1945: Die Wiedergründung der SPD in Berlin (XIII)

Ausriss aus der Zeitung "Das Volk" August 1945

Ausriss aus der Zeitung „Das Volk“ August 1945

Am 2. August erscheint die erste Ausgabe des „Berliner“, einer Zeitung, die in der britischen Besatzungszone nun dienstags, donnerstags und sonnabends herausgegeben wird.  Auf der ersten Seite findet sich eine siebenzeilige Notiz über einen Wechsel im Polizeipräsidium: „Der neue Polizeipräsident ist Major Heinrich. Er ersetzt Oberst Markgraf, der von den Russen bald nach dem Einmarsch zum Polizeipräsidenten von Berlin ernannt worden war“, meldet „Der Berliner“. Der Wechsel allerdings findet nicht statt. Der Sozialdemokrat Karl Heinrich, ehemaliges Mitglied im Reichsbanner Schwarz Rot Gold und während der NS-Zeit acht Jahre lang in Zuchthäusern und Konzentrationslagern inhaftiert, wird am selben Tag ohne Angabe von Gründen verhaftet.

„Die neu aufgebaute Polizei war in der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und zunächst auch in ganz Berlin von Anfang an eine Domäne der Kommunisten, die sorgsam darauf achteten, dass sie unter sich blieben, und die wenigen ehemaligen Sozialdemokraten waren schnell entfernt“, so der Historiker Siegfried Heimann[1]. Als Polizeipräsident amtiert der frühere Hauptmann und Ritterkreuzträger der Wehrmacht Paul Markgraf, der 1943 bei Stalingrad in Kriegsgefangenschaft geraten war und mit der Gruppe Ulbricht nach Deutschland zurückkam. Er fügt sich den Vorstellungen der sowjetischen Geheimpolizei, der die Berliner Volkspolizei untersteht.

Seit Juni 1945 leitet allerdings der erfahrene Karl Heinrich, eingesetzt von der sowjetischen Militärverwaltung, die Berliner Schutzpolizei. 1929 war er stellvertretender Inspektionsleiter der Schutzpolizei der Polizeiinspektion „Unter den Linden“, die u.a. die Bannmeile um den Reichstag sicherte. Als überzeugter Verteidiger der Republik kommandierte er dabei auch harte Einsätze gegen Nationalsozialisten und Kommunisten  Der von Goebbels geprägte Begriff „Knüppelheinrich“ wurde während der KZ-Haft Heinrichs auch von kommunistischen Mitgefangenen gegen ihn verwendet.

Neben diesen lange zurückliegenden Vorbehalten gegenüber Heinrich gibt es 1945 auch neue: Heinrich will das Übergewicht der Kommunisten in der Schutzpolizei verringern, er sorgt dafür, dass erfahrene Sozialdemokraten in Führungspositionen bei der Schutzpolizei gelangen, etliche Polizisten treten in die SPD ein.  Die Polizei aber gehört zu den Bereichen, in denen die KPD ihre Dominanz behalten will. Eine Absetzung Heinrichs ist jedoch nur durch einstimmige Entscheidung der Siegermächte möglich.

Heinrich wird am 2. August von Polizeipräsident Markgraf zu einer Dienstbesprechung geladen. Dabei sei er, so Markgrafs spätere Erklärung gegenüber der Familie Heinrichs, von sowjetischen Offizieren aus dem Zimmer geholt worden. Markgraf beteuert, er habe erst am Abend festgestellt, dass Heinrich nicht zurückgekommen sei. Immer wieder fragen die Familie, die westlichen Alliierten und die SPD in den kommenden Wochen nach Heinrichs Verbleib. Am 6. August fordert der amerikanische Stadtkommandant Aufklärung über die Gründe für die Verhaftung Heinrichs. In der zwei Tage später von General Gorbatow übermittelten Antwort werden die teilweise widersprüchlichen Denunziationen, die offenbar aus Kreisen der KPD kommen, zusammengefasst: Heinrich stehe im Verdacht, Gestapo-Agent gewesen zu sein, als Polizeimajor sei er vor 1933 brutal gegen Demokraten  vorgegangen, im KZ habe er als Kapo Gefangene misshandelt, er sei im Besitz einer Waffe. Offenbar hatte Heinrich bei seiner Verhaftung tatsächlich eine Pistole in seiner Aktentasche.  Da dies auch der Polizei noch untersagt war, haben die westlichen Alliierten zunächst keine Handhabe für ein Eingreifen.

