Es ist der Mai 1945. Zwölf Jahre zuvor, Anfang 1933, hat die SPD in Berlin, der Viermillionenstadt, fast hunderttausend Mitglieder. Aber ihre Zahl verringert sich unter dem Druck der Nationalsozialisten. „Es ist im November 1932 gewesen, als ich dann in Reinickendorf auf die Wahlliste – die Wahl war zum 12. März 1933 festgesetzt worden – kam“, erinnert sich der spätere Berliner SPD-Vorsitzende Franz Neumann nach Kriegsende. „Ich war der 7. auf der Liste, für einen jungen Menschen ein hervorragender Platz. Als der 12. März aber kam, war ich der Spitzenkandidat, denn die sechs vor mir hatten schon auf die Wahl verzichtet.“[1] Vor allem Angestellte der Berliner Verwaltung treten aus Existenzangst aus. „Märzgefallene“ nannte man spöttisch all die, die zur Wahl 1933 auf die Seite der Nationalsozialisten wechselten, erinnert sich Manfred Omankowsky, dessen Eltern 1945 zu den Wiederbegründern der SPD in Reinickendorf gehören. „Der größte Teil der Mitglieder des Musikzuges des Reichsbanners aus Reinickendorf trommelte schon kurze Zeit später für die SA. Aus dem engeren Kreis meiner Eltern gab es jedoch wenig Abtrünnige. Im Gegenteil, die Funktionäre trafen sich in etwas kleinerem Kreis getarnt als Erwerbslosennachmittage weiterhin.“[2]
Während der zwanziger Jahre haben die Auseinandersetzungen zwischen SPD und KPD an Schärfe zugenommen. Im Herbst 1923 versucht die KPD die politische Krisensituation für einen bewaffneten Aufstand zu nutzen, der vom sozialdemokratischen Reichspräsidenten Friedrich Ebert mit Hilfe der Reichswehr beendet wird. Gewaltsame politische Aktionen, an denen SA und SS und oft auch der kommunistische Rote Frontkämpferbund beteiligt ist, führen im Dezember 1928 zu einem Demonstrationsverbot, das der sozialdemokratische Berliner Polizeipräsident Zörgiebel auch am 1. Mai 1929, dem traditionellen Kampftag der Arbeiterbewegung, aus Sorge vor gewalttätigen Unruhen nicht aufhebt. Die Polizei geht mit übertriebener Härte gegen Demonstranten vor und setzt Schusswaffen in Wohnstraßen ein, es sterben 33 Menschen, rund 200 werden verletzt. Für die KPD ist dies die Untermauerung dafür, ihr künftiges Hauptziel im Kampf gegen den sozialdemokratischen „Sozialfaschismus“ zu sehen. Im Juni 1929 beschließt sie diese Position auf dem 12. Reichsparteitag in Berlin-Wedding.
Die Angriffe auf die SPD erfolgen in den dreißiger Jahren von zwei Seiten: „Reichsbannerleute sind überfallen worden und Kommunisten riefen den schlagenden Nationalsozialisten zu: Immer feste drauflos“, berichtet der Berliner SPD-Bezirksvorsitzende Franz Künstler auf einer Wahlkampfveranstaltung der SPD am 4. November 1932[3]. Kommunisten stören SPD-Veranstaltungen und sie machen – wie schon beim Kampf gegen die sozialdemokratisch geführte Regierung Preußens – beim Streik bei den Berliner Verkehrsbetrieben gemeinsame Sache mit den Nazis. „Nur politische Absichten im Hinblick auf die Reichstagswahl haben Goebbels und Ulbricht zu gemeinsamen Vorgehen veranlasst“, so Franz Künstler[4]. Walter Ulbricht, der im Mai 1945 wieder eine führende Rolle in Berlin spielen wird, leitet zu dieser Zeit die KPD in der Reichshauptstadt, Goebbels ist Gauleiter der NSDAP.
Welche Absichten die KPD verfolgt, zeigt im Juni 1932 die Auseinandersetzung um die vom Sozialdemokraten Otto Braun im Freistaat Preußen geführte Minderheitsregierung aus SPD, Zentrum und DDP. Nachdem bei den Wahlen im April NSDAP (162 Sitze) und KPD (57 Sitze) zusammen mehr Mandate als Brauns Koalition erringen, schaltet der sozialdemokratische preußische Staatssekretär Hans Hirschfeld den kommunistischen Verleger Willi Münzenberg als Vermittler ein, um zu einem „Waffenstillstand“ mit der KPD zu kommen. Der aber findet bei seiner Parteiführung kein Echo. „,Moskau war der Überzeugung‘, so Münzenberg, ,dass die Erben des sehr schnell Bankrott machenden Nationalsozialismus allein die Kommunisten sein würden.‘“[5] Im Juli 1932 enthebt Reichspräsident von Hindenburg die geschäftsführende preußische Regierung per Notverordnung ihres Amtes („Preußenschlag“) und setzt Reichskanzler Franz von Papen als Reichskommissar ein. Es ist eine entscheidende Schwächung des föderalen Systems und der Sozialdemokratie.
