Der Wedding war in den zwanziger und dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts kein sichtbares Zentrum jüdischen Lebens. Hier konkurrierten die Arbeiterparteien SPD und KPD miteinander, Kirchen, Glaube und Religion spielten eine eher untergeordnete Rolle. Die Zahl jüdischer Bürgerinnen und Bürger lag bei nur 3500, ein Anteil von 1,1 Prozent an der Weddinger Bevölkerung. Zum Vergleich: In Wilmersdorf betrug der Anteil der jüdischen Bevölkerung 13,5 Prozent.
Historiker hatten den Wedding, anders als das Scheunenviertel oder das Bayerische Viertel, nicht vorrangig im Blick, wenn sie die Verfolgung jüdischer Familien untersuchten. 1998 stellte die Berliner Geschichtswerkstatt e.V. das Ergebnis einer mehrjährigen Spurensuche vor: „Am Wedding haben sie gelebt – Lebenswege jüdischer Bürgerinnen und Bürger“, lautete der Titel ihres Buches. Interviews und die Rechercheergebnisse aus Archiven und Adressbüchern vermittelten einen Eindruck vom vielfältigen Leben jüdischer Bürgerinnen und Bürger im Arbeiterbezirk Wedding, sie erzählten vom Alltag, vom Miteinander, schließlich von Verfolgung, Flucht, Emigration oder Ermordung. Erst die Spurensuche der Geschichtswerkstatt zeigte, wie jüdische Geschäfte, Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen auch im Wedding zur Normalität der Jahre vor 1933 gehörten. Und sie weckte die Erinnerung an die Vertriebenen und Verfolgten. Nun ist der schon länger vergriffene Band in der Reihe Wedding-Bücher des Verlags Walter Frey in einer aktualisierten Neuauflage erschienen.
Die Berliner Geschichtswerkstatt war Anfang der achtziger Jahre als Teil einer Bewegung entstanden, die sich der Erforschung der Alltagsgeschichte zuwandte. „Geschichte von unten“, so eines der Schlagworte. Ein besonderer Schwerpunkt galt in Deutschland dabei der lange verdrängten NS-Zeit. Schon damals kamen die Interviewerinnen der Geschichtswerkstatt beinahe zu spät. „Vor zwanzig Jahren hätten Sie forschen müssen“, wurde ihnen von den Zeitzeuginnen und Zeitzeugen entgegengehalten. Immerhin gelang es damals noch, eine ganze Reihe von Interviews zu führen und schriftliche Aufzeichnungen zu sichern. Aber auch Zurückhaltung und Ablehnung begegnete den Interviewerinnen.
934 Namen verzeichnete das Jüdische Adressbuch von Groß-Berlin 1929 im Bezirk Wedding. Sie boten einen ersten Anhaltspunkt für die Recherche. Unterlagen aus Verwaltungen, Handelsregistereinträge, Polizei- und Gerichtsakten, die Kartei der deportierten und emigrierten Berliner Jüdinnen und Juden und viele weitere Quellen ergänzten das Bild. Im Anhang des Buches findet sich eine lange Liste von Namen und Anschriften – ergänzt um den Zeitpunkt und den Ort der Deportation.
Rund 200 Weddinger Geschäfte gehörten jüdischen Inhabern, fast die Hälfte boten in der einen oder anderen Form Textilien an. Schon 1933 wurden ihre Verkaufsmöglichkeiten massiv eingeschränkt, sie durften keine Bestellscheine der Bezirkswohlfahrtsämter mehr einlösen oder Lieferungen für die Arbeitsfront übernehmen. In einem Appell wiesen viele der jüdischen Geschäftsleute auf die erhaltenen Ehrungen und Verletzungen im 1. Weltkrieg hin, vergeblich.
Die Autorinnen und Autoren der Geschichtswerkstatt haben viele Spuren jüdischen Lebens im Wedding wieder sichtbar gemacht, haben die Vereine und Organisationen aufgelistet, die vor 1933 aktiv waren und an einen prominenten Weddinger und dessen Biographie erinnert: den Arzt Georg Benjamin. In der Badstraße 40 erinnert im Hausflur eine Gedenktafel an den Weddinger Schularzt und Kommunisten, der von den Nazis 1942 im KZ Mauthausen ermordet wurde. Das Buch enthält einen Aufsatz von Benjamin über die schulärztliche Untersuchung und eine Erinnerung von Michael Benjamin an seinen Vater, der lange sein Schicksal, das geprägt war von Haft und Verfolgung, vor dem Sohