Die Kösliner Straße im Wedding ist nicht lang. Zwischen Wiesenstraße und Weddingstraße passten gerade 24 Häuser. Aber die Straße steht als Symbol für die Zerrissenheit der Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik, die letztlich das Erstarken des Nationalsozialismus begünstigte.
1860 wird der Wedding in Berlin eingemeindet, 1874 werden die Grundstücke im Bereich der Kösliner Straße aufgeteilt. Die Industrie wächst, die Maschinenbauindustrie und die aufkommende Elektroindustrie suchen zahlreiche Arbeitskräfte, Wohnungsbau verspricht gute Gewinne. Die Grundstücke wechseln oft mehrmals die Besitzer, werden immer teurer. Die Bauherren, Kleineigentümer, schließlich versuchen, diese Kosten und die Hypothekenzinsen über die Mietpreise hereinzuholen.
So viele Mieter wie möglich müssen deshalb untergebracht werden, die Bauordnung erlaubt Höfe von gerade einmal 6,30 mal 6,30 Metern. Die Bebauung ist eng, fünfgeschossig, mit Seitenflügeln, Quergebäuden, zum Teil mehreren Höfen mit Remisen und Ställen, es gibt keine Balkone und zunächst nur Plumpsklos auf dem Hof, erst später werden Podesttoiletten für mehrere Mietparteien eingebaut. Es sind kleine Wohnungen, zum Teil auch unselbständige Wohnungen mit einem Flur, den sich mehrere Familien teilen, die jeweils in Stube und Küche wohnen. Bis zum 1. Weltkrieg sind alle Häuser der Kösliner Straße fertiggestellt. Eine dann eingeführte Mietpreisbindung führt dazu, dass Hausbesitzer an den notwendigen Reparaturen sparen, um ihren Gewinn zu behalten. Die Häuser werden in den zwanziger Jahren systematisch heruntergewirtschaftet.
In den 25 Jahren nach der Jahrhundertwende wächst die Bevölkerung im Wedding von 140.000 auf 352.000 Menschen. Die Bewohner der Kösliner Straße entwickeln einen starken Zusammenhalt. Schon vor und während des 1. Weltkriegs gibt es im Wedding eine starke Friedensbewegung. Als sich die sozialdemokratischen Kriegsgegner als USPD von der Mehrheitssozialdemokratie abspalten, findet die neue Partei im Wedding großen Rückhalt. Die unmenschlichen Wohnverhältnisse, aber auch geringe Entlohnung und Arbeitslosigkeit, stärken den Wunsch nach Veränderung und politischem Engagement. Viele Hoffnungen richten sich auf die Ende 1918 gegründete KPD. Während sich in der Sozialdemokratie vor allem die Arbeiter und Handwerker organisieren, sind es in der KPD zunehmend Arbeitslose. Die Kösliner Straße wird zu einer Hochburg der Kommunisten, hier ist auch die Arbeitslosigkeit in den zwanziger Jahren besonders stark.
In der Kösliner Straße wohnen in den dreißiger Jahren 5173 BewohnerInnen in 4386 Zimmern. Auf einem Hektar, 100 x 100 Metern, wohnen 1270 Personen. In seinem Ende der zwanziger Jahre geschriebenen, allerdings erst Jahrzehnte später veröffentlichten Buch „Die weiße Taube oder Das nasse Dreieck“ hat der Maler Otto Nagel den Kampf um das Überleben beschrieben. Zwei Millionen Menschen leben in dieser Zeit in Deutschland ohne jede Unterstützung. Sie alle versuchen sich durchzuschlagen, ein paar Pfennige zu erbetteln, manchmal gibt es Gelegenheitsjobs. Not und Hunger gehören in vielen Familien zum Alltag. Zwischen 1929 und 1932 hat sich die Zahl der Arbeitssuchenden und Hauptunterstützungsempfänger in Berlin auf rund 600.000 mehr als verdoppelt. Überdurchschnittlich viele von ihnen leben im Bereich von Stadtmitte und dem Arbeitsamtsbezirk Nord.
Am 1. Mai 1929 entlädt sich die angespannte Stimmung in Straßenkämpfen, für die die KPD den Begriff „Blutmai“ prägt. Die Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstranten, Anwohnern und manchmal auch nur Passanten finden in den ersten Maitagen 1929 vor allem in Neukölln und im Wedding – und hier insbesondere in der Kösliner Straße – statt.
Vorausgegangen war im Herbst 1928 ein Demonstrationsverbot, das Provokationen der Nationalsozialisten verhindern sollte. Nach seiner Aufhebung kommt es bei einer Rede Hitlers im November 1928 erneut zu Straßenschlachten mit mehreren Toten. Der sozialdemokratische Polizeipräsident Karl Zörgiebel verbietet daraufhin wieder alle Kundgebungen unter freiem Himmel und hebt dieses Verbot auch nicht auf, als der 1. Mai, der Tag der traditionellen Maikundgebung, heranrückt – wohl auch, um zu zeigen, dass Sozialdemokraten Ruhe und Ordnung erhalten können.
Während die Sozialdemokraten in Sälen feiern beharren die Kommunisten auf einer öffentlichen Demonstration, wie das außerhalb Berlins erlaubt ist. Einerseits kann sie damit an der Tradition der Arbeiterbewegung festhalten und ihre Mitglieder für Proteste aktivieren, andererseits kann sie entsprechend den neueren politischen Vorgaben aus Moskau den Konflikt mit den Sozialdemokraten verschärfen, die inzwischen als „Sozialfaschisten“ und damit als Hauptgegner gelten. Von Berlin aus soll nach Vorstellungen der Kommunisten die Revolution nach Westeuropa getragen werden. Die Unruhen um das Demonstrationsverbot kommen daher wie gerufen.
Die in Berlin eingesetzten Polizisten sind großteils jung und unerfahren, sie waren tagelang kaserniert und kennen die Berliner Verhältnisse nicht. In der Polizeiführung wirken zudem Gegner der Republik. Als kleinere Gruppen von Kommunisten am 1. Mai auf die Straße gehen, reagiert die Polizei völlig überzogen, setzt Schlagstöcke und Wasserwerfer ein, ab Mittag schießt sie sogar scharf. Eines der ersten Todesopfer ist der Klempner Max Gemeinhardt, ein Sozialdemokrat, der vom Fenster seiner Wohnung im dritten Stock der Kösliner Straße 19 aus das Gespräch mit den Polizeibeamten suchen will und dabei erschossen wird.
Für den 2. Mai ruft die KPD zum Massenstreik auf. Allerdings schließen sich ihm mit 25.000 Menschen deutlich weniger an, als von der KPD erwartet. Polizei und Behörden reagieren erneut mit Härte und einem Verbot der kommunistischen Zeitung „Die Rote Fahne“. Am 3. Mai verbietet die Polizei den nächtlichen Aufenthalt auf der Straße und befiehlt Verdunklung. Sie schießt häufig scharf, insgesamt verbraucht sie 11.000 Schuss Munition. In den ersten Maitagen sind mehr als 30 Todesopfer zu beklagen, mindestens 198 Verletzte und 1228 Festnahmen. Nur ein Zehntel der Festgenommenen steht mit der KPD in Verbindung, viele Unbeteiligte sterben. Die Polizei meldet 47 Verletzte, keiner von ihnen hat eine Schussverletzung.
Schon direkt nach den Unruhen beginnt der Kampf um die Deutungshoheit. Sozialdemokraten sehen darin einen Putschversuch, die KPD verbucht den „Blutmai“ als Beweis, dass sich die Sozialdemokratie zum Hauptfeind gewandelt hat. Auf dem kurz darauf tagenden 12., dem letzten KPD-Parteitag in der Legalität, wird die Sozialfaschismus-These zur offiziellen Parteilinie. Die Polizei ihrerseits blockiert offizielle Untersuchungen und eine Fehleraufarbeitung. Der „Blutmai“ zementiert den Riss in der Arbeiterbewegung – zum Nutzen der Nationalsozialisten.
Die Kösliner Straße bleibt nach dem „Blutmai“ eine Hochburg der KPD. 1931 widmet ihr die Arbeiter-Illustrierte-Zeitung eine ganzseitige Reportage. Berichtet wird mit vielen Fotos über den Alltag der siebenköpfigen Bauarbeiterfamilie Fournes aus der Kösliner Str. 10, über die Suche von Mutter Fournes nach billigen Lebensmitteln, ihre Küchenarbeit, die Wäsche im Keller bei Petroleumlicht. Dreißig Familien müssen sich die Waschküche teilen. Die Familie Founes mit ihren fünf Kindern hat keine eigene Wohnung, sondern nur Stube und Küche an einem Hinterhofflur, der mit drei weiteren Familien geteilt wird. Das Plumpsklo nutzen sieben Familien.
Die KPD organisiert das Protestpotenzial im Wedding, die Sozialdemokraten setzen auf Neubauprojekte zur Verbesserung der Wohnungssituation, auf helle Wohnungen mit Bädern und Innentoiletten in Blöcken, die von Grünanlagen umrahmt sind. Die allerdings können sich nicht alle leisten. Zur Kommunalwahl am 17. November 1929 wirbt die SPD mit einer Sonderausgabe der Zeitschrift „Unser Weg“, die die kommunalpolitischen Errungenschaften beim Wohnungsbau, beim Verkehr und bei der Volksbildung illustriert.
Bei der Reichstagswahl im November 1932 erhält die KPD 64 % der Stimmen, die SPD 16,3 %, die NSDAP 18 %. Noch bei den letzten Wahlen 1933 erreicht die KPD im Wedding 93.000 Stimmen.
1933 erobert die Motorstaffel 10 der Berliner SA gewaltsam die „Rote Nachtigall“, das KPD-Stammlokal, und verübt von hier aus ihren Straßenterror. In der Hoffnung auf Arbeit erliegen etliche Kommunisten der Nazipropaganda und wechseln die Seite. Andere – wie den Friseur Wilhelm Neitzke (*1900), KPDler und Untermieter in der Kösliner Str. 20 – inhaftieren die Nazis.
Für die Nazis bleibt die Kösliner Straße eine Art feindliches Gebiet. 1936 beginnt Dr. Ing Erich Frank, Sachbearbeiter im Amt für Technik, Gau Berlin der NSDAP damit Pläne zur Sanierung zu entwickeln. , Nach und nach sollen Gebäudeteile (Quergebäude) abgerissen werden, um für mehr Licht und Luft zu sorgen. Später soll eine vollkommene neue Bebauung an die Stelle gesetzt werden. „Die politische Einstellung der Bewohner ist mit den Wohnungsbedingungen auf das engste verknüpft“, stellen die Nazis fest. Vor allem auf der eng bebauten Westseite sollen 10 Prozent der Bebauung abgerissen werden, auf der Ostseite der Kösliner Straße mit ihren etwas größeren Hinterhöfen soll zunächst alles so bleiben. Die Pläne werden durch den Kriegsbeginn nicht verwirklicht.
Im Krieg werden zahlreiche Häuser durch Luftangriffe zerstört, das letzte intakte Haus an der Ecke zur Weddingstraße wird 1984 abgerissen. Schon 1955 hat die Kleinwohnungsbau-Gemeinnützige Baugesellschaft die Grundstücke der Ostseite angekauft und bis 1962 hin zur Panke eine Anlage des Sozialen Wohnungsbaus errichtet. Die Stadt Berlin hat einen Geländestreifen entlang der Panke zur Anlage eines Ufergrünzugs aufgekauft.
In den siebziger und achtziger Jahren entstehen die Häuser auf der Westseite. Dabei wird auf Druck der Anwohner die Planung, die zunächst eine Verlegung der Reinickendorfer Straße und den Abriss zweier Neubauten aus den fünfziger Jahren vorsah, noch einmal revidiert.