„Wir hatten in den Betrieben“, so heißt es im Jahresbericht der Berliner SPD 1931[6], „bisher als Gegner in der Hauptsache Kommunisten. Ihre unverschämte Kampfesweise ist bekannt. Die verrückte Idee, dass man erst den Hauptfeind, die Sozialdemokratie, vernichten müsse, um dann der Reaktion zu Leibe zu gehen, hat verursacht, dass viele Proletarier die wirkliche Gefahr für die Arbeiterklasse übersehen haben.“
Die SPD kritisiert vor allem die zentralistische Struktur der KPD und ihre enge Einbindung in die Politik der Sowjetunion. Trotz aller Auseinandersetzungen bietet Franz Künstler der KPD, die die SPD seit 1928 als Hauptfeind sieht und als „Sozialfaschisten“ bekämpft, im Januar 1933 noch einmal einen „Nichtangriffspakt“ an. Im KPD-Zentralorgan Rote Fahne wird dies als „Verhöhnung des antifaschistischen roten Berlin“[7] zurückgewiesen.
Bei den drei Reichstagswahlen 1932 und 1933 sinkt zwar auch in der Hauptstadt der Stimmenanteil von KPD und SPD[8], zusammen liegen die beiden zerstrittenen Arbeiterparteien aber immer noch deutlich vor der NSDAP. Joseph Goebbels, seit 1926 NSDAP-Gauleiter, nutzt den Kampfbegriff vom „roten Berlin“, um die Auseinandersetzung zu schüren, der Straßenterror nimmt weiter zu. Die SPD hat in Neukölln und Spandau Hochburgen, die KPD im Wedding. Die NSDAP kann in den bürgerlichen Bezirken Steglitz und Zehlendorf Erfolge erzielen, bleibt aber im Bereich von Alt-Berlin (Mitte, Tiergarten, Wedding, Prenzlauer Berg, Friedrichshain, Kreuzberg) hinter ihren Erwartungen.
Am Dienstag, dem 7. Februar 1933 versammeln sich noch einmal rund 200.000 Berlinerinnen und Berliner zu einer Kundgebung der Eisernen Front – des gemeinsamen Bündnisses von Sozialdemokratie, Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, des Gewerkschaftsbundes ADGB und des Afa-Bundes der Angestellten sowie des Arbeiter-Turn- und Sportbundes (ATSB) – im Lustgarten. Am 19. Februar, einem Sonntag, marschiert das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold vom Wedding über die Chausseestraße zum Lustgarten. Mit dabei ist auch der Tempelhofer Sozialdemokrat Fritz Neubecker. Die Kundgebung endet mit Freiheitsrufen. Die Demonstrationen sind wie ein letztes Aufbäumen. Es herrschen Illusionen über die Dauer der Nazi-Herrschaft und der Druck zur Anpassung steigt. Immer wieder gibt es Überfälle auf SPD-Veranstaltungen, verletzte Reichsbanner-Männer, die für den Schutz der demokratischen Veranstaltungen sorgen wollen. Im Februar 1933 werden Mitglieder von SA, SS und Stahlhelm, die Feinde der Demokratie, zu Hilfspolizisten ernannt.
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Nach dem Brand im Reichstag in der Nacht zum 28. Februar 1933 werden Hunderte KPD-Mitglieder und Gewerkschafter verhaftet, viele noch in derselben Nacht. Die von der KPD bei der Reichstagswahl am 5. März errungenen Mandate werden annulliert. In einer bewegenden und mutigen Rede verteidigt der SPD-Vorsitzende Otto Wels am 23. März die parlamentarische Demokratie gegen das von den Nazis im Reichstag eingebrachte Ermächtigungsgesetz. Gegen die Stimmen aller anwesenden SPD-Abgeordneten – einige sind bereits in Haft – wird es angenommen und erlaubt der Regierung Hitler von nun an den Erlass von Gesetzen ohne Abstimmung mit dem Reichstag oder dem Reichspräsidenten.