Otto Grotewohl fordert im September erneut erfolglos Aufklärung über den Verbleib Heinrichs und mehrerer weiterer verschwundener Sozialdemokraten. Gegen Heinrich wird Ende September ohne öffentliche Information ein  Prozess wegen bewaffneten Widerstands gegen die Sowjetunion und konterrevolutionärer Sabotage vorbereitet. Bevor es allerdings zu einem Prozess mit voraussehbarem Ergebnis kommt, erkrankt Heinrich. Am 4. Oktober wird er vom NKWD  in die Krankenstation des sowjetischen Speziallagers in Berlin-Hohenschönhausen überstellt, auch die Militärstaatsanwaltschaft erfährt davon nichts. Am 3. November stirbt Heinrich, beerdigt wird er in einem Massengrab.

Noch Wochen später gibt es unterschiedliche Mitteilungen zum Verbleib Heinrichs. „Bis zur Rückkehr von Major Karl Heinrich“ ordnet die Alliierte Kommandantur Ende Dezember 1945 die Einsetzung eines Stellvertreters an, am 25. April 1946 heißt es von sowjetischer Seite, Heinrich sei nach sowjetischem Gesetz schuldig und in ein Straflager geschickt worden. Während sich Grotewohl und Gniffke in den folgenden Jahren als Mitglieder der SED nur noch intern nach dem Schicksal Heinrichs erkundigen, bleibt der spätere SPD-Vorsitzende Franz Neumann beharrlich um Aufklärung bemüht. Der Fall Heinrich ist für ihn wie für viele Berliner Sozialdemokraten ein entscheidender Grund für das Misstrauen gegenüber der KPD. Franz Neumann schildert die Vorgänge1966, allerdings noch in Unkenntnis des frühzeitigen Todes von Heinrich, in einem Rückblick[2]: „Meine Opposition im damaligen Vorstand begann mit der Schilderung des Schicksals von Karl Heinrich. Ich verlangte im September bereits, dass sich Grotewohl, Fechner und Gniffke für seine Freilassung einsetzen sollten. Am 29. Dezember 1945 habe ich dann in der sehr lebhaft verlaufenden Sitzung des Bezirksvorstandes Grotewohl erneut die Frage über den Verbleib Karl Heinrichs vorgelegt, da inzwischen Freunde den Aufenthaltsort ermittelt hatten. Grotewohl gab zu, dass auch ihm bekannt sei, dass der Major Heinrich im Keller der Luisenstraße – dem Sitz der sowjetischen Zentralkommandantur – schmachtete. Er erzählte uns auch, dass Heinrich so verhungert sei, dass er wie ein Skelett wirke und einer seiner alten Freunde ihn kaum wiedererkannt hätte. ‚Aber macht um Gottes willen nichts in der Öffentlichkeit, sonst verschlimmert ihr das Leben der Inhaftierten.’ Inzwischen waren nämlich schon eine Reihe von politischen Funktionären verschleppte worden.“ Eine vollständige Aufklärung über Heinrichs Tod gibt es erst nach der Wende 1990. In der Berliner Polizei geben nach der Verhaftung Heinrichs Kommunisten den Ton an: Im Polizeipräsidium sind die führenden Offiziere KPD-Mitglieder, in den 22 Polizeiinspektionen gibt es nur 5 Sozialdemokraten in leitender Position.

Im Lichtenberger SPD-Vorstand wird die Politik des Zentralausschusses Anfang August kritisch gesehen. Auf mehr Sympathie stoßen eigenständige sozialistische Positionen wie die der Thüringer SPD oder das Manifest der demokratischen Sozialisten des ehemaligen Konzentrationslagers Buchenwald, über die am 8. August im Vorstand diskutiert wird. Dagegen wird der Aufruf des Zentralausschusses als kaum unterscheidbar vom kommunistischen gesehen. Gefordert wird die Einberufung einer Genossen-Versammlung von Groß-Berlin, um eine Neuwahl des Vorstands nach demokratischen Grundsätzen zu erreichen.  Fünf Tage später klagen gleich mehrere Funktionäre über die „Zweideutigkeit der KPD“.  Der Sozialdemokrat Seering, so vermerkt es das Protokoll, schildert „die Rücksichtslosigkeit der KPD bei Ausnutzung ihrer augenblicklichen Macht“. Der Vorstand beschließt, von gemeinsamen Kundgebungen mit der KPD solange abzusehen, bis sie die paritätische Besetzung leitender Positionen akzeptiert.