Kösliner Str. 6
Aus einem Beschwerdebrief der Mieter der Kösliner Straße 6 vom 12.1.1923: Im Auftrage der sämtlichen Mieter des Hauses Kösliner Str. 6 soll ich folgende Zustände der Polizei zur Anzeige bringen: Seit Monaten kümmert sich kein Wirt noch Verwalter um jegliche Angelegenheit im Hause. Am 1. November 22 bekam jeder Mieter im Hause ein Schreiben, dass die Firma Herbert Kochocz, Treuhand-Gesellschaft die Verwaltung übernommen hat. Im wiederholten Falle wurde die Firma bezwecks Abänderung der Zustände aufgerufen, sie reagierte aber gar nicht darauf und es blieb so, bis sich jetzt die Zustände bis zur Unerträglichkeit steigerten und somit ein großer Krankheitsherd für alle möglichen Krankheiten geschaffen sind. Seit Monaten gibt es in den einzelnen Aufgängen kein Wasser mehr, die Klosetts sind bis oben hin voll Kot, so dass den einzelnen Mieter es in den Wohnungen läuft, somit einen pestartigen Geruch in den Wohnung verbreitet, einzelne Klosetts sind vollkommen zusammen gefallen, der Müll liegt bis mitte Hof und auch schon seit Oktober v. J. dort. Vor Ungeziefer (Ratten) kann man sich im ganzen Hause nicht bergen, die Dielen sind derartig von Rattenlöcher zerfressen das man annehmen muß jeden Augenblick durchzubrechen. Diese und ähnliche Zustände erfordern eine sofortige Beseitigung da die Gesundheit und das Leben der Mieter sowie der Kinder in Gefahr ist. Das Haus besitzt über 50 Mieter. Der Besitzer soll ein Ausländer sein.“
Kösliner Straße 18
1922 gerät der Eigentümer der Kösliner Straße 18, die Berliner Grundstücks-Aktiengesellschaft, in finanzielle Schwierigkeiten. Er kann die Zinsen für den Kredit in Höhe von 86.000 Mark bei der Sparkasse nicht mehr aufbringen. Bei der Versteigerung ist die Stadtgemeinde Berlin mit ihrem Gebot über 70.000 Reichsmark erfolgreich. In einer Vorlage an die Stadtverordnetenversammlung heißt es: „Das Grundstück ist bebaut mit einem 5geschossigen Vorderwohngebäude von 13m Länge und 12,5 m Tiefe und einem ebenso hohen Querwohngebäude von 13m Länge und 11 m Tiefe. Diese Gebäude sind nach dem Versicherungsschein vom 20. August 1877, einschl. Gas- und Wasserleitung, mit 102.600 Mark bewertet. Der gemeine Wert des Grundstücks ist ebenfalls auf 102.600 Mark festgesetzt. Das Grundstück befindet sich in einem stark verwahrlosten zustande. Das Vorderhaus wie auch das Quergebäude sind mit Rotschwamm durchsetzt, so dass teilweise neue Balkengezogen werden müssen, Die Kochmaschinen müssen durchweg umgesetzt werden. Das Holzwerk der Fenster ist stark vernachlässigt, so dass vielfach die Wasserschenkel erneuert werden müssen, während die Scheiben zu verkitten und das Holzwerk zu streichen ist. Die 37 Wohnungen, besonders die Küchen, bedürfen einer gründlichen Instandsetzung, während die Dächer beider Häuser eingehend zu reparieren sind. Diese Instandsetzungsarbeiten werden nach dem Gutachten des Bezirkshochbauamtes Wedding ungefähr 100.000 Mark kosten verursachen.“ Der Magistrat rechnet die Hypothek von 86.000 Mark, rückständige Zinsen von 16.447 Mark und entstandene Kosten von 1015 Mark zusammen und kommt auf 103.462 Mark. Zusammen mit den notwendigen Investitionen wären das über 200.00 Mark. „Dieser Erwerbspreis wird sich auf keinen Fall verzinsen, da die Mieter des Hauses schon die jetzigen Mieten schlecht bezahlen und die Einziehung höherer Mieten auf großen Widerstand stoßen wird“, so der Magistrat. Das Grundstück ist für jährlich 5000 Mark in Generalpacht gegeben, allerdings kündigt der Pächter angesichts hoher Kosten für Reparaturen und Ersatz von entwendeten Treppengeländern und Rohren den Vertrag. Im Juni 1922 bietet ein Käufer, Karl Tipperbauer aus Charlottenburg, der Stadt 70.000 Mark für Haus und Grundstück.“ Der Magistrat bittet die Stadtverordneten um rasche Zustimmung.