Im Februar und März 1933 kommt es zu immer mehr Verfolgungen und Verhaftungen aktiver Mitglieder von KPD und SPD, zu Folter. SA-Mitglieder brechen am frühen Morgen des 27. Februar 1933 die Wohnung der sozialdemokratischen Bildungsreformers Kurt Löwenstein auf, richten erhebliche Zerstörungen an und schießen mehrmals auf die verschlossene Schlafzimmertür. Die SPD-Parteiführung hält dennoch weiter am Prinzip der Legalität fest. Mitglieder der Berliner SAJ, des sozialistischen Jugendverbandes, darunter Kurt Schmidt, Fritz Erler, Kurt Mattick oder Eberhard Hesse, denen die Bildung illegaler Einheiten der Jugend vorgeworfen wird, werden am 11. April 1933 aus der SPD ausgeschlossen. Sie sind zugleich Mitglieder einer schon Ende der zwanziger Jahre entstandenen Geheimorganisation, der „ORG“ oder „Neu Beginnen“, eine von dem charismatischen Vordenker Walter Loewenheim initiierte und konspirativ wirkende Gruppierung, die Mitglieder aus KPD und SPD vereinte, sie schulte und darauf vorbereitete, Widerstand gegen den Nationalsozialismus zu leisten. Einige der ausgeschlossenen SAJ-Mitglieder werden in der Nachkriegs-SPD wichtige Funktionen einnehmen.
Auf einer Reichskonferenz der SPD am 26. April 1933 lehnt Otto Wels einen Anpassungskurs, wie ihn die Gewerkschaften inzwischen fahren, entschieden ab und stellt dem eine andere Perspektive entgegen: „Es wäre ein hoffnungsloses Unternehmen, wenn man das Leben der Organisation durch Preisgabe der Idee zu erkaufen versuchte. Ist die Idee preisgegeben, dann stirbt auch die Organisation. Aber wird die Organisation durch Kräfte von außen zerschlagen, dann bleibt immer noch in Millionen Köpfen und Herzen die Idee, und sie sichert auch die Wiedergeburt der Organisation“, so Wels. Aber erst nach der Besetzung der Gewerkschaftshäuser durch SA und SS am 2. Mai beschließt der SPD-Parteivorstand, sicherheitshalber drei Vorstandsmitglieder ins Ausland zu senden.
Der Terror in Deutschland nimmt zu. Die emigrierten Parteivorstandsmitglieder legen Prag als Sitz des Parteivorstandes fest und wollen den Kampf gegen den Nationalsozialismus nun auch im Untergrund fortsetzen. „Sie machten damit deutlich, dass sie die Führung der in Deutschland nur noch, wie sie sagten, schein-legal existierenden Partei beanspruchten“, so der Historiker Siegfried Heimann.[9] Der Rest-Vorstand in Berlin unter Führung des ehemaligen Reichstagspräsidenten Paul Löbe folgt dem nicht. Als am 17. Mai der Reichstag einer Erklärung Hitlers zur Außenpolitik zustimmen soll, setzt Löbe – u.a. gegen den Widerstand des Abgeordneten Kurt Schumacher – die Teilnahme der SPD-Fraktion an der Sitzung und ihre Zustimmung zur Erklärung durch. „Die Abstimmung“, so Siegfried Heimann, „war eine Kapitulation gegenüber der Nazi-Diktatur, die sicherlich aus nur zu berechtigter Furcht vor einer neuen Terrorwelle gegen Sozialdemokraten erfolgte, von vielen Sozialdemokraten aber nicht gebilligt wurde.“ Selbst am 10. Juni stellt Löbe noch fest: „Wir dienen im Innern unserer Partei mehr.“ Der Versuch der „Löbe-SPD“, die sozialdemokratische Organisation zu erhalten, scheitert.
