In den Clubs in Mitte oder Friedrichshain kann man heute bis in die Puppen tanzen, in den schicken neuen Hotels bis in die Puppen schlafen. Über 200 Jahre hat sich in Berlin eine Redewendung erhalten, die für etwas sehr lange andauerndes und entferntes steht. Auch wenn es „die Puppen“ schon lange nicht mehr gibt.
Berlin war im 18. Jahrhundert klein und überschaubar, eine Akzisemauer umgab als Zollgrenze das Stadtzentrum um die heutige Museumsinsel und einige kleine Vorstädte. Vor der Stadt lagen Felder, Wiesen und Wälder. „Hinter dem früheren Venusbassin, späteren prosaischeren Karpfen-, dann Goldfischteich, linker Hand vom Wege wucherte es von Schafgarben, Winden, Farrenkräutern, Schierling und Wolfsmilch. Es war die volle Vegetation des Sumpfes. Eidechsen huschten unter den hohen Gräsern dahin“, so beschrieb der Schriftsteller Karl Gutzkow (1811 – 1878) in seinen Erinnerungen an die Knabenzeit den Tiergarten um 1820. „Rechts hatte man den Blick nach dem Schloß Bellevue, das sogar Delille besungen hat, und der viel bewunderten bronzenen Kanone, welche Prinz August (ein berühmter Held auch in der Prusse galante) eigenhändig von den Franzosen erobert haben soll.“
Hier im Tiergarten zwischen den Städten Berlin und Charlottenburg lag das, so Gutzkow, „freundliche Rondeel“, ein kreisförmiger Platz, umgeben von Hecken. Angelegt wurde er Ende des 17. Jahrhunderts als „Jagdstern“ mit entsprechenden Sichtachsen, um das Revier zu erschließen. Knobelsdorf baute ihn dann ab 1740 aus, als er den Tiergarten neu gestaltete und das kurfürstliche Wildgehege zur Parkanlage wurde, zu einem „Lustpark für die Bevölkerung“. Die bislang dort gehaltenen Fasane fanden auf dem heutigen Zoogelände eine neue Unterkunft. Am Rande des Tiergarten, dort wo heute die Kongresshalle steht, wurden Zelte aufgebaut, in denen Erfrischungen gereicht wurden. Immer mehr Gastwirtschaften kamen hinzu, ein Vergnügungsviertel entwickelte sich in den Zelten, eine Attraktion für die Berliner.
In dieser Zeit wurden am Großen Stern sechzehn Sandsteinfiguren griechischer Gottheiten aufgestellt, die vom Langen Stall in Potsdam kamen, einem Reit- und Exerzierhaus. Das nachgiebige Material hielt den Anforderungen und dem Vandalismus nicht stand. Als Gutzkow sie einige Jahrzehnte später sah, waren die Steinfiguren „finger- und nasenlos“.
Von den Berlinerinnen und Berlinern hatten die göttlichen Figuren den Spitznamen die „Puppen“ bekommen, der Platz wurde entsprechend „Puppenplatz“ genannt, „sonst aber schon zu Knobelsdorffs Zeiten poetischer der ,große Stern‘“, hielt Gutzkow fest. Seine Erinnerungen: „Weiterschreitend mehrte sich die Sumpfvegetation. Lazerten, Frösche huschten vor den Frühwanderern in ein Dickicht, wo auf moorigem Boden die fächerpalmartigen Farnkräuter sich streckten, die lockenden Blüten der giftigen Aaronswurzel auf schwarzbraunem Stengel sich wiegten, gelbweiße große Pilze sich von einem inzwischen abgebrochenen grünen Wanderstecken eine rasche Zerstörung gefallen lassen mußten.“
Für die Berlinerinnen und Berliner war der „Puppenplatz“ ein beliebtes Ziel für Spaziergänge. Vom Stadtzentrum aus war es allerdings eine lange Strecke. Man lief bis in die Puppen.
1829 verschwanden die unansehnlich gewordenen Figuren endgültig. An der Siegesallee im Tiergarten ließ Kaiser Wilhelm II. ab 1895 Marmordenkmale brandenburgischer und preußischer Herrscher errichten. Auf sie übertrug der Volksmund den Begriff der längst verschwundenen ursprünglichen „Puppen“. Da gab es allerdings schon die Pferdebahn, die ab 1892 zwischen Stromstraße / Turmstraße mit Halt am Großen Stern zum Lützowplatz fuhr. Der Tiergarten lag nicht mehr vor den Toren der Stadt. Und man musste nicht mehr „bis in die Puppen“ laufen.
Sein heutiges Aussehen bekam der Große Stern 1938, als die Siegessäule von ihrem angestammten Platz vor dem Reichstag abgetragen und am Großen Stern wieder aufgebaut wurde, versehen mit einem zusätzlichen Sockelelement.
Trotz aller Veränderungen des Platzes, wo die Love-Parade bummernd entlangzog, der CSD feierte und Barack Obama eine Ansprache hielt: Das sprichwörtliche „bis in die Puppen“ hat sich erhalten, auch wenn die Herkunft den wenigsten noch bewusst ist.