Wirklichkeitsbeschreiber: Der Künstler Otto Nagel (7)

Cover Otto Nagel, Die weiße Taube oder Das nasse Dreieck

Cover von Otto Nagels Roman „Die weiße Taube oder Das nasse Dreieck“

In seinen Bildern fängt Otto Nagel den Alltag im Wedding ein, die Straßen und Häuser, er porträtiert die Menschen auf der Straße und in der Kneipe, die Arbeiter wie die Arbeitsuchenden. Ihre Schicksale interessieren ihn nicht nur als Maler. 1928 beginnt er mit der Arbeit an einem Roman. Schauplatz ist eine Kneipe, deren Name im Verlauf wechselt: „Die weiße Taube oder Das nasse Dreieck“. Protagonisten sind Menschen, die in „Muttchens“ Eckkneipe zusammenfinden. Sie haben ihre Arbeit verloren, schlagen sich als Bettler und ohne jede staatliche Unterstützung durchs Leben.  Von diesen „Ausgesteuerten“, die keine Arbeitslosenunterstützung mehr erhalten, gibt es Ende der zwanziger Jahre in Deutschland rund zwei Millionen. Die Weltwirtschaftskrise verschärft die Situation für immer mehr Menschen. Große Ansprüche haben sie nicht, ein kleines bisschen Glück suchen sie. Als Autor beschert ihnen Otto Nagel kein Happyend. Dazu kennt er das Leben am Wedding zu gut. Nagel erzählt schonungslos, wie „einer vor die Hunde“ geht.

Das Buch hat eine eigene Geschichte. Walli Nagel tippt den Text, den ihr Otto diktiert. Aber noch sind ihre deutschen Sprachkenntnisse nicht ausreichend. „Sogar dem guten Otto Nagel war es zu schwer, alles zu korrigieren, so dass das Manuskript nach Beendigung in die Schublade gesteckt wurde, zu meiner Schande“, schreibt Walli Nagel später. Emil Strauß, ein gebildeter Häftling, der im Gefängnis über eine Schreibmaschine verfügt, übernimmt die Aufgabe, das Manuskript neu zu tippen, auf dünnes Durchschlagpapier, weil er kein besseres hat. Wieder verschwindet das Manuskript in Nagels Schublade. 1933 kommt der Berliner Verleger Bruno Cassirer in der Turiner Straße vorbei. Er will das Buch verlegen, wenn es ihm gefällt. Den Roman nimmt er mit, zwei Monate später schickt er Nagel 3000 Mark. Aber Cassirer muss, bevor das Buch erscheinen kann, nach London emigrieren.


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Otto und Walli Nagel geben das Manuskript verloren, bis es 1939 in einem Päckchen aus London eintrifft. Nagel, der in der Nazi-Zeit unter Beobachtung steht und zeitweise inhaftiert, versteckt das Manuskript bei einem alten Sozialdemokraten in Altglienicke. Erst 1947 bringt es dessen Schwiegersohn Nagel zurück. Noch einmal verschwindet der Roman einige Jahre später in den Umzugswirren eines Verlags. Eigentlich wollen Walli und Otto Nagel ihn nun nicht mehr herausgeben, aber 1960 vertrauen sie ihn einem Freund an, der vertraut ihn der DDR-Post an. Und wieder ist er verschwunden. Auf Nagels Beschwerde interveniert der Postminister, die Suchaktion ist schließlich erfolgreich. Erst 1978, da ist Nagel elf Jahre tot, wird der Roman, der die Zeit der zwanziger Jahre und das Leben der Arbeits- und Obdachlosen so detailreich und offen schildert, in der DDR erstmals gedruckt.

Schulstraße: Hier befand sich in den dreißiger und vierziger Jahren die Eckkneipe "Zur weißen Taube". Foto: Horb

Schulstraße: Hier befand sich in den dreißiger und vierziger Jahren die Eckkneipe „Zur weißen Taube“. Foto: Horb

Die Eckkneipe, die im Mittelpunkt der Geschichte steht, dürfte mehrere Vorbilder gehabt haben. Anfangs trägt sie im Roman den Namen „Das nasse Dreieck“. „Von außen sah das »Nasse Dreieck« nicht anders aus als irgendeine der vielen Kneipen, die in dieser proletarischen Gegend in fast jeder Mietskaserne zu finden waren“, so charakterisiert sie Otto Nagel. „Geriet zufällig mal ein fremder Mensch hinein, so bekam er einen tiefen Schreck und machte so schnell wie möglich, dass er wieder herauskam. Die umwohnenden Proleten nannten das »Nasse Dreieck« kurzweg nur »Pennerkneipe«. Arbeiter gingen da nicht hinein, sondern tranken ihre »Molle« woanders. Die Bewohner des Eckhauses, in dem sich das »Nasse Dreieck« befand, verloren in der Nachbarschaft merklich an Ansehen, weil sie (wie man sich ausdrückte) mit Pennern unter ein und demselben Dach wohnten.“

