrouille dringt in den Luftschutzkeller in der Sodener Straße vor. Dort, im Haus Nummer 36, haben Susanne und Otto Suhr, Berlins späterer Regierender Bürgermeister, Zuflucht in der Wohnung von Otto Suhrs Mutter Clara gefunden. Ihre eigene Wohnung in der Kreuznacher Straße ist bei einem Luftangriff im April zerstört worden. Monatelang hat das Paar in Berlin in Angst gelebt. Otto Suhr, früherer Gewerkschafter und Sozialdemokrat, hat Kontakte zum Widerstand gegen Hitler, ist mit den Widerstandskämpfern Adolf Reichwein und Theodor Haubach befreundet und muss nach dem missglückten Attentat vom 20. Juli 1944 zeitweilig untertauchen. Seine Frau Susanne, wie er Journalistin und Autorin, ist in einer jüdischen Familie geboren worden und damit ständig von Deportation bedroht. In der Enge des Luftschutzkellers kommt ihr „noch einmal der Widersinn zu Bewusstsein, dass mit uns Tausende von Deutschen darauf warten, dass wir den Krieg verlieren“. Als die russische Patrouille Otto Suhr mitnehmen will, stellt sie sich schützend vor ihren Mann. Mit Erfolg. „Am anderen Tag“, notiert Susanne Suhr im Tagebuch, „werden im Nachbarhaus im Keller die Leichen von drei erschossenen Zivilisten gefunden.“
Fritz Neubecker, 41 Jahre alt, SPD-Mitglied seit Mai 1921, vor 1933 Funktionär und Mitarbeiter des Parteivorstandes, hat sich mit seiner Familie in den Bunker in Neu-Tempelhof geflüchtet. „Vor allem musste verhindert werden, dass sich der Volkssturm bzw. die Hitlerjugend, bewaffnet mit Panzerfäusten, in dem Bunker festsetzte, um Widerstand zu leisten, wodurch tausende von Menschen in Lebensgefahr geraten wären“, erinnert sich Neubecker.[6] Am nächsten Morgen geht er auf Erkundungstour und trifft im Rumeyplan zwei russische Offiziere, die er um den Schutz der Bunkerinsassen bittet. Zugleich weist er sie auf das Zellengefängnis Lehrter Straße hin, in dem sich noch politische Gefangene befinden, die befreit werden müssten[7]. „Trotz der immer noch nicht schussfreien Umgebung suchte ich in Alt-Tempelhof meinen politischen Freund Otto Burgemeister, den späteren Bürgermeister von Tempelhof, und andere politische Freunde auf, um mit ihnen die Lage, insbesondere die Besetzung des Rathauses Tempelhof, die Fühlungnahme mit der Ortskommandantur und den anderen politisch wirksam werdenden Kräften zu erörtern.“
Am 28. April sind Kreuzberg, Wilmersdorf und Spandau von der Roten Armee besetzt, in Mitte wird weiter erbittert gekämpft. Während in der Innenstadt noch Schüsse fallen, übernehmen sowjetische Soldaten in den Außenbezirken bereits die Versorgung der Bevölkerung. Brot und Kartoffeln werden verteilt, in Niederschönhausen organisiert die Ortskommandantur am 29. April im Brose-Park ein Volksfest mit Turngeräten und einer sowjetischen Militärkapelle[8]. „In Berlin herrscht Hunger. Brot gibt es überhaupt nicht. Die Einwohner schlachten die gefallenen Pferde aus und essen das Fleisch“, so schildert A. P. Schapalow, Angehöriger der Roten Armee, die Zustände.[9] Hitler nimmt sich am 30. April das Leben. Am 2. Mai, einem Mittwoch, ruft General Weidling, letzter Befehlshaber des Verteidigungsbereichs Berlin, zur sofortigen Einstellung der Kämpfe in der Stadt auf. „Jeder, der jetzt noch im Kampf um Berlin fällt, bringt seine Opfer umsonst“, heißt es in der Erklärung, die Weidling mit Generaloberst Tschuikow in dessen Hauptquartier am Schulenburgring 2 in Tempelhof unterzeichnet. Am 8. Mai tritt dann auch die mit allen Alliierten ausgehandelte bedingungslose deutsche Kapitulation in Kraft, unterzeichnet am 7. Mai in Reims und noch einmal in der Nacht vom 8. Mai in Karlshorst, dem Hauptquartier der 5. Armee der Sowjetunion, in deren Heimat zu dieser Zeit bereits der 9. Mai angebrochen ist.
75.000.000 Kubikmeter Trümmerschutt liegen auf Berlins Straßen und Grundstücken. „Im blendenden Licht der Scheinwerfer strömten während der ganzen vergangenen Nacht, bis weit in den Morgenhinein, Kolonnen deutscher Gefangener vom Zentrum des eroberten Berlin zu den Lagern in den Außenbezirken. Die Mehrzahl der Männer werden als halb wahnsinnig geschildert. Zerzaust, bärtig und schmutzig kamen sie mit weißen Armbinden aus Bunkern, Kanalisationsröhren, U-Bahn-Stationen und Trümmerbergen hervor“, so ein Augenzeuge.[10]
„Die Hitler kommen und gehen, das deutsche Volk bleibt bestehen“, wird Stalin auf Schildern, die in der Stadt aufgehängt werden, zitiert. Noch fehlt vielen der Glaube daran.
(wird fortgesetzt)
[1] Berlin 1945 Eine Dokumentation, herausgegeben von Reinhard Rürup, Stiftung Topographie des Terrors, 3. Aufl. 2001, S. 48
[2] Berlin 1945 Eine Dokumentation, S. 51
[3] Franz-Neumann-Archiv, Tätigkeitsbericht 1974-1978, Franz Neumann letztes Interview, Broschüre, S. 19
[4] Susanne Suhr, geborene Pawel, geb. 11. November 1893 in Lissa bei Breslau, gest. 12. Januar 1989 in Berlin, Ehefrau Otto Suhr, West-Berliner Regierender Bürgermeister
[5] Gunter Lange: Otto Suhr, Im Schatten von Ernst Reuter und Willy Brandt, Eine Biographie. Verlag Dietz Nachfolger, Bonn 1994, S. 105
[6] Manuskript „Stunde Null“ von Fritz Neubecker vom 20.4.1965, NL Fritz Neubecker im August-Bebel-Institut
[7] In der Lehrter Straße war u.a. auch Gustav Noske als Mitverschwörer des 20. Juli ohne Prozess inhaftiert. Der 76jährige wurde am 25. April 1945 aus der Lehrter Straße entlassen. Der umstrittene ehemalige Reichswehrminister, der 1920 nach dem Kapp-Putsch sein Amt niederlegen musste, spielte beim Wiederaufbau der SPD auch auf Wunsch Schumachers keine Rolle mehr, er starb am 30. November 1946 in Hannover.
[8] Zerstört, besiegt, befreit, Der Kampf um Berlin bis zur Kapitulation 1945, Berlin 1985, S. 213
[9] Zerstört, besiegt, befreit, Der Kampf um Berlin bis zur Kapitulation 1945, Berlin 1985, S. 216. Das Zitat ist einer Veröffentlichung in der Zeitung „Freies Deutschland“ des Nationalkomitees Freies Deutschland vom 24.5.1945 über die Zeit Ende April Anfang Mai entnommen
[10] Gasztony, Der Kampf um Berlin 1945, München 1985, zitiert nach Aufbruch in den Untergang, Berlin 1985, S. 141