Mit der Wahl von Hermann Harnisch auf einer Versammlung der Kreisleiter erhält die Berliner Parteiorganisation am 9. August einen ersten Vorsitzenden, wenn auch noch nicht formal korrekt auf einem Parteitag gewählt. Als hauptamtlicher Sekretär soll Erich Lübbe die Parteiorganisation führen. Die ersten Kreisvorsitzenden sind alle männlich: Martin Kellermann (Mitte), Paul Hennig (Tiergarten), Robert Hensel (Wedding), Werner Rüdiger (Prenzlauer Berg), Willi Schwarz (Friedrichshain), Willi Kiaulehn (Kreuzberg), Karl Arndt (Charlottenburg). Erich Lezinsky (Spandau), Ludwig Wünsch (Wilmersdorf), Karl Hoffmann (Zehlendorf), Robert Knebloch (Schöneberg), Franz Büchel (Steglitz), Kurt Swolinsky (Tempelhof), Hermann Harnisch (Neukölln), Paul Ickert (Treptow), Karl Willam (Köpenick), Wilhelm Peters (Lichtenberg), Georg Heims (Weißensee), Fritz Schmidt (Pankow) und Franz Neumann (Reinickendorf).[3] „Die Arbeitsgemeinschaften der Frauen und der jungen Sozialdemokraten bildeten sich im Zuge des Wiederaufbaus der Abteilungen und Kreisverbände in der Regel spontan heraus“, so der Historiker Ditmar Staffelt[4].

Der Zustrom zur SPD bleibt ungebrochen. Der Kreis Treptow im sowjetischen Sektor führt in den ersten Monaten 1945 eine Statistik. Danach hat er im Juni 1945 1078 Mitglieder, im Juli 1307, im August 1553 und im September 1746 Mitglieder. Es sind vor allem Arbeiter, die den Weg zur Treptower SPD finden. Ihre Zahl steigt von 633 im Juni über 784 im Juli, 958 im August auf 1076 im September. Auch bei den Angestellten steigt die Zahl von 371 im Juni (Juli: 362, August: 429) auf 513 im September. Dagegen stagniert die Zahl selbständiger Handwerker im Sommer bei ganzen 19, die der Gewerbetreibenden  bei 37. Nur wenige Sozialdemokraten sind im Bezirksamt (28 im Juni, 24 im Juli bis September) oder den Ortsteilverwaltungen (28 im Juni, danach 41) beschäftigt. Hier verhindert vor allem die kommunistische Personalpolitik eine stärkere Beschäftigung von Sozialdemokraten, so der Historiker Harold Hurwitz[5]. Er sieht darin eine prägende Erfahrung der Sozialdemokraten.

Die erste Großkundgebung der „Einheitsfront der antifaschistisch-demokratischen Parteien Deutschlands“ findet am Sonntag, dem 12. August vormittags um 11 Uhr im Großen Sendesaal des Rundfunkhauses statt. „Was will die Einheitsfront“ ist das Thema, erster Redner nach dem Grußwort von Oberbürgermeister Werner ist der KPD-Vorsitzende Wilhelm Pieck.  Pieck macht die Erziehung im Untertanengeist und in „Knechtseligkeit gegenüber einer junkerlich-militaristischen Herrscherclique“ für den Erfolg des Nationalsozialismus verantwortlich. „In der kurzen Zeit enger Zusammenarbeit in der Einheitsfront hat sich nicht nur die Grundlage für ein Zusammengehen der Sozialdemokratischen und der Kommunistischen Partei gezeigt. Die Zusammenarbeit zeigte vielmehr auch den Weg, der das deutsche Volk wieder hochführen könne aus dem Unglück, in das die Verbrecherbande um Hitler Deutschland stürzte“, so Pieck. Die Kommunistische Partei, so betont er, verfolge „keine Sonderinteressen“.