„Die Menschen des Romans kannte ich fast alle“, schreibt Walli Nagel, Otto Nagels 1983 verstorbene Ehefrau, im Vorwort. Sie weist auf die „stark autobiographischen Züge“ des Romans hin. Und sie bekräftigt 1977, als das Manuskript nach langer Odyssee erstmals erscheint, dass Otto Nagel  mit diesem Buch etwas aussagen wollte: „die Gesellschaft verdammen, anklagen, eine Gesellschaft in der niemand dem anderen die Hand reichte“.

„Zum nassen Dreieck“ hieß bis in die Nachkriegszeit eine Kneipe an der Skalitzer Straße 4 in Kreuzberg. Es wurde in einem spitzen Winkel zwischen zwei 1878 errichteten Mietshäusern gebaut, hatte einen Schankraum mit vier Tischen. Nagels Freund Heinrich Zille war hier Gast. Ein Lokal „Zur weißen Taube“, wie die Roman-Kneipe nach einem Besitzerwechsel genannt wird, gab es an der Schulstraße 18, an der Ecke zur Prinz-Eugen-Straße.  Otto Nagel, der gegenüber in der Turiner Straße gewohnt hat, dürfte es mit Sicherheit gekannt haben. Heino Elfert, dessen Eltern das Lokal in den dreißiger Jahren übernahmen, hat es beschrieben:  „Warum die Weddinger Eckkneipe irgendwann nach dem Ersten Weltkrieg den Namen ,Zur weißen Taube‘ erhielt, ist unklar. Wer immer ihr diesen Namen gab, bevor sie meine Eltern kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs übernahmen, wollte womöglich den roten, stets unruhigen Wedding-Bewohnern einen romantischen Platz bieten. Nach dem Motto: Wenn ihr hier eintretet, könnt ihr sicher sein, dass das Bier auf friedvolle Weise so gezapft wird, dass die weiße Schaumkrone aufs Anschaulichste das richtige Maß hat und das Schnapsglas über den roten Rand hinaus gefüllt ist. Und der Wirt garantiert, dass ihr hier nicht gestört werdet, wenn ihr euren Gelüsten nachgebt und nach Skatkarten, Würfelbechern oder dem Billard-Queue ruft. Allein der Name sollte suggerieren, dass hier über allem die „Weiße Taube“ wacht, Reinheit auch noch im Alkohol-Exzess versprechend.“

Ein zweites Lokal mit diesem Namen, die „Gross-Destillation Zur weissen Taube“, befand sich in der Gerichtstraße 71 an der Panke.  Sie war zugleich Weinhandlung und Likör-Fabrik und wirkte deutlich edler als die von Nagel beschriebene und auch in einem Gemälde festgehaltene Kneipe.

Seit 2017 gibt es den Roman in einer Neuauflage, erschienen in der Reihe „Wedding-Bücher“ im Verlag Walter Frey.

(wird fortgesetzt)

Quellen:
Otto Nagel, Berliner Bilder, mit einem Vorwort von Walli Nagel, Henschelverlag Berlin (Ost), 1970
Erhard Frommhold, Otto Nagel – Zeit – Leben – Werk, Henschelverlag Berlin (Ost) 1974
Otto Nagel, 48 Bilder mit einem Text von Ludwig Justi Potsdam  1947
Walli Nagel, Das darfst Du nicht, Wedding-Bücher, Berlin 2018
Otto Nagel,  Die weiße Taube oder das nasse Dreieck, Roman, Wedding-Bücher, Berlin 2017
Otto Nagel, Katalog zu den Ausstellungen Februar und April 1966, Ladengalerie Berlin-Charlottenburg
Sibylle Schallenberg-Nagel: Mein Vater Otto Nagel, in: „Zaubertruhe“, Ein Almanach für junge Mädchen, Der Kinderbuchverlag Berlin (Ost), 1971
Gerhard Pommeranz-Liedtke, Otto Nagel und  Berlin, 228 S.,  Dresden 1964

Dank an Salka Schallenberg für ihre Informationen und Hinweise. Mehr unter http://artist-otto-nagel.de/

Über Ulrich Horb

Jahrgang 1955, Journalist und Fotograf in Berlin
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