Hans-Willi Weinzen

Hans-Willi Weinzen. Foto: Ulrich Horb

Hans-Willi Weinzen. Foto: Ulrich Horb

Geboren am 5. November 1953, gestorben am 28. Mai 2020. 

Es ist Sommer 2018. Das Lokal hat einen kleinen Biergarten, draußen ist es warm und sonnig. Er hat es vorgezogen, drinnen zu sitzen, im Halbdunkel. Das Feierabendbier steht auf dem Tisch. Er macht sich Gedanken über die Zukunft. In zwei, drei Jahren wird er Rentner sein. Was soll er dann machen, will er von einem Freund wissen. Aber so richtig kann ihn kein Vorschlag zufrieden stellen. Vieles hat er schon gemacht: Fachbücher geschrieben, Städtereisen unternommen, gutes Essen in kleinen Lokalen in Lissaboner oder Pariser Seitenstraßen genossen. Und eigentlich braucht er auch keine Ratschläge. Zu Hause stapeln sich Krimis und Romane im Flur, in der Küche stehen Kochbücher mit portugiesischen oder mediterranen Rezepten, die er irgendwann nachkochen will. Und natürlich weiß er, welche Städtetouren er noch machen möchte. Er hat sich auch vieles aufgehoben.

Im Herbst hat er eine Reise nach Paris geplant. Er freut sich auf die bekannten Restaurants, Museen, einen Opernbesuch. Aber Paris fällt aus. Eine Ärztin diagnostiziert Lungenkrebs, inoperabel. Statt Opéra Bastille nun Chemotherapie. Er, der Nichtraucher. Die Lebenserwartung beträgt vielleicht ein Jahr. Er beginnt, seine Angelegenheiten zu ordnen, Patientenverfügung, Testament. Und er stellt sich Fragen. Hat er die richtigen Schwerpunkte im Leben gesetzt? Hätte er nicht auf das eine oder andere Buchprojekt, auf abendliche Sitzungen und Besprechungen, auf das Schreiben von Zeitungsartikeln verzichten sollen und stattdessen lieber eine Partnerschaft pflegen und eine Familie gründen sollen?

Ein Jahr zuvor hat Hans-Willi Weinzen noch eine neue berufliche Aufgabe übernommen. 2020 feiert Groß-Berlin 100. Geburtstag, in der Senatskanzlei koordiniert er die Aktivitäten dazu.  Er hat sich um diese Stelle bemüht, hat zahlreiche Ideen, aber keine Haushaltsmittel. Er muss sich Verbündete suchen, plant Ausstellungen, Projekte. Verwaltung, das ist für ihn ein ständiger Kampf ums Ermöglichen. Und er hat viel Erfahrung mit Verwaltung.  Nun endet das.

Geboren ist er 1953 in Düsseldorf, aufgewachsen in Neuss. Das Elternhaus ist katholisch geprägt. Mit zehn ist er Mitglied der Jungschargruppe der katholischen Jungmännergemeinschaft. Als Einzelkind genießt er das Gruppenerlebnis. Die Mutter ist Putzfrau, der Vater hat sich nach dem Krieg zum kaufmännischen Angestellten hochgearbeitet. Die Eltern sind sparsam und fleißig, das bewundert er.  Den Überredungskünsten des Volksschuldirektors verdankt Hans-Willi den Besuch des städtischen Gymnasiums.

In der gymnasialen Schülerzeitung kann Hans-Willi Weinzen seine Vorliebe für zugespitzte Formulierungen entwickeln. Sein erstes Interview führt er mit Kultusminister Jürgen Girgensohn, einem Sozialdemokraten. 1972 macht er Abitur, die Auseinandersetzung um die Ostverträge bestimmt die öffentliche Debatte. Mutig geht Hans-Willi Weinzen ins örtliche SPD-Büro, um sich ein Godesberger Programm zu holen. Seine katholische Erziehung lässt ihn darin schlimme Dinge erwarten, die findet er zur eigenen Überraschung nicht.