Otto Grotewohl ist der zweite Redner. Er begrüßt gleich zu Beginn noch einmal die Absätze des KPD-Aufrufs, in denen es als falsch bezeichnet wird, Deutschland das sowjetische System aufzuzwingen und zitiert die Passagen, die die Aufrichtung einer „parlamentarisch-demokratischen Republik mit allen demokratischen Rechten und Freiheiten für das Volk“ fordern. Damit sei das Kriegsbeil zwischen der sozialdemokratischen und der kommunistischen Arbeiterschaft begraben worden. Grotewohl verweist auf den SPD-Aufruf, in dem von der organisatorischen Einheit der deutschen Arbeiterklasse  gesprochen wird. Statt wie in der Weimarer Republik mit ihrem „buntscheckigen Parteiensystem mit zentrifugaler Fliehkraft“  gebe es nun mit der Zusammenarbeit der vier Parteien eine „zum Mittelpunkt hinstrebende Anziehungskraft“. „Die Begriffe Schuld und Sühne bilden den einzigen klaren Ausgangspunkt für die Gestaltung der deutschen Politik“, so Grotewohl. Die Einheitsfront sei das Haus, „in das niemals wieder Volksfeinde, von welcher Seite sie auch versuchen wollen, störend einzudringen vermögen“.[6] Für die CDU sieht Andreas Hermes „die große Stunde für unsere Erzieher gekommen, um das Volk emporzureißen zu den göttlichen Sittengesetzen“, er drückt die Verbundenheit mit den jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern aus und betont die Hilfe durch die Alliierten. LDPD-Vertreter ist Dr. Waldemar Koch. Er plädiert dafür, weniger über die „Vergangenheit und mehr von der Zukunft“ zu reden. In Potsdam sei der Aufbau einer geordneten Verwaltung beschlossen worden, die Verantwortung dafür liege beim deutschen Volk. Einstimmig wird auf der Kundgebung eine Erklärung beschlossen, ein Aufruf zur Mitarbeit aller. Das deutsche Volk müsse die Verantwortung für die Folgen des Hitler-Krieges tragen, heißt es darin, und könne sich angesichts der Ungeheuerlichkeiten des Nazi-Regimes über die Härte der Bedingungen nicht beklagen. „Die Anerkennung Deutschlands als ein einheitliches wirtschaftliches Ganzes ermöglicht es dem deutschen Volke, eine Friedensindustrie aufzubauen und die landwirtschaftliche Produktion zu steigern.“

Bei einer Volkszählung zum 12. August 1945 werden in Berlin 2,7 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner festgestellt. In der russischen Zone leben 1.068.885, in der amerikanischen Zone 845.260, in der englischen Zone 490.817 und in der französischen Zone 379.150 Einwohner. Es gibt 69 Prozent mehr Frauen als Männer in der Stadt. Viele Berlinerinnen und Berliner sind von öffentlicher Unterstützung abhängig. In Treptow, einem Bezirk mit 93.000 Einwohnern, trifft das ein Fünftel: Rund 20.000 Rentner und sonstige Unterstützungsempfänger beziehen hier im Mai und Juni 1945 rund 650.000 Reichsmark.  Am 17. August verbietet die Alliierte Kommandantur den weiteren Zuzug nach Berlin ohne Genehmigung. Die zerstörte Stadt hat ihre Aufnahmekapazität erreicht, nachdem in den Tagen zuvor täglich 25.000 bis 30.000 Flüchtlinge aus den Ostgebieten gekommen sind.

Im Wedding, wo die Sozialdemokraten zwar mehr Verwaltungserfahrung mitbringen, aber weniger Einfluss haben,  versichert die KPD auf ihrer 2. Funktionärsversammlung im August, dass sie „ein absolut freundschaftliches Verhältnis zu allen Anhängern der sozialdemokratischen Partei“ herstellen möchte. Allerdings mokiert sie sich über den Anspruch der SPD nach gleichberechtigter Beteiligung im Einheitsausschuss des Bezirks. „Sozialdemokraten stellen innerhalb dieses Ausschusses in den Vordergrund paritätische Zusammensetzung aller Verwaltungspositionen. Aber hier gibt es keinen Kuhhandel. Entscheidend ist, der fähigste Antifaschist an die entscheidende Stelle.“[7]

Französische Truppen besetzen am 12. August die Bezirke Reinickendorf und Wedding. Mit Brigadegeneral de Beauchesne als Stadtkommandant im französischen Sektor ist die Alliierte Kommandantur komplett.

