„Gott wohnt im Wedding“, das behauptet die Autorin Regina Scheer im Titel ihres zweiten, im Jahr 2019 erschienenen Romans, der die Schicksale von Menschen in einem fiktiven Weddinger Mietshaus schildert. Die Geschichten legen eins nahe: Wenn Gott im Wedding gewohnt hat, dann hat er zumindest etliche Jahre nicht so genau hingeschaut.
In die über 400 Seiten packt Regina Scheer über hundert Jahre deutsche Geschichte. Sie erzählt über Generationen hinweg von den Schicksalen jüdischer Familien und verfolgter Roma, berichtet von türkischen Familien, die als Gastarbeiter kamen und von deutschen Weddingern, die mit den sichtbaren Veränderungen hadern. Eher ungewöhnlich: Auch das Haus bekommt eine Sprechrolle, die es zum Glück nur selten nutzt, um von Handwerkern oder den Veltener Fliesen an den Wänden des Hausflurs zu erzählen.
Regina Scheer, Jahrgang 1950 und geborene Berlinerin, hat an der Ost-Berliner Humboldt-Universität Theater- und Kulturwissenschaft studiert und zu Beginn der siebziger Jahre als Redakteurin der Studentenzeitung „Forum“ gearbeitet. Von 1980 bis 1990 war sie Redakteurin der vierteljährlich erscheinenden Literaturzeitschrift „Temperamente“, die sich der jungen DDR-Literatur widmete, soweit dies politisch zugelassen wurde. Nach 1990 veröffentlichte sie Biographien und Sachbücher zur jüdisch-deutschen Geschichte, 2014 erschien ihr erster Roman „Machandel“, in dem sie DDR-Geschichte anhand persönlicher Lebensgeschichten erzählte.
Stadthistorie, Sozialgeschichte, jüdischer Widerstand, Nazi-Terror, Verfolgung und Ausgrenzung von Sinti, Arbeitsmigration, Gentrifizierung – Regina Scheer hat viel recherchiert und ihre gesammelten Erkenntnisse in dieses Buch gepackt. Das führt dazu, dass sich lebendige persönliche Schilderungen mit Passagen abwechseln, die sich eher wie historische Lektionen lesen. Und auch das spezifische Milieu des Wedding, das den Bezirk von anderen Gegenden Berlins unterschieden hat, kommt mitunter zu kurz. Dunkle Mietskasernen mit vier, fünf Hinterhöfen, Arbeiterfamilien, die sich Stube und Küche mit einem zahlenden „Schlafburschen“ teilten, höchste Wählerstimmenanteile für die häufig atheistischen Sozialdemokraten und Kommunisten, das erste Krematorium Berlins, initiiert von Freidenkern – im Wedding war nicht unbedingt viel Platz für Gott.
Die Handlungsstränge sind miteinander verwoben, aktuelle Begegnungen und Rückblicke wechseln. Da ist Leo, der vor 70 Jahren nach Israel emigrierte und nun, begleitet von seiner Enkelin Nira, zum ersten Mal nach Berlin zurückkehrt. NIra trifft hier Amir, der in der Stadt einen Falaffel-Imbiss betreibt, sie beiden gehören einer neuen Generation an, die einen anderen Blick auf die Stadt haben. Für Leo ist Berlin dagegen mit zahllosen Erinnerungen verbunden, an die Zeit der Verfolgung und der Arbeit im Untergrund mit seinem Freund Manfred. Gertrud, die damals ihr Versteck entdeckte, wohnt noch heute im Haus in der Utrechter Straße. Dann ist da Laila, deren Siniti-Familie hier einst wohnte und die Verfolgung noch heute erfährt. Viele Lebensgeschichten, die mit dem Haus verbunden waren, sind schon zu Ende gegangen, nun geht auch die Geschichte des Hauses selbst zu Ende, der Abriss droht.
Regina Scheer hat sich wichtige Themen für ihren Roman gesucht. Vielleicht etwas zu viele.
Regina Scheer, Gott wohnt im Wedding, Roman, Penguin Verlag, München 2019, ISBN 9783328600169, gebunden, 416 Seiten, 24,00 EUR, (auch als Taschenbuch erhältlich, 12 EUR)