In der „Köpenicker Blutwoche“ vom 21. bis zum 26. Juni 1933 werden Hunderte von Gewerkschaftern, Juden, Sozialdemokraten und Kommunisten von der SA inhaftiert und gefoltert, mindestens 24 werden ermordet. Am 22. Juni 1933 wird auch die SPD verboten. Ihre Mitglieder werden aus dem öffentlichen Dienst entfernt. In den Gefängnissen werden Mitglieder der KPD und SPD gezwungen, andere Parteimitglieder und deren Anschriften zu nennen. „Ein Jungsozialist, Hermann Brome, wurde durch die Straßen Pankows getrieben“, erinnerte sich Kurt Düttchen 1947, „und jeder ihm bekannte Genosse, der es wagte, ihn anzusprechen, wurde gleich mitgenommen und von der SA im Keller des Amtsgerichtsgefängnisses untergebracht. Das Leben auf den Straßen in Pankow wurde von der tobenden SA überwacht.“[10]
Manche ehemaligen Mitglieder der SPD und ihrer Organisationen meiden Zusammentreffen. Einige passen sich an, einige gehen ins Exil. Etliche halten aber in den kommenden Monaten und Jahren weiter auch den Kontakt untereinander, organisieren sich in Gesangs- oder Sportvereinen und tauschen dort Informationen und illegal nach Deutschland geschmuggelte Schriften der SPD-Exilführung aus.
Die Strukturen der SPD werden mit dem Verbot zerschlagen, auf die Illegalität ist die SPD-Führung nicht vorbereitet. Es bleiben vielfältige persönliche Kontakte in der Nachbarschaft, vor allem in Wohnsiedlungen wie der „Freien Scholle“ in Reinickendorf oder der Hufeisensiedlung in Neukölln, in denen zahlreiche Mitglieder der SPD wohnen. Die Mitglieder des Tempelhofer Reichsbanners machen als Kleingartenverein getarnt im Juni einen Ausflug zum Werbellinsee, die Tempelhofer Familien Burgemeister und Neubecker, die 1945 die Wiedergründung der SPD im Bezirk vorantreiben, treffen sich zum Picknick im Wäldchen[11].
Zwischen Juli 1933 und 1936 bilden sich in Berlin mehrfach illegale Bezirksleitungen der SPD, deren Mitglieder – wie der Lichtenberger Alfred Markwitz oder der Kreuzberger Alfred Lowack – aber immer wieder verhaftet werden. In einigen Kreisen gibt es Kontakte zum Widerstand – wie bei Julius Leber, in dessen Schöneberger Kohlenhandlung Pläne für die Zeit nach dem Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 gemacht werden. Fritz Neubecker, der im August 1933 Dokumente und Geld der Jugendinternationale für Erich Ollenhauer nach Kopenhagen schafft, führt später trotz mehrmonatiger Haft in Berlin die illegale Arbeit fort, hält u.a. Kontakt zu Julius Leber, Wilhelm Leuschner, Theodor Haubach. Leuschner, ehemaliger stellvertretender Vorsitzender des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes, wird Inhaber einer Fabrik für Bierdruckapparate in der Kreuzberger Eisenbahnstraße 5, in der er auch andere Sozialdemokraten beschäftigt. Der Zehlendorfer Sozialdemokrat Richard Draemert, von 1921 bis 1933 SPD-Stadtverordneter, pachtet 1934 nach einer Haftzeit in der Strafanstalt Plötzensee eine kleine Eisdiele mit Bierschankerlaubnis am U-Bahnhof Krumme Lanke, die „Krumme Lanke-Baude“, in deren Hinterzimmer sich Sozialdemokraten und politisch und „rassisch“ Verfolgte unauffällig treffen oder kurzzeitig verstecken. 1945 ist Richard Draemert einer der ersten, die den Wiederaufbau der SPD in Zehlendorf in Angriff nehmen.
Sozialdemokraten finden immer wieder Möglichkeiten des Zusammentreffens. Zu Konzerten des Männerchors „Berliner Liederfreunde 1879“ kommen bis zu 6000 Zuhörerinnen und Zuhörer. In Kellern und Kohlenkisten werden Parteibücher, alte Vorwärts-Ausgaben und Fahnen versteckt, in Gärten werden SPD-Abzeichen und Schriften vergraben. Ist anfangs die Verbitterung der SPD-Mitglieder über das von ihnen so empfundene Versagen der Funktionäre noch groß, so kommt es ab 1935 in Berlin, so der Historiker Harold Hurwitz, zu einem „Prozess solidarischer Aussöhnung“[12] zwischen Mitgliedern und ehemaliger Führung, zum gemeinsamen Einrichten in der Realität – was den Neuanfang 1945 begünstigt.
