„Stativ- und Landschaftsaufnahmen habe ich erst spät gemacht, ich war immer Momentknipser“, stellt der Berliner Fotograf Friedrich Seidenstücker (1882 – 1966) in den sechziger Jahren in einem Rückblick fest. Den entscheidenden Moment abzupassen, das ist ihm oft gelungen. Meisterlich beweist das eins seiner bekanntesten Fotos: die Pfützenspringerin – eine junge Frau mit modischem Hut und knielangem Kleid, die 1929 von Seidenstücker beim entschlossenen Sprung über eine große Wasserlache am Straßenrand eingefangen wurde. Unter dem Titel „Der faszinierende Augenblick“ erschien 1987 ein Bildband mit Aufnahmen Seidenstückers, die das Leben in der Großstadt Berlin illustrieren.
Friedrich Seidenstücker wird am 26. September 1882 in Unna als Sohn eines Richters geboren, der den Kindern viel Freiheiten lässt. Der technikbegeisterte Friedrich beginnt 1901 ein Studium des Maschinenbaus in Hagen, er kommt mit der Bildhauerei in Berührung. 1904 wechselt er zur Königlich Technischen Hochschule Charlottenburg. In einem Lebenslauf schreibt er: „Ging hospitierend nach Berlin, hörte aber nur 1 Stunde Kolleg an der TU und blieb dann Bildhauer.“ Er studiert an der Kunsthochschule, geht nach München zu einem Steinbildhauer, nach Italien und Paris. In der Friedenauer Bronzegießerei Noack lernt er das Ziselieren. In der Nähe, am Kaiserplatz, dem heutigen Bundesplatz, hat er Atelier und Wohnung.
Während des 1. Weltkriegs arbeitet er in den Zeppelin-Werken. Das bewahrt ihn vor einem Fronteinsatz. Nach Kriegsende kehrt er zur Bildhauerei zurück, lebt weiter in Friedenau, bringt sich nebenher das Fotografieren bei. Das rettet ihn, als die Wirtschaftskrise einsetzt. Dem Ullstein-Verlag bietet er Ende der zwanziger Jahre erfolgreich Tierfotos aus dem Berliner Zoo und Aktaufnahmen an. Ab 1930 arbeitet er fest als Fotoreporter für den Ullstein-Verlag, seine Aufnahmen erscheinen in Magazinen wie „Der Querschnitt“, „Illustrierte Zeitung“, „Die Dame“ oder „Die Woche“.
Sein Werkzeug ist lange Zeit eine kleine Zeiss-Ikon-Kamera. „Nie legte ich Wert darauf, dass man mich als Fotografen erkannte. Mir war es immer wichtig, heimlich und unbekannt Aufnahmen zu schießen“, so Seidenstücker. Seine Fotos sind dennoch nicht voyeurhaft, sie bieten einen unverstellten, unbefangenen Einblick in Situationen, die Seidenstücker beim Gang durch die Stadt wahrnimmt. Vielfach sind es Alltagsszenen aus den dreißiger und vierziger Jahren: spielende Kinder, ein Heimwerker auf der Leiter beim Reparieren des Fensters, ein Mann beim Enthäuten eines Rindes, eine Trümmerfrau am Straßenrand beim Abklopfen von Steinen, hinter sich die Weite und Trostlosigkeit der Trümmerlandschaft, Kinder, die an einer Fassade hochklettern. Bei diesen Bildern ist nichts arrangiert, anders als bei den Aktaufnahmen und Frauenporträts, die er wohl auch behutsam inszeniert hat.
Seidenstücker gelingt es, in seinen Aufnahmen Bewegung festzuhalten, in der angespannten Haltung der Bogenschützin oder beim Straßenarbeiter, der weit ausholend den Straßenbelag glättet. Viele seiner Bilder zeichnet ein subtiler Humor aus.
Manchen Motiven ist Seidenstücker über all die Jahre treu geblieben. Der Amateursport zog ihn immer wieder an. Und im Berliner Zoo sind unzählige Aufnahmen entstanden. Seine Fotos sind Zeitdokumente und Sittenbilder, sie zeigen ein Berlin jenseits von Gebäuden, Fassaden und Architektur, die viele seiner Fotografen-Kollegen als Motive bevorzugten, sie zeigen das Leben in der Stadt. Am 26. Dezember 1966 ist Seidenstücker in West-Berlin verstorben.
Klemig, Roland/ Karl Heinz Pütz, Der faszinierende Augenblick. Fotografien von Friedrich Seidenstücker. [Fotosammlungen Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz; Bd. 1]. ISBN: 3875842081 (ISBN-13: 9783875842081), Nicolai Verlag Berlin, 1987, 160 S.
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