Einige Kinos, Gaststätten Cafés und Varietés haben inzwischen wieder geöffnet, innerhalb eines Monats nimmt die Stadt eine Million Mark an Vergnügungssteuer ein, was einem geschätzten Umsatz von zehn Millionen Mark entspricht. Dennoch bleibt die Versorgung der Stadt mit Lebensmitteln weiter eines der größten Probleme. Der SPD-Zentralausschuss berät darüber am 16. August, ohne dazu Beschlüsse zu fassen. In einer Entschließung nimmt das Führungsgremium nur Stellung zur Kapitulation Japans, mit der der Krieg auch in Asien endet: „Frieden bedeutet Leben. Frieden bedeutet Aufbau. Frieden bedeutet Hoffnung“, so der Zentralausschuss. Dr. Andreas Hermes, christdemokratischer Leiter des Ernährungsamtes, muss Ende Juli sein Amt aufgeben, der Befehlshaber der russischen Zone kritisiert dabei die bisherige Lebensmittelverteilung, Oberbürgermeister Werner schiebt die Versorgungsschwierigkeiten weitgehend auf Hermes.  Nachfolger wird am 1. August der Sozialdemokrat Gustav Klimpel, früherer Oberbürgermeister im sächsischen Freital. Größere Lieferungen von Fett, Mehl und Kartoffeln sind zugesagt, Gemüse und Kartoffeln stehen aber immer noch nicht in ausreichender Menge zur Verfügung. Ein Preisamt soll künftig Preissteigerungen bei Lebensmitteln, Kleidung oder Fahrpreisen kontrollieren.

Es ist nicht nur die sowjetische Besatzung Berlins, die den Blick der SPD nach Osten richten lässt. In einem Brief an den jungen Karl Germer[8] bekräftigt Grotewohl die Position des Zentralausschusses: „Danach sind wir im Prinzip nicht die Vermittlung zwischen zwei Systemen, sondern vielmehr geht unsere wirtschaftliche und politische Entwicklung nach dem Osten.“ Germer widerspricht Grotewohl, dass der Zentralausschuss sich für eine Ostorientierung ausgesprochen habe. Allerdings sieht er bei Grotewohl, Dahrendorf und dem Wirtschaftsexperten Gustav Klingelhöfer durchaus eine solche Neigung: „Ihre sämtlichen Überlegungen waren an die antiquierte Idee gebunden, dass nur der enge Kontakt zwischen dem ‚Industriestaat‘ Deutschland und dem ‚Noch-Agrarstaat‘ Russland ein solides Fundament für die gegenseitigen Sicherungen des Wiederaufbaues bieten könnte.“[9] Tatsächlich hat der Zentralausschuss in einem zunächst geheim gehaltenen Papier Ende August Klingelhöfers ökonomische Überlegungen zur Ostorientierung mit der Folgerung versehen, dass die SPD in der internationalen Politik die Partei derjenigen Weltmacht ergreifen solle, „deren Struktur den Faschismus als kriegerische Organisationsform einer Nation ausschließt“.  Bei einer Wahl zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten falle die Entscheidung daher zugunsten der Sowjetunion.[10] In der praktischen Politik spielen diese Überlegungen allerdings keine Rolle, sie finden auch keinen Eingang in die Reden Grotewohls.

Der SPD-Zentralausschuss gründet am 17. August einen Sozialistischen Zentral-Kulturausschuss. Mit Grotewohl, Gniffke und Fechner sind alle drei Parteivorsitzenden beim ersten Treffen im Parteihaus dabei, Richard Weimann übernimmt den Vorsitz. Einzige Frau unter den 25 Mitgliedern ist Käthe Kern. Einer Kommission für Sozialistische Literatur und Schulung gehören der Pädagoge und Schulreformer Erwin Marquardt, Erich Winkler, der kommissarische Bibliotheksleiter Rudolf Hoecker, Erich Kirschner und der Journalist und spätere Chefredakteur des Neuen Deutschland Max Nierich an. In den Orts- und Bezirksorganisationen der Partei sollen SPD-Kulturobleute gewählt werden, die sich bei der „Sozialistischen Kulturzentrale“ in der Behrensstraße melden sollen. Der Befreiungskampf der Arbeiterklasse, so Weimann, sei ein „geistiger Kampf“, es gehe um ein „höheres Lebensideal“.

In der amerikanischen Besatzungszone nennt die Militärregierung Mitte August Vorbedingungen für die Zulassung von Gewerkschaften. Dazu gehören demokratische Wahlen und die Unabhängigkeit von möglicher Beeinflussung durch die Arbeitgeber. In der britischen Besatzungszone sollen nun drei Parteien zugelassen werden: die Sozialdemokratische und die Kommunistische sowie die Zentrumspartei.

Einheitsbestrebungen der Arbeiterparteien gibt es auch in anderen europäischen Ländern. Allerdings lehnt der Kongress der Sozialistischen Partei Frankreichs, so berichtet es die SPD-Zeitung „Das Volk“ am 14. August in einem Fünfzeiler auf Seite 1, einen Antrag auf Vereinigung der Sozialistischen und der Kommunistischen Partei mit klaren 6014 gegen 2718 Stimmen ab. Der italienische Sozialistenführer Pietro Nenni, der beim Kongress in Paris anwesend ist,  spricht sich zwar – ohne einen Zeitpunkt zu nennen – für eine Vereinigung der italienischen Sozialisten und Kommunisten aus, seine Partei lehnt eine Fusion aber auf einer Tagung in Rom ebenfalls ab.

Otto Grotewohl hält dagegen weiter an der bisherigen sozialdemokratischen Position fest: Die Arbeiterschaft müsse aus der Vergangenheit lernen, dass die Einheit eine Notwendigkeit sei, stellt er auf einer öffentlichen Veranstaltung am 31. August fest. Dass die Arbeiterparteien SPD und KPD noch getrennt marschieren, sieht Grotewohl als unumgängliche Etappe auf dem Weg zur großen und starken Einheitspartei.[11]

In einer kleinen internen Runde von Leipziger SPD-Funktionären spricht Otto Grotewohl am 26. August offen aus, was er in öffentlichen Reden nicht sagen kann. Grotewohl berichtet aus den vertraulichen Gesprächen mit  Marschall Schukow: Der habe ihm erklärt, aus Moskau den Auftrag erhalten zu haben, im Okkupationsgebiet ein demokratisches Staatsleben zu entwickeln. „Ich weiß genau, dass ich mich dabei in erster Linie nicht auf die kommunistische Partei stützen kann“, habe Schukow dem Sozialdemokraten gesagt, „sondern dass ich auf sie angewiesen bin, denn ich weiß, dass Sie die Massen hinter sich haben.“ Die Sozialdemokraten nutzen das, um auf drängende Probleme hinzuweisen, etwa die mangelhafte Lebensmittelversorgung, die Instandsetzung der Verkehrswege, aber auch die Sicherung der persönlichen Freiheit. Oft sei das in einer Form geschehen, „dass ich glaubte, wir würden aus dieser Verhandlung nicht nach Hause gehen“, so Grotewohl.[12] Schukow sei berichtet worden, es gebe Marodeure, die den Namen der Roten Armee beschmutzten, „Leute, die glauben, ein Recht zu haben, unsere Frauen zu schänden, wo und wie es ihnen passt, die ein Anrecht zu haben glauben, die Leute auf den Landstraßen anzuhalten, ihnen die Fahrräder wegzunehmen, sie auszuplündern und sie halbnackt weiterlaufen zu lassen“. Schukow habe zugesichert, durchzugreifen. Aus diesem Mut leitet Grotewohl einen Führungsanspruch der Sozialdemokratie ab. Denn die Vertreter der deutschen Bevölkerung, die die engste Verbindung zur sowjetischen Militäradministration haben sollten, seien, so Grotewohls Einschätzung, oft die „Unmannhaftesten“. Wenig Unterstützung findet Grotewohl bei der KPD auch, wenn es um die Frage der neuen Ostgrenze geht.  So sieht Grotewohl, möglicherweise in Überschätzung seines Einflusses auf die sowjetische Militäradministration, die SPD als wahren Statthalter nationaler Interessen. Zudem sei es die Sozialdemokratie, die befähigt sei, den Verwaltungsapparat wieder zum Laufen zu bringen.

Wer politisch tätig sein wolle, müsse sich aber den aktuellen Bedingungen unterwerfen, dazu gehört für Grotewohl auch die Erklärung der Alliierten vom 5. Juni, die die Grenzen politischer Betätigung aufzeigen. Jetzt kommt es, so Grotewohl, „auf die Fähigkeit und Geschmeidigkeit der Sozialdemokraten an, sich Einfluss in Randzonen zu erkämpfen“, indem sie die Bedingungen in der praktischen Verwaltungsarbeit so angenehm wie möglich zu gestalten sucht. Als taktvolles Abtasten sieht Grotewohl die Arbeit, Ziel bleibe aber, „für das gesamte deutsche Gebiet eine unter eigener Verantwortung arbeitende Reichsregierung“ zu schaffen. Wahlen „unter scharfer Trennung der Parteien“ sieht er als wichtiges Mittel auf dem Weg dorthin.  Das Ergebnis der Wahlen, so ist Grotewohl überzeugt, würde auch das Machtverhältnis zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten zugunsten der SPD verändern. Den Leipziger Genossen erläutert Grotewohl auch die Notwendigkeit, eine einheitliche Reichspartei zu schaffen, um an der Spitze der Neugestaltung Deutschlands zu stehen. Die SPD könne selbstbewusst auf ihre Geschichte zurückblicken, es gäbe auch mit Blick auf die Weimarer Zeit keine Notwendigkeit, die „Firmierung“ zu ändern, so wie dies einige Sozialdemokraten forderten.

Auch Karl Germer, jüngstes Mitglied im Zentralausschuss, führt offene Gespräche mit sowjetischen Offizieren. Dem russischen Major Bognitschow  erklärt Germer, er dürfe in den Deutschen, die ihm nun als politische oder gewerkschaftliche Partner gegenüberstünden, nicht einfach die Besiegten sehen. „In gewissem Sinne“, so Germer, „fühlten wir uns als Mitsieger, etwa im Range der Franzosen.“ Zwölf Jahre hätte man auch in Deutschland gekämpft, nur ohne Waffen und ohne Unterstützung. Germer berichtet von einer Vielzahl solcher Gespräche. „Manche der Deutschen fühlten sich dadurch sehr geschmeichelt und ich erinnere mich noch sehr gut daran, mit welcher Genugtuung sich so mancher leitende Sozialdemokrat in der so angenehmen Überzeugung wiegte, dass der Russe schließlich den Kontakt mit der SPD für wichtiger als die Brüderschaft mit der KPD halten könnte. Ich gebe zu, dass dieser Gedanke damals etwas Verlockendes hatte, da man aus ihm Pläne in die Zukunft hinein entwickeln konnte“, so Germer[13]. Es ist allerdings ein schwankender Boden, auf dem sich solche Gespräche abspielen.

(wird fortgesetzt)

 

[1] Siegfried Heimann, Karl Heinrich und die Berliner SPD, die sowjetische Militäradministration und die SED, Friedrich-Ebert-Stiftung, Gesprächskreis Geschichte Heft 70, Bonn 2007, S. 23
[2] Franz Neumann, Ein Rückblick, in: Verschwörung gegen die Freiheit . Wie die SED entstand. Erlebnisberichte, Bonn 1966, S. 21.
[3] Aufzeichnung von Fritz Neubecker Ende Juni/Anfang Juli 1945, vgl. Ditmar Staffelt, Der Wiederaufbau, S. 115
[4] Ditmar Staffelt, Der Wiederaufbau, S. 158
[5] Harold Hurwitz, Die Anfänge des Widerstands, Teil 1, S. 259
[6] Das Volk, 14. August 1945, S. 2
[7] Zitiert nach B. Kuster, R. Zilkenat, Hitlerfaschismus geschlagen – die KPD lebt und kämpft, Berlin 1985, S. 191/195
[8] Karl J. Germer Von Grotewohl bis Brandt, S. 87
[9] Karl J. Germer Von Grotewohl bis Brandt, S. 86
[10] Zitiert nach Lucio Caracciolo, Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Jahrgang 38, Heft 2, S. 293
[11] Berlin Kampf um Freiheit und Selbstbehauptung 1945-1946, Berlin 1961, S.165
[12] Zitiert nach Lucio Caracciolo, Vierteljahreshefte für Zeitgeschehen, Jahrgang 36, Heft 2, S. 290
[13] Karl J. Germer, Von Grotewohl bis Brandt, Landshut 1974, S. 77

Über Ulrich Horb

Jahrgang 1955, Journalist und Fotograf in Berlin
Dieser Beitrag wurde unter SPD-Geschichte abgelegt und mit , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert