Protokolle gelten nicht unbedingt als der aufregendste Lesestoff. Bei den im Dietz-Verlag erschienenen Protokollen des SPD-Vorstands aus den Jahren 1950 bis 1952 wird allerdings ein spannendes Stück Zeitgeschichte ausgebreitet.
2011 erschien der dritte Band der Protokolle, der die Jahre von 1950 bis 1952 umfasst. Der erste Band mit den Protokollen der Spitzengremien aus den Jahren 1946 bis 1948 erschien 1999, Band 2 folgte 2003. Inzwischen ist ein vierter Band verfügbar.
Mit Band 3 liegen die Protokolle aus einer Zeit vor, in der die Westintegration und die Wiedervereinigung die bestimmenden Themen waren. Die Amtszeit des Parteivorstands begann mit dem Parteitag vom 21. bis 25. Mai 1950 in Hamburg und endete mit dem Parteitag vom 24. bis 28. September 1952 in Dortmund. Eine kompakte und informative Einleitung erleichtert die Einordnung etwa der Konflikte zwischen SPD und Adenauer-Regierung, sie zeigt auch die durchaus vorhandenen Einwirkungsmöglichkeiten der SPD auf. Es ist die Zeit der Weichenstellungen in der Europa- und Deutschlandpolitik, des Beitritts zum Europarat, der Gründung der Montanunion. Eine auf die Eigenständigkeit Deutschlands bedachte Sozialdemokratie zeigt sich da. Eine Haltung, die sich auch in den Diskussionen um die Zukunft des Saarlands niederschlägt. Hier unterstützt die SPD die Opposition innerhalb der saarländischen Sozialdemokratie, die sich für eine Wiederangliederung des Saarlands an Deutschland einsetzte.
Die Stabilisierung der jungen Bundesrepublik wurde auch von der SPD gestützt, aber die deutsche Wiedervereinigung blieb sozialdemokratisches Nahziel. Kurt Schumacher machte dabei immer wieder die Grundlagen deutlich, fordert etwa von Adenauer einen Vorstoß gegen die in der DDR geplanten Volkskammerwahlen – in Form der Forderung nach freien unabhängigen Wahlen in allen vier Besatzungszonen.
Der Dokumententeil ist vielfältig, geht über die reinen Protokolle hinaus, wird etwa durch Artikel aus dem Neuen Vorwärts ergänzt, durch Verlautbarungen und Reden. Schumachers Referate, 1950 als kleine gedruckte Broschüren erschienen, werden dokumentiert. Im September 1950 setzt er sich Schumacher zum Beispiel mit der Politik der bürgerlichen Parteien auseinander: „Ich habe Respekt vor allen praktischen Maßnahmen des Tages. Aber wir sehen bei dem Bürgertum von heute, dass eine Politik der reinen Opportunität des Tages immer auf die Linie des Wurstelns führen muss. Wenn wir praktische Maßnahmen, zu denen wir unseren Seelen gegenüber verpflichtet sind, durchführen, müssen wir immer sehen, in welchem Verhältnis diese praktischen Maßnahmen zu der großen Linie unserer Politik stehen.“
Der Status Berlins wird in den Vorstandssitzungen immer wieder thematisiert. Im April 1952 heißt es beispielsweise: „Der Vorstand unterstrich in diesem Zusammenhang nochmals seinen bereits früher eingenommenen Standpunkt, dass die SPD Berlin praktisch als 12. Land behandelt wissen will und dass diese Einstellung sowohl für das Verhalten der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion als auch der Fraktion des Berliner Landtags maßgebend sein müsse.“ Praktische Konsequenz daraus war die Übernahme des Bundesrechts in Berlin – bis zur deutschen Einheit praktiziert, indem alle Bundesgesetze, formal im Abgeordnetenhaus angenommen wurden, auch solche, dort sonst keine Mehrheit gefunden hätten. 1952 war es die Auflösung der einheitlichen Berliner Sozialversicherung durch die Zweiteilung in Angestellten- und Invalidenversicherung. „Ernst Reuter erklärte dazu, dass kein Sozialdemokrat die Zweiteilung der bisher einheitlichen Sozialversicherung in Berlin begrüßen könne, dass aber Berlin, wenn es als 12. Bundesland behandelt werden will, Bundesrecht übernehmen muss und deshalb die Berliner Sozialversicherung der des Bundes angeglichen werden müsse“, vermerkt das Protokoll.
„Die SPD bekämpft die von der Bundesregierung und den westlichen Besatzungsmächten verfolgte Politik, die Bundesrepublik sofort und ohne Rücksicht auf die möglichen Chancen einer Viermächtekonferenz über Deutschland in das gegenwärtige Vertrags- und Verteidigungswesen des Westens einzugliedern“, heißt es in der Entschließung zur Wiedervereinigung Deutschlands vom April 1952.
Als 1952 ein Empfang einer Volkskammerdelegation durch das Bundestagspräsidium diskutiert wird, wendet sich die SPD gegen eine solche Anerkennung des Pieck-Grotewohl-Regimes. „Ernst Reuter wies auf die schwierige Lage hin, die durch den Empfang der Pankower Delegierten in Bonn für Berlin entstehen könne. Er habe sofort erklärt, dass er den Beschluss, die Delegation zu empfangen, für falsch halte; während der Berliner FDP-Vorsitzende Schwennicke dieselbe Auffassung vertrete, habe sich der Berliner CDU-Vorsitzende Lemmer für den Empfang ausgesprochen. Franz Neumann erinnerte daran, dass es nicht nur einen Fall Linse gebe, sondern dass Tausende von Sozialdemokraten und Freiheitskämpfern in der Sowjetzone in Haft sind. Man dürfe nichts tun, was wie eine Anerkennung der Repräsentanten des Terrorregimes der Sowjetzone wirken kann“, berichtet der Neue Vorwärts im September 1952.
Der Band gibt aber auch Einblicke in die organisatorische Lage der Partei, in die Mitgliederentwicklung und die Beitragszahlungen. 40.604 Mitglieder weist beispielsweise die Statistik für das 4. Quartal 1951 in Berlin aus. 1,29 Mark zahlt ein Berliner Mitglied im Durchschnitt, das ist der höchste Betrag unter allen 21 SPD-Bezirken. Bundesweit liegt er bei 86 Pfennig. Ein gutes Viertel der Mitglieder in Berlin sind Frauen.
Aber der Vorstand befasst sich auch mit der Verbesserung der Bildungsarbeit, mit der Jugendarbeit und der Zusammenarbeit mit den Falken. In den Sitzungen wurden die Entwicklungen von Organisationen außerhalb der Sozialdemokratie eingeschätzt und bewertet, das betraf Soldatenbünde, Vertriebenenverbände aber auch die Arbeit der KPD. Innerhalb der SPD wirkte mit der „Sozialdemokratischen Aktion“ eine Tarnorganisation der SED, der der Vorstand auch mit Ausschlussverfahren begegnete.
Christoph Stamm (Hg.) Die SPD unter Kurt Schumacher und Erich Ollenhauer 1946 bis 1963 – Sitzungsprotokolle der Spitzengremien Band 3: 1950 bis 1952, Verlag J.H.W. Dietz, 696 Seiten, Hardcover, 64,00 Euro, ISBN 978-3-8012-4103-2