Erstaunlich viele Berliner Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten finden den Mut, zu den Beisetzungen prominenter früherer Funktionäre zu kommen. Als im Mai 1936 die frühere Reichstagsabgeordnete Clara Bohm-Schuch auf dem Friedhof Baumschulenweg beigesetzt wird, nehmen den Berichten zufolge mehr als 5000 Menschen an der Trauerfeier teil. Der letzte Berliner Bezirksvorsitzende Franz Künstler hält eine Rede. Zur Trauerfeier von Franz Klühs, bis 1933 stellvertretender Chefredakteur des Vorwärts, kommen 1938 etwa 1000 Trauergäste.[13] Als Franz Künstler selbst am 10. September 1942 an den Folgen seiner Inhaftierung stirbt, folgen mitten im Krieg noch immer deutlich mehr als 1000 Menschen dem Sarg, einige Quellen sprechen sogar von etwa 3000.
Es sind zwölf Jahre, in denen die Zahl derer, die sich mit der Sozialdemokratie verbunden fühlen, durch Verfolgung und Krieg dennoch immer weiter sinkt. In der gemeinsamen Erfahrung der Verfolgung finden nicht wenige Kommunisten und Sozialdemokraten nun zusammen. Viele von ihnen sehen in der Spaltung der Arbeiterparteien eine Ursache für den Erfolg der Nationalsozialisten.
„Damals – in der Illegalität, und das hieß in der Vereinzelung – begann ein geistiger Wandlungsprozess, der vor alten Tabus nicht haltmachte, der neue Glaubensstärke gab. Denn der Sozialismus, den man vor 1933 in zahllose theoretische Betrachtungen aufgelöst hatte, wurde in der unmittelbaren Bedrohung wieder zum schlichten, aber alles umgreifenden Ziel: zur Befreiung vom Joch der Diktatur in jeder Form, als nationalsozialistisches Regime, als bürgerlicher Klassenstaat, als ,nurpolitische‘ Demokratie“, so beschreibt der Autor Albrecht Kaden, bis 1960 Sekretär von Fritz Erler, die Gefühle der in Deutschland verbliebenen Sozialisten und Kommunisten.[14] Es sind vor allem die Erinnerungen an die gemeinsame Partei August Bebels, an die einige Sozialdemokratie vor 1914, die die unterschiedliche Entwicklung und die Auseinandersetzungen der zwanziger und dreißiger Jahre verblassen lassen.
Einen Ausdruck findet diese Haltung in einem Manifest, das der im KZ Buchenwald inhaftierte Sozialdemokrat Hermann Brill zwei Tage nach der Befreiung am 13. April 1945 vorlegt. Darin fordern Brill und die Unterzeichner, das „Komitee der demokratischen Sozialisten des ehemaligen Konzentrationslagers Buchenwald“, eine Vernichtung des Faschismus, den Aufbau einer Volksrepublik, ein Ende der Ausbeutung von Werktätigen, Sozialisierungen in der Wirtschaft, den Kampf für Frieden und Humanität, aber auch die „sozialistische Einheit“. „Zur Vollendung der Einheit des Weltproletariats fordern wir die Aufrichtung einer alle sozialistischen Parteien umfassenden, arbeitenden und kämpfenden internationalen politischen und gewerkschaftlichen Organisation.“[15]
Eine Einschätzung, die die im Londoner Exil lebenden sozialdemokratischen Parteifunktionäre nicht teilen. Wohl auch, weil sie sich immer wieder heftigen Angriffen ausgesetzt gesehen haben: „Uns haben die hiesigen deutschen Kommunisten dauernd in Moskau denunziert“, schreibt Hans Vogel, seit 1933 Vorsitzender der SPD im Exil, rückblickend Mitte August 1945[16]. „Die ,Prawda machte sich diese Denunziation in großer Aufmachung zu eigen. U.a. nannte sie uns ,schamlose Verteidiger des deutschen Imperialismus und des Hitler-Regimes‘.“ Allerdings haben sich in London im März 1941 die SPD und die sozialistischen Gruppen Sozialistische Arbeiterpartei (SAP), Internationaler Sozialistischer Kampfbund (ISK) und Neu Beginnen zur „Union deutscher Sozialistischer Organisationen in Großbritannien“ zusammengeschlossen. „Die Tätigkeit der ,Union‘ war eine wichtige Vorbereitung der späteren Zusammenarbeit der Emigranten mit den in Deutschland verbliebenen sozialistischen Kräfte, als diese unter der Führung von Kurt Schumacher vereint die Arbeit am Aufbau Deutschlands nach 1945 aufnahmen“, so der Journalist und Abgeordnete Willi Eichler, der selbst im Londoner Exil gelebt hatte.[17]