Hans-Willi Weinzen 1985. Foto: Ulrich Horb

Ein Schulfreund nimmt ihn mit zu den Neusser Jungsozialisten, die mit viel Engagement ein selbstverwaltetes Jugendzentrum durchsetzen. Er tritt in die SPD ein, Bezirk Niederrhein, Speerspitze der Konservativen in der SPD. In Köln beginnt er ein Studium, er will Lehrer für Deutsch und Sozialkunde werden. Tagsüber Lernen in Köln, abends politische Veranstaltungen in Neuss. Nach dem Grundstudium soll das anders werden. Er zieht nach Berlin mit dem festen Vorsatz, keine Politik mehr zu machen. Das scheitert schon beim ersten Termin an der Freien Universität, der Studienberatung des Sozialistischen Hochschulbundes (SHB), in dem er von nun an mitarbeitet. Das Lehrerstudium kann er in Berlin nicht fortsetzen, weil es keine Plätze für das vorgeschriebene Schulpraktikum gibt. Politikwissenschaft wird neuer Schwerpunkt.

Von der Politik kommt Hans-Willi Weinzen nicht mehr los. Im Kreisbüro der Zehlendorfer SPD meldet er seinen Umzug, gibt sich als eher links gesinnt zu erkennen und hört dann drei Monate nichts mehr von den Genossen. Das möblierte Zimmer in Uni-Nähe muss er aufgeben, weil er der Vermieterin nicht passt. Er findet eine kleine Wohnung in Kreuzberg, Oranienstraße 188, zweites Quergebäude, vierter Stock, Ofenheizung. 64 Mark Miete kostet sie, die Toilette ist eine halbe Treppe tiefer.  Wenn sie im Winter zugefroren ist, finden sich unter dem Hochbahnhof Kottbusser Tor öffentliche Toiletten. Zum Baden geht er in die Wannenabteilung des Baerwaldbads.

Die linke Kreuzberger SPD nimmt das neue Mitglied gerne auf. Hans-Willi Weinzen engagiert sich in den Juso-Hochschulgruppen, im Juso-Landesvorstand, in der SPD, er schreibt Anträge, verbringt die Abende auf unzähligen Sitzungen. Er lebt von Vorträgen und Führungen für das Gesamtdeutsche Institut, das Paul-Löbe-Institut, die gewerkschaftliche Einrichtung „Arbeit und Leben“, er schreibt ein Buch über Jugendweihe in der DDR, macht Hörfunkbeiträge für den RIAS, vertieft sich in das Thema Wirtschaftsdemokratie und die Arbeiten von Viktor Agartz und Fritz Naphtali. Er schreibt eine Doktorarbeit, die ihn viel Zeit und Recherche kostet. Für wissenschaftliche Betrügereien hat er seitdem kein Verständnis mehr.

Bevor es 1989 zum ersten rot-grünen Senat kommt, formuliert Hans-Willi gemeinsam mit dem SPD-Landesvorsitzenden Jürgen Egert in der SPD- Zeitung „Berliner Stimme“ Bedingungen für eine Zusammenarbeit mit der Alternativen Liste. Die Klärung des Verhältnisses zur Gewalt, die Bindung Berlins an den Bund und die Präsenz der Alliierten werden schließlich als „drei Essentials“ von Walter Momper in die Koalitionsverhandlungen eingebracht und durchgesetzt. Sie ermöglichen die Zusammenarbeit.

Für den neuen Regierenden Bürgermeister Walter Momper verfasst Hans-Willi zur Wendezeit Reden. Die rot-grüne Koalition erlebt er in der Senatskanzlei als fleißig, aber konfliktreich. Mit dem Mauerfall stößt das für West-Berlin neuartige Bündnis an die Grenzen seiner Belastbarkeit und verliert die Wahl 1990. Der Mauerfall ist aber auch finanziell eine Zäsur für die Stadt. Im Westteil gibt es kaum Industrie, im Ostteil verkauft die Treuhand die Reste. Die Stadt hat zu wenig Einnahmen, die Anforderungen steigen, die Infrastruktur im Ostteil ist marode und muss erneuert werden. Der rasche Abbau der Berlinhilfen lässt die Schulden steigen.

In der SPD gibt es für alles Fachausschüsse, nicht aber für Finanzpolitik. Hans-Willi ist einer der wenigen in der Partei, die sich mit dem Thema befassen. Die beiden Stadthälften sind über Jahre subventioniert worden. Der Bund, so beschreibt er es in seinen Büchern zur Finanzpolitik, lässt seine Hauptstadt mit den teilungsbedingten Schulden nun weitgehend allein.  Und Berlin? Flieht vor der rauen Wirklichkeit in die Verschuldung.  Hans Willi, nach der Wende einige Zeit in der brandenburgischen Staatskanzlei und Personalrat, kehrt nach Berlin zurück, arbeitet zunächst in der CDU-geführten Senatskanzlei als Finanzreferent, später dann in der Senatsverwaltung für Finanzen von Annette Fugmann-Heesing. Ein Sanierungskurs wird entwickelt, für den er Grundlagen geschaffen hat.

„Berlin und seine Finanzen – Von der Bundeshilfe in den Finanzausgleich“ heißt der Band, den Hans Willi Weinzen 1995 veröffentlicht. Es ist ein Verriss der bisherigen Finanzpolitik. Mit Klaus Wowereit kommt 2001 der Mentalitätswechsel im Senat an. Hans-Willi Weinzen, nebenberuflich inzwischen auch Lehrbeauftragter an der FU, schreibt weiter. 2003 erscheint „Berlin und seine Schulden – Ein Land auf der Flucht vor der Wirklichkeit“.  2007 gibt zumindest der Untertitel etwas Hoffnung: „Berlin in der Finanzkrise – Bilanz einer Sanierungsstrategie“.

In pointierten Beiträgen in der „Berliner Stimme“ fordert er eine solide Finanzpolitik. Aber ihr Tafelsilber soll die Stadt behalten.  Als er 2008 in die linke SPD-Abteilung Dahlem wechselt, eröffnet sich die Möglichkeit, die Vorschläge als Anträge auf dem Landesparteitag einzubringen. Manches bleibt folgenlos, wie sein Werben für eine Vermögensteuer. Bei anderen Themen setzt er sich durch. So wird der vom Finanzsenator geplante Verkauf der Immobilienholding BIH gestoppt. Und der Rückkauf der Wasserbetriebe, für den er hartnäckig Finanzierungsvorschläge macht, wird Wirklichkeit. Als er in die Senatsverwaltung für Justiz wechselt, zuständig für den Verbraucherschutz, geht er auch in dieser Aufgabe auf.

Ende 2018 gibt Hans-Willi seine Stelle in der Senatskanzlei auf und beantragt Rente. Er verabschiedet sich nicht, nennt keine Gründe. Er will kein Mitleid, will auch über seine Krankheit nicht sprechen. Nur eine Handvoll Freunde weiß davon. Er geht ins Bröhan-Museum, ins Barberini, in das Brücke-Museum, die Gemäldegalerie. Die Pause zwischen zwei Chemotherapien nutzt er wenige Monate nach der Diagnose für einen Flug nach Lissabon, seine Lieblingsstadt. London folgt. Noch kann er das. Er will die Zeit nutzen und die Orte noch einmal sehen. Im Zeitraffer passiert nun, was er sich für die Rente aufgehoben hat. Er trennt sich von unzähligen Aktenordnern, er wird kein Buch zur Finanzpolitik mehr schreiben. Keine Anträge mehr in der Partei einbringen. Er freut sich über jeden Monat, den er über die Prognose hinaus gewinnt. Es wird fast ein Jahr.

Das mit einer eigenen Familie hat nicht geklappt. Was er sich erarbeitet hat, hinterlässt er einer Einrichtung der Obdachlosenhilfe.

Über Ulrich Horb

Jahrgang 1955, Journalist und Fotograf in Berlin
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