Die republikanische Tradition des Schlosses (2021)

Cover „Des Kaisers Nachmieter“

Es ist ein Ort mit wechselvoller Geschichte und die Nutzung blieb lange umstritten. Sollte mitten in Berlin ein Hohenzollern-Schloss wiederaufgebaut werden, das zu DDR-Zeiten aus ideologischen Gründen abgerissen worden war, sollte hier moderne Architektur dem Zentrum der Hauptstadt ein neues Gesicht geben, sollte etwas Anderes, etwas Neues „in der Kubatur des Schlosses“ entstehen? Christian Walther befreit in seinem Buch „Des Kaisers Nachmieter“ den Ort vom aufgeladenen Kampf um die Deutungshoheit, indem er an ein verdrängtes Kapitel seiner Geschichte erinnert: die republikanische Tradition des Schlosses in Berlins Mitte.

Christian Walther beginnt seine Erzählung mit dem 9. November 1918, dem Tag, an dem in Berlin gleich zweimal die Republik ausgerufen wird, einmal vom Sozialdemokraten Philipp Scheidemann am Reichstag, etwas später von Karl Liebknecht vor dem Schloss, von einem Kraftfahrzeug aus. Erst später betritt Liebknecht den Balkon des Schlosses, um hier eine Rede zu halten und erneut die Republik auszurufen. Eine Wiederholung, wie Walther betont, die später von der DDR-Führung zur Legendenbildung genutzt wird, als sie den Balkon des Schlosses nach dessen Abriss in das Staatsratsgebäude einbauen ließ.

Die Vossische Zeitung zitiert Liebknecht am folgenden Tag mit den Worten, der Arbeiter- und Soldatenrat habe das Schloss „in seinen Schutz“ genommen: „Es sei kein beliebiges Privateigentum mehr, sondern Volkseigentum.“ Damit beginnt für Christian Walther eine neue Ära des Schlosses. Es dient nicht mehr den Hohenzollern, sondern dem Volk.

Nach dem Hofstaat des ins Exil gegangenen Kaisers ziehen Kultur und Wissenschaft im Schloss ein.  Es wird Wirkungsstätte etlicher bedeutender Wissenschaftlerinnen und Politikerinnen, es bot Einrichtungen wie dem Kunstgewerbemuseum, dem Museum für Leibesübungen, dem Deutschen Akademischen Austauschdienst oder der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft Raum. Die heutige Nutzung kann also an ganz andere Traditionen anknüpfen als vielleicht auf den ersten Blick ersichtlich.

Die verdrängte und weitgehend vergessene Geschichte des Gebäudes als Schloss der Republik und Wirkungsstätte bedeutender Akademikerinnen ist es, die Christian Walther interessiert. Eigene Kapitel widmet er Lise Meitner, Deutschlands erster Physikprofessorin, die vor der im Schloss beheimateten Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft über den „Bau des Atominneren“ referierte. Anne-Gudrun Scherling, eine der ersten deutschen Juristinnen arbeitete hier, nach 1945 war sie die erste Richterin am Bundesarbeitsgericht. Mit dem Völkerrecht befasste sich hier eine weitere Wissenschaftlerin: die Jüdin Marguerite Wolff, die 1933 ihre Stelle verlor. Spannend auch die Lebensgeschichten von Marie-Elisabeth Lüders, der Kunsthistorikerin Elisabeth Henschel-Simon oder Eugenie Schwarzwald und ihrer Gemeinschaftsküche im Schloss.

1945 war das Schloss durch die Kriegseinwirkungen beschädigt, aber bei weitem nicht so schwer wie das Charlottenburger Schloss. 19.000 Mark veranschlagte Stadtrat Scharoun für Sicherungsarbeiten. Im Magistrat wurde er überstimmt. Instandgesetzt und für vier große Ausstellungen genutzt wurde etwas später der Weiße Saal. 1950 entschied die SED, das Zentrum der Hauptstadt für einen großen Demonstrationsplatz freizuräumen, „auf dem Kampfwillen und Aufbauwillen unseres Volkes Ausdruck finden können“. 1950 wurde das Schloss gesprengt. Einer, der das Vorgehen verteidigt, ist der Architekt Kurt Liebknecht, Neffe von Karl. Möglicherweise gegen seine innere Überzeugung, wie Christian Walther vermutet, wenn er auf Liebknechts Einsatz für den Erhalt des Potsdamer Schlosses verweist.

Christian Walther erzählt, vielfältig illustriert, eine andere, vergessene Geschichte des Schlosses, die in den vielen Architekturführern nur selten eine Rolle spielt, und er ermöglicht damit auch eine andere Sicht auf das Humboldt Forum.

Christian Walther: Des Kaisers Nachmieter. Das Berliner Schloss zwischen Revolution und Abriss, Verlag für Berlin-Brandenburg, Berlin 2021, 184 Seiten, zahlreiche Illustrationen 25,00 Euro.

Über Ulrich Horb

Jahrgang 1955, Journalist und Fotograf in Berlin
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