Es könnte eine spannende Schullektüre sein – nicht nur im Wedding. 1932 hat die Schriftstellerein Ruth Rewald in ihrem Jugendroman „Müllerstraße, Jungens von heute“ einen Einblick in den Alltag und die Lebenswirklichkeit der Arbeiterkinder im Berliner Wedding gegeben. Jetzt ist der Band als Neuauflage in der Reihe der Wedding-Bücher des Verlags Walter Frey wieder erhältlich.
Es ist Anfang der dreißiger Jahre, der Sommer naht. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, die Stadt hat kein Geld mehr und Geuni, der sich mit seinen vier Freunden meist auf dem Fußballplatz herumtreibt, erfährt, dass er wegen der städtischen Sparmaßnahmen nicht aufs Land verschickt werden kann. Und auch die Idee seines Freundes Kurt, Geuni mit zu seinen Großeltern zu nehmen, zerschlägt sich. Denn dort kommt gerade ein arbeitsloser Onkel mit seiner Familie unter. Dessen Not ist größer. Für die Jungs stellt sich die Frage, was sie den ganzen Sommer über in der heißen Stadt treiben soll. “Nein, wir wollen nicht mehr nur so die Zeit vertreiben“, ereifert sich Geuni im Roman von Ruth Rewald. „Wir wollen gemeinsam was tun, etwas arbeiten, so dass wir nachher sehen, was wir geschafft haben.“
Ruth Rewald, am 5. Juni 1906 in Berlin geboren, studierte einige Semester Jura, fand aber dann ein Betätigungsfeld, das ihr mehr lag: Sie schrieb Kurzgeschichten und Erzählungen für Kinder und Jugendliche, die in sozialdemokratischen Tageszeitungen erschienen. Die „Müllerstraße“ war ihr erster Roman, ein zweiter konnte 1933 in Deutschland nicht mehr erscheinen. Ruth Rewald entstammte einer jüdischen Familie, sie emigrierte im Mai 1933 nach Paris, schrieb im Exil weitere Jugendromane. 1942 wurde sie in Frankreich von der Gestapo verhaftet und nach Auschwitz deportiert, wo sie im Juli ermordet wurde. Ein umfangreiches und informatives Nachwort von Dirk Krüger stellt Leben und Werk der lange in Vergessenheit geratenen Schriftstellerin vor. Und Dirk Krüger wirbt dafür, „unsere jüdischen Mitbürger nicht vorwiegend und ausschließlich als Opfer nationalsozialistischer Verbrechen zu begreife, sondern auch und vor allem als bedeutende Mitschöpfer der deutschen Kultur – in Ruth Rewalds Fall als wertvolle Mitschöpferin einer demokratischem und humanistischen Kinder- und Jugendliteratur“. Rezensionen nach dem Erscheinen der „Müllerstraße“ stellten Ruth Rewald in eine Reihe mit Erich Kästner, weil auch sie die Lebenswirklichkeit der Kinder und ihrer Familien in ihre Geschichten einfließen lässt.
Ihr Roman erzählt nicht nur von Armut und Not, er ist auch eine Ermutigung und ein Appell zur Solidarität. Die Jungen der Müllerstraße schleppen Erde auf eines der Häuserdächer und legen dort mit Blumenkästen einen kleinen Garten an. Sie holen sich die Natur, in die sie nicht fahren können, in den Wedding. Arbeitsteilig bauen sie eine Bühne für ein geplantes Theaterstück, das Geuni und Kurt schreiben. Und mit Liesl, Schwester eines der Jungen, stößt auch ein Mädchen zur Runde.
Fürsorgerin wäre Ruth Rewald gerne geworden, die Realität der Arbeiterkinder erfährt sie durch Beobachtungen in Kinder- und Jugendeinrichtungen. In ihrem Buch erzählt Ruth Rewald von der Kreativität der Jugendlichen, von ihren Konfliktlösungen, von ihrem Zusammenhalt und ihrem gemeinsamen Erfolg. Ihre Protagonisten sind keine Helden, sondern die ganz normalen Arbeiterkinder der Müllerstraße. Eine schöne Wiederentdeckung.