In der Stockholmer Ortsgruppe der Exil-SPD, in der Willy Brandt seit Herbst 1944 Mitglied ist, werden Richtlinien für eine neue sozialistische Einheitspartei formuliert, in der alle demokratisch-sozialistischen Kräfte zusammenfinden sollen. Brandt, zuvor Mitglied der kleinen linkssozialistischen SAP, ist Mitunterzeichner einer Erklärung, in der – angesichts des Fortbestehens von SPD und KPD – Ende September 1944 der Eintritt seiner SAP in die SPD begründet wird: „Wenn die totale Einheit nicht zu verwirklichen ist und die Bildung einer dritten Partei nicht in Frage kommt, so müssen wir uns für die Einordnung in eine der beiden Parteien entscheiden. Dafür kommt unserer Meinung nach nur die Sozialdemokratie in Frage.“[18]
Hermann Brill, der im Juni und Juli 1945 während der kurzzeitigen amerikanischen Besatzung von Thüringen Regierungspräsident ist, erfährt rasch, dass seine idealistischen Vorstellungen über die Einheit von der sowjetischen Besatzungsmacht nicht geteilt werden. Bei deren Einzug wird er abgesetzt und zweimal kurzzeitig verhaftet. Mitgliedern der Berliner SPD-Führung gegenüber erklärt die Sowjetische Militäradministration ihre Ablehnung Brills im Sommer 1945 damit, dass er eine „andere Partei“ gründen wolle. Ende 1945 verlässt Brill aus Sicherheitsgründen die sowjetische Zone und ist von Juli 1946 bis September 1949 Chef der Hessischen Staatskanzlei.
(wird fortgesetzt)
[1]Franz Neumann, Arbeiterkind, Sozialdemokrat, Abgeordneter, Herausgeber: Abgeordnetenhaus von Berlin, S. 20
[2] Manfred Omankowsky, unveröffentlichtes Manuskript 1989, Archiv des Verf.
[3] Zitiert nach Ingrid Fricke, Franz Künstler, Verlag für Berlin-Brandenburg, 2016, Seite 328
[4] Franz Künstler, S.328
[5] Zit. nach Erich R. Schmidt, Meine Jugend in Groß-Berlin, Bremen 1988, S.173. Es handelt sich um Schmidts Abschrift aus einem Manuskript Hirschfelds.
[6] Jahresbericht 1931, Bezirksverband Groß-Berlin der SPD, S. 67
[7] Zitiert nach Ingrid Fricke, Franz Künstler, Verlag für Berlin-Brandenburg, 2016, Seite 328
[8] Wahlergebnisse für Berlin: Bei den Reichstagswahlen am 31. Juli 1932 erhält die NSDAP 28,7 % der Stimmen, SPD und KPD kommen jeweils auf 27,3 %. Bei den Reichstagswahlen am 6. November 1932 sinkt der Stimmanteil der NSDAP in Berlin auf 26,0 %. Die KPD erzielt 31,0 %, die SPD 32,3 % der Stimmen. Bei den Reichstagswahlen am 5. März 1933, nach dem Reichstagsbrand und der Verfolgung der KPD, stimmen in Berlin 34,6 % der Wähler für die NSDAP (43,9 % reichsweit), die KPD erhält 24,48 %, die SPD 21,73 %.
[9] Manfred Rexin, Siegfried Heimann, Paul Löbe – Ein politisches Leben in Tondokumenten, Herausg.: August-Bebel-Institut und Franz-Neumann-Archiv, S. 20
[10] Hans-Rainer Sandvoß, Widerstand in Pankow und Reinickendorf, S. 46
[11] Tempelhof 1933-1945, Broschüre zu einer Ausstellung der Gustav-Heinemann-Oberschule, Berlin, Januar 1983, S.51
[12] Harold Hurwitz, Die Anfänge des Widerstands, Teil I, Berlin 1990, S. 75
[13] Heinrich-Wilhelm Wörmann, Widerstand in Schöneberg und Tempelhof, Gedenkstätte Deutscher Widerstand, S.43
[14] Albrecht Kaden, Einheit oder Freiheit, 1964, S. 45
[15] Für Freiheit, Frieden, Sozialismus! Manifest der demokratischen Sozialisten des ehemaligen Konzentrationslagers Buchenwald, https://www.buchenwald.de/fileadmin/buchenwald/download/der_ort/ Manifest.pdf
[16] Albrecht Kaden, Einheit oder Freiheit, S. 96
[17] Willi Eichler, 100 Jahre Sozialdemokratie, herausgegeben vom SPD-Parteivorstand, Bonn 1963, S. 69
[18] Zitiert nach Peter Koch, Willy Brandt, Eine politische Biographie, Berlin 1992, S. 153