Müllerstraße 163: Zur Geschichte des Hauses

Sitz der Berliner SPD: das Kurt-Schumacher-Haus in der Müllerstraße 163. Blick vom U-BahnhofWedding. Foto: Ulrich Horb

Sitz der Berliner SPD: das Kurt-Schumacher-Haus in der Müllerstraße 163. Blick vom U-Bahnhof Wedding. Foto: Ulrich Horb

Die Umzugswagen waren schon im September vorgefahren, am 1. Dezember 1961 fand dann die offizielle Einweihung statt. Die SPD war im Wedding angekommen, dem alten Arbeiterbezirk. Die neue Anschrift ihrer Landeszentrale war die Müllerstraße 163.

Es war eine Kraftanstrengung der gesamten Berliner SPD. Schon in den fünfziger Jahren spendeten  ihre Mitglieder Geld für Bausteine,  mit denen eine neue Landesgeschäftsstelle errichtet werden sollte. 1961 hatten die Bausteine Form bekommen: Am 18. September zog der Landesverband mit seinem Vorsitzenden Willy Brandt in das Kurt-Schumacher-Haus an der Müllerstraße.

Kurt-Schumacher-Haus 2021. Foto: Ulrich Horb

Kurt-Schumacher-Haus 2021. Foto: Ulrich Horb

Bis dahin hatte die SPD ihren Sitz in der Schöneberger Zietenstraße 18. 1946 hatte sich die Partei neu organisieren müssen. Per Urabstimmung, zugelassen nur in den westlichen Sektoren, hatten ihre Mitglieder eine Zwangsvereinigung mit der KPD abgelehnt. Die im sowjetischen Sektor gelegenen Büros aber übernahm die SED, die aus der KPD und Teilen der SPD hervorgegangen war. Die massive materielle Unterstützung nutzte der SED nichts: Die Berlinerinnen und Berliner machten die SPD bei den Wahlen mit 48,7 Prozent zur stärksten Kraft in der Stadt.

Ausriss aus der SPD-Zeitung Berliner Stimme vom September 1961. Foto: Archiv Ulrich Horb

Ausriss aus der SPD-Zeitung Berliner Stimme vom September 1961. Foto: Archiv Ulrich Horb

In der Enge der Zietenstraße wuchs der Wunsch nach eigenen, größeren Räumen. Der Architekt Wilhelm Nemack entwarf die neue SPD-Zentrale schräg gegenüber dem bereits Mitte der 1950er Jahre errichteten Arbeitsamt Wedding: Ein moderner Stahlbetonskelettbau mit klar strukturierter Fassade, fünf Stockwerke hoch, ein typischer Bau der Nachkriegsmoderne, der heute unter Denkmalschutz steht. Die Kosten betrugen 960.000 Mark, die Gottlieb Tesch GmbH führte den Bau aus. Namensgeber des Hauses wurde der 1952 verstorbene erste Nachkriegsvorsitzende der SPD und Widerstandskämpfer Kurt Schumacher. Bauherr war die Grundstücksgesellschaft Wedding (GGW), die drei Gesellschafter hatte: den Berliner SPD-Landesverband, die Konzentration GmbH der Bundes-SPD und den SPD-Kreis Wedding, der sein Kreisbüro im Haus bekam.

Ausriss aus dem SPD-Mitgliederblatt "Weddinger Rundblick" vom August 1960. Foto: Archiv Ulrich Horb

Ausriss aus dem SPD-Mitgliederblatt „Weddinger Rundblick“ vom August 1960. Foto: Archiv Ulrich Horb

Das Grundstück an der Müllerstraße Ecke Burgsdorfstraße hatte die GGW Im Mai 1960 gekauft. „Unser Haus im Bau“, freute sich im August 1960 der „Weddinger Rundblick“, die Zeitung des SPD-Kreises, und zeigte eine Skizze des geplanten Neubaus.  Der lange Vorlauf hatte an der Parteibasis aber auch Zweifel geweckt: „Viele Weddinger, die schon bei den ersten vorbereitenden Entscheidungen des Kreises zur Gründung einer Grundstücksgesellschaft Wedding m.b.H. und den sich daran um den Hausbau anschließenden Diskussionen beteiligt waren, hatten wohl schon den Glauben daran verloren, dass in der Müllerstraße 163 noch einmal von uns tatsächlich ein Haus gebaut würde“, so das Mitgliederblatt. Nun aber werde man „endlich Herr im eigenen Haus“.

Mit der Standortwahl bekannte sich die Berliner SPD zum alten Arbeiterbezirk Wedding. Wenige Tage vor dem Einzug der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aber schnitt der Mauerbau die Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten im Ostteil der Stadt von der neuen Parteizentrale ab.  Dort hielt dann bis 1989 ein Betreuungsbüro den Kontakt zu allen, die in den Westen fahren durften, von dort wurden zu Weihnachten Päckchen an ehemalige Mitglieder im Ostteil verschickte.

Kurt-Schumacher-Haus 1987. Foto: Ulrich Horb

Kurt-Schumacher-Haus 1987. Foto: Ulrich Horb

Das Kurt-Schumacher-Haus bot helle und großzügige Räume für Vorstand, politische Sekretärinnen und Sekretäre, die Redaktion der „Berliner Stimme“, die Mitgliederverwaltung, das Berliner Büro des Parteivorstandes. In einer Bibliothek, die heute zum August Bebel Institut gehört, fanden Mitglieder politische Bücher. Zur Erstausstattung gehörten großzügige Sitzungssäle mit Schmalfilmprojektoren. Im Erdgeschoß zog mit Weka ein kleines Kaufhaus ein, später ein Gardinengeschäft. Heute werden die Räume als Galerie und Veranstaltungsraum vom August Bebel Institut und dem SPD-Kulturforum genutzt. An der Burgsdorfstraße befand sich bis zu einem Brandanschlag im März 1981 der SPD-eigene Kompaß-Buchladen.

Im Laufe der Jahre gab es zahlreiche Umstrukturierungen und Umzüge innerhalb des Hauses. So befand sich das Büro der SPD Wedding 1961 im 2. Stock, in den achtziger Jahren im ehemaligen Buchladen, später dann im 5. Stock und schließlich wieder, besser erreichbar, im Erdgeschoss, nun im umgebauten früheren Gardinenladen.  Poststelle und Druckerei zogen vom ersten Stock in den zweiten, um Platz für einen weiteren Sitzungssaal zu schaffen. Moderne Kopierer übernahmen die Aufgaben der alten schweren Druckmaschinen.

2021: Geburtstagstorte für das Kurt-Schumacher-Haus mit dem SPD-Landesvorsitzenden Raed Saleh. Foto: Ulrich Horb

2021: Geburtstagstorte für das Kurt-Schumacher-Haus mit dem SPD-Landesvorsitzenden Raed Saleh. Foto: Ulrich Horb

Größere Modernisierungen des denkmalgeschützten Baus erfolgten in den achtziger Jahren und 2005. Überlegungen Anfang der neunziger Jahre, den Wedding zugunsten einer repräsentativen Adresse in Mitte zu verlassen, wurden rasch verworfen.

Nach der Wende entstand auf einem bis dahin als Parkplatz genutzten Grundstücksteil an der Burgsdorfstraße ein Anbau, errichtet von einer Genossenschaft. Aber die zusätzliche Bürofläche wurde nicht benötigt. Heute hat das über den Wedding hinaus bekannte Prime-Time-Theater dort seine Spielstätte und ein kleines Hotel ist eingezogen.

Ausstellungstafel: das Grundstück Müllerstr. 163 im Jahre 1945. Foto: Horb

Im Jahr 2023 haben Studentinnen und Studenten  der Universität Potsdam unter Leitung von Elke-Vera Kotowski die Geschichte des ehemaligen Wohnhauses Müllerstraße 163 /Ecke Burgsdorfstraße erforscht und die Ergebnisse in einer Ausstellung zusammengefasst, die im März 2024 in der Galerie in der Müllerstraße 163 gezeigt wurde. Das Projekt, eine Kooperation zwischen der Landesgeschäftsstelle der Berliner SPD, dem August Bebel Institut, der Universität Potsdam und der Moses Mendelssohn Stiftung Berlin, legte die verschüttete Geschichte des Grundstücks und seiner früheren jüdischen Eigentümer frei.

Studierende der Uni Potsdam mit Elke-Vera Kotowski. Foto: Ulrich Horb

Studierende der Uni Potsdam mit Elke-Vera Kotowski (l.). Foto: Ulrich Horb

In der Phase der Industrialisierung Ende des 19. Jahrhunderts  wurde das Eckgrundstück, auf dem zuvor das Ausflugslokal „Zum Apfelweingarten“ gestanden hatte, mit einem Mietshaus bebaut. Die Studentinnen und Studenten fanden in den Archiven Grundstücksakten und Pläne des Hauses. Aus den Berliner Adressbüchern der Jahre 1931 bis 1943 ergab sich, dass seit 1936 auch der jüdische Hauseigentümer Sali Wolff im Gebäude wohnte. . 1941, so zeigten es die Recherchen  der Studentinnen und Studenten, wurde seine Wohnung als sogenannte »Judenwohnung« zwangsrekrutiert und mit ihm lebten dort weitere jüdische Menschen bis zu ihrer Deportation. Zwangsuntermieter waren die Familie Freundlich und das  Ehepaar Gold. Letzteres überlebte die Verfolgung durch die Nazis. Akten aus der NS-Zeit zeigen die Entrechtung und Enteignung der jüdischen Familien. Für das Ehepaar Wolff und die Familie Freundlich, so die Recherchen der Studierenden, war die Müllerstraße 163 die letzte Anschrift vor ihrer Deportation in die Vernichtungslager. Im November 1943 wurde das Haus bei einem Luftangriff der Alliierten zerstört.

Auf den Ausstellungstafeln wird neben der Geschichte des Grundstücks und seiner Bebauung ein kleiner Teil des jüdischen Lebens im Wedding  in den Jahren vor 1933 wieder lebendig, sie vermitteln einen Eindruck von der Verfolgung in der NS-Zeit, sie erzählen – so weit bekannt – die Geschichte der jüdischen Familien aus der Müllerstraße 63, stellen aber auch  den mühseligen Kampf um Wiedergutmachung in der Nachkriegszeit dar.

Reinhard Wenzel, August Bebel Institut und Elke-Vera Kotowski. Foto: Horb

Reinhard Wenzel, August Bebel Institut, und Elke-Vera Kotowski. Foto: Horb

Ausstellung: vom 1. bis 26. März 2024 (Di-Fr, 14-18 Uhr) in der Landesgeschäftsstelle der Berliner SPD in der Müllerstraße 163 und ab 4. April 2024 im Mitte Museum Berlin in der Weddinger Pankstraße 47.

Franziska Giffey, SPD-Landesvorsitzende und SPD-Landesgeschäftsführer Sven Heinemann. Foto: Horb

Franziska Giffey, SPD-Landesvorsitzende, und SPD-Landesgeschäftsführer Sven Heinemann bei der Ausstellungseröffnung. Foto: Horb

 

Raed Salah dankt Elke-Vera Kotowski. Foto: Horb

Raed Saleh dankt Elke-Vera Kotowski. Foto: Horb

Über Ulrich Horb

Jahrgang 1955, Journalist und Fotograf in Berlin
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