Das konservative Bürgertum Berlins schaute einst mit Sorge und wohl auch ein wenig Furcht auf den Norden der Stadt. Der „rote Wedding“ war Hochburg der Arbeiterbewegung, Solidarität und Kampf gegen Ungerechtigkeiten hatten hier eine lange Tradition. Die Geschichte der Sozialdemokratie im „roten Wedding“ erzählt jetzt Bernd Schimmler, Vorsitzender des Weddinger Heimatvereins, in seinem Buch „Zwischen Humboldthain und den Rehbergen“.
Schon die Arbeiter des Beschäftigungsprogramms, die 1848 die Sümpfe der Rehberge trockenlegten, hatten den Ruf, sich nichts gefallen zu lassen. Soziale Proteste gegen Ausbeutung, Not, Armut und ungesunde Wohnbedingungen bestimmten auch später das Bild vom Wedding. Anlässe dafür gab es mehr als genug.
Im 19. Jahrhundert waren nördlich von Berlin größere Industriebetriebe entstanden. Die Arbeiterinnen und Arbeiter dieser Firmen fanden Unterkunft in den umliegenden dunklen Mietskasernen mit fünf oder sechs engen Hinterhöfen und Toiletten auf dem Hof. Die Mieten hatten Spekulanten hochgetrieben. Schlechte Arbeitsbedingungen und ungesunde Wohnverhältnisse bestimmten den Alltag. Die neu entstehende Sozialdemokratie gewann hier mit Wilhelm Hasenclever bei den Reichstagswahlen 1877 einen ihrer ersten Wahlkreise. Sein Nachfolger wurde 1888 einer der bekanntesten Sozialdemokraten dieser Zeit: Wilhelm Liebknecht.
Bernd Schimmler, zwanzig Jahre selbst Weddinger Bezirksverordneter und zwischen 1986 und 2000 Stadtrat, porträtiert Hasenclever und Liebknecht, er erzählt vom Parteileben um 1900, von der polizeilichen Überwachung der Treffen, vom Beginn der Frauenarbeit, vom sozialdemokratischen Milieu. Hier im Wedding gab es den blinden Patriotismus nicht, mit dem andernorts in den 1. Weltkrieg gezogen wurde. In großen Versammlungen wandten sich die Weddinger Sozialdemokraten gegen Krieg und Militarismus.
Die Spaltung der Arbeiterbewegung in KPD und SPD erleichterte den Nazis die Machtübernahme, auch wenn sie im Wedding keine Mehrheit bekamen. Bernd Schimmler erinnert an den SPD-Kreisvorsitzenden Otto Frank, der von den Nazis 1933 so schwer misshandelt wurde, dass er an den Folgen verstarb. Schimmler zählt erfolgreiche Weddinger Kommunalpolitiker auf wie Carl Leid, der von den Nazis aus dem Amt getrieben wurde, wie Walter Röber, Helmut Mattis oder die frühere Bezirksbürgermeisterin und „Mutter vom Wedding“ Erika Heß. Er nennt den Weddinger Abgeordneten und Bürgermeister Otto Suhr und Willy Brandt, der seinen Weddinger Wahlkreis 5 1963 mit deutlichen 75,74 Prozent der Stimmen gewann, nicht zuletzt dank der sichtbaren Verbesserung der Lebensbedingungen im Bezirk.
Die SPD, die sich im Nachkriegs-Berlin der Zwangsvereinigung mit der KPD zur SED widersetzt hatte, blieb viele Jahrzehnte Garant der Freiheit. Und sie blieb, trotz mancher Flügelkämpfe in der Nachkriegszeit, so Schimmler, ein verlässlicher Ansprechpartner für die Bürgerinnen und Bürger. Sanierung und gesellschaftliche Umbrüche veränderten den Bezirk, die „roten Weddinger“ zogen fort ins Märkische Viertel, die Wahlergebnisse der SPD wurden schlechter. Schimmlers Rat: Sozialdemokraten müssten wieder stärker vor Ort präsent sein, „näher am Menschen“.
Bernd Schimmler wertete neben Archiven auch den „Weddinger Rundblick“, das bezirkliche Informationsblatt der SPD, aus. Für sein Buch kamen ihm zudem viele früher entstandene Aufsätze und Artikel zugute. Manches kann auf den gut 160 Seiten nur angerissen werden, manche Zeitabschnitte könnten ausführlicher gewürdigt werden. Aber der Band schließt eine Lücke, er liefert eine wichtige Grundlage nicht nur zur Geschichtsschreibung der Arbeiterbewegung, sondern auch der des Bezirks.
Bernd Schimmler, Zwischen Humboldthain und den Rehbergen, Die Geschichte der Sozialdemokratie im „roten Wedding“ von Berlin, 167 Seiten, Abbildungen, ISBN 978-3-946327-26-4, 15,– €