Ben Wagin: die Kunst des Nicht-Künstlers

Ben Wagin 2005 in seinem Atelier in der Ackerstr. 76. Foto: Ulrich Horb

Ben Wagin 2005 in seinem Atelier in der Ackerstr. 76. Foto: Ulrich Horb

Nicht alle seiner Projekte haben die Zeit überdauert, aber sie haben nachhaltige Anstöße gegeben. Ben Wagin hat in Berlin nicht nur viele Spuren, Bilder und Ideen hinterlassen, er hat mit Nachdruck und Hartnäckigkeit für Veränderungen gesorgt.  Am 28. Juli 2021 ist er in Berlin im Alter von 91 Jahren gestorben.

Viele Bezeichnungen sind ihm zugeordnet worden. Aktionskünstler war eine der häufigsten, er wurde als Galerist, Bildhauer, Organisator, Umweltmahner vorgestellt. Seine Autobiographie, 2015 von Astrid Herbold aufgezeichnet, trägt ausgerechnet den Titel „Nenn mich nicht Künstler“.

Cover der Autobiografie von Ben Wagin

Cover der Autobiografie von Ben Wagin

Er könne mit dieser Bezeichnung, die in der Hauptstadt der Kreativen mittlerweile jeder Zweite wie einen selbstverliehenen Orden vor sich hertrage, nichts anfangen, so erzählt es Astrid Herbold. „Im Gegenteil: Er misstraut der selbstbeschränkenden Haltung, die in dem Begriff mitschwingt, genauso wie er dem Markt und den Museen misstraut, die diese Künstlerdefinition feiern und befeuern.“ Wagin, so Astrid Herbold, habe in den Künstlern vor allem Auftragsarbeiter gesehen, die in den Diensten bestimmter Gesellschaftsstrukturen standen.  Kunst habe Wagin als „Hure“ bezeichnet, die sich umso mehr herausnehmen könne, desto satter die Gesellschaft sei. Er habe das Wort „Künstler“ für sich nie in Anspruch genommen, sagt Wagin selbst in seiner Autobiographie: „Das Zeichnen, Schnitzen, Gestalten, das ist für mich eine erweiterte Geste, eine Reaktion auf etwas, was ich in einem Gespräch oder bei einer Begegnung empfinde.“

Lebensbaum: Wandgemälde am S-Bahnhof Tiergarten. Foto: Ulrich Horb

Lebensbaum: 1975 entstandenes Wandgemälde am S-Bahnhof Tiergarten. Foto: Ulrich Horb

Wagin hat in vielen Bereichen des Kunstbetriebs Erfahrungen gesammelt.  Als Bernhard Wargin wurde er am 25. März 1930 in Jastrow im heutigen Polen geboren. Erst viele Jahre später streicht er das „r“ in seinem Nachnamen, wohl um Anklänge an das englische Wort „war“ (Krieg) zu vermeiden. Als 14jähriger kommt er 1945 ins Oldenburger Land, er absolviert eine Tischlerlehre. Der Bildhauer Karl Hartung holt ihn 1957 an die Hochschule der Künste in Berlin. Im Keller des Hauses Joseph-Haydn-Straße 1 am S-Bahnhof Tiergarten findet er ein Zuhause, das bald auch Treffpunkt und Ausstellungort wird. Gemeinsam mit anderen Künstlerinnen und Künstlern rettet er das Haus vor dem Abriss, indem sie gemeinsam Treppenhaus und Eingangsbereich gestalten. Zwischen 1962 und 1972 betreibt er zunächst im Tiergartener Siegmunds Hof, später im Europacenter die „Galerie S Ben Wargin“, die der jungen Berliner Kunstszene Ausstellungsmöglichkeiten bietet. 1969 stellt er den Band „Kunst in Berlin. 1945 bis heute“ vor.

Lebensbaum am S-Bahnhof Savignyplatz. Foto: Ulrich Horb

Lebensbaum am S-Bahnhof Savignyplatz. Foto: Ulrich Horb

Lebensbaum am S-Bahnhof Savignyplatz. Foto: Ulrich Horb

Lebensbaum am S-Bahnhof Savignyplatz. Foto: Ulrich Horb

Lebensbaum am S-Bahnhof Savignyplatz. Foto: Ulrich Horb

Lebensbaum am S-Bahnhof Savignyplatz. Foto: Ulrich Horb

Wagin sorgt für Zusammenhalt und Austausch unter den Berliner Galeristen, ab Mai 1966 erscheint ein monatlicher Ausstellungsüberblick in Plakatform. Seine Galerie im Europacenter findet internationale Aufmerksamkeit, er ist erfolgreich. Dann gibt er alles auf, schließt 1972 die Galerie und fährt mit einem Bus durch Berlin und Westdeutschland, um Gingko-Bäume zu pflanzen und Kunst aus Müll zu erschaffen.

Gingko-Bäume sind lebende Fossilien, sie können bis zu tausend Jahre alt werden. Wagin hat Gingko-Bäume auf dem Gelände der Humboldt-Universität entdeckt, als er nach Berlin kam. Ihre Widerstandsfähigkeit und Überlebenskraft machen sie wohl für Wagin zum passenden Symbol für seine Aktionen zum Umweltschutz.

Politik und Umwelt beschäftigen Wagin schon seit langem. In den fünfziger Jahren pflanzt er auf einer Brache am Reichstag die ersten Bäume, 1967 findet die erste offizielle Baumpflanzung am Europacenter statt, eine Platane. Wagin beobachtet die Gesellschaftsentwicklung in West-Berlin kritisch, und er ist 1961 beim Bildhauersymposium dabei, das den Protest gegen den Mauerbau der DDR ausdrückt und eine „Mauer aus Kunst wider alle Mauern der menschlichen Tyrannei“ schaffen will.

Friedensbotschaft. Foto: Ulrich Horb

Friedensbotschaft. Foto: Ulrich Horb

Wagin ist bei seinen Forderungen direkt und hartnäckig, er sagt, was er denkt. Das trägt ihm ab und an auch ein Gerichtsverfahren ein. Er duzt Senatoren, Kulturstaatsministerinnen oder Regierende Bürgermeister. In Zeitungredaktionen meldet er sich telefonisch, ohne seinen Namen zu nennen: „Du, ich hab da wieder was.“ Man muss ihn kennen. Seine Kleidung zeigt, dass er sich nicht als Künstler sondern als Kunstarbeiter versteht: er trägt Overall oder Latzhose und eine Schiebermütze, an der ein Gingkoblatt befestigt ist.

Lebensbaum am S-Bahnhof Savignyplatz. Foto: Ulrich Horb

Lebensbaum am S-Bahnhof Savignyplatz. Foto: Ulrich Horb

Lebensbaum am S-Bahnhof Savignyplatz. Foto: Ulrich Horb

Lebensbaum am S-Bahnhof Savignyplatz. Foto: Ulrich Horb

In den siebziger Jahren gewinnt der Umweltschutz an Bedeutung, Vorreiter Wagin findet Anerkennung für seine Arbeit, aber er lässt sich nicht einfach einordnen. Wagin sammelt Baumpaten um sich. Schätzungsweise 50.000 Gingkobäume sind über die Jahrzehnte in Europa auf seine Initiative gepflanzt worden.

1975 zeichnet Ben Wagin für das erste große Fassadenbild Berlins verantwortlich. Es entsteht gemeinsam mit weiteren Künstlerinnen und Künstlern wenige Schritte  von seiner Wohnung an der Brandmauer des Hauses Siegmunds Hof 21 und zeigt den „Lebensbaum“.  Als das Bild 2018 hinter einem Neubau zu verschwinden droht, übertragen es Künstlerinnen und Künstler  im  Mai 2018 auf eine Mauer an der Lehrter Straße 27-30 in Moabit. Der Lebensbaum, im Bild von einem Auspuff bedroht, zeigte sich überlebensfähig.  1985 entstand der zweite Lebensbaum am S-Bahnhof Savignyplatz. Unter dem großformatigen Baum ist eine kleine Galerie angebracht. Fahrgäste sehen durch die Scheiben des Zugs direkt auf eine Reihe von Bildern. Auch dieser Lebensbaum könnte im Rahmen von Sanierungsarbeiten verschwinden.

Mit dem „Parlament der Bäume“ unweit des Reichstags schuf Wagin 1990 einen Ort der Erinnerung für die Mauertoten. Jahrelang kämpfte er mit immer neuen Aktionen für den Erhalt, der Umzug der Bundesregierung und des Bundestags nach Berlin veränderte das Projekt noch einmal. 2017 wurde der Ort unter Denkmalschutz gestellt.

1998: Wagin-Ausstellung im Lindentunnel. Foto: Ulrich Horb

1998: Wagin-Ausstellung im Lindentunnel. Foto: Ulrich Horb

1998: Wagin-Ausstellung im Lindentunnel. Foto: Ulrich Horb

1998: Wagin-Ausstellung im Lindentunnel. Foto: Ulrich Horb

1998: Wagin-Ausstellung im Lindentunnel. Foto: Ulrich Horb

1998: Wagin-Ausstellung im Lindentunnel. Foto: Ulrich Horb

Er arbeitete in der ganzen Stadt, er pflanzte, sammelte historische Bruchstücke, die er dann im Kontrast mit der Natur zeigte. Es waren große Orte in der Stadt, an denen Wagin mit Ausstellungen für Nachhaltigkeit und einen schonenden Umgang mit der Natur warb. Er nutzte zwischen den achtziger Jahren und 2006  Hallen in der Ackerstraße 76 als Atelier und Ausstellungsort, machte von 1993 bis 1996 den Lindentunnel, eine teils zugeschüttete Unterführung der Straße Unter den Linden,  zum Ausstellungsort, zog dann zum ehemaligen Anhalter Güterbahnhof neben dem Technikmuseum um, wo er mit seinen Installationen zum Nachdenken über Umwelt und Kunst sorgte.

Am 28. Juli 2021 in Berlin starb Ben Wagin in Berlin. „Mit Ben Wagin verlässt uns ein Künstler ganz eigener Art“, erklärte Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller. „Berlin sähe ohne sein Lebenswerk und sein nachhaltiges Engagement für die Großstadtnatur anders aus: ohne seine Baumpflanzungen, ohne seine Denkmale, ohne seine Interventionen.“

 

Ben Wagin: Nenn mich nicht Künstler.Autobiografie, aufgezeichnet von Astrid Herbold. Ch. Links, Berlin 2015, ISBN 978-3-86153-813-4.

Über Ulrich Horb

Jahrgang 1955, Journalist und Fotograf in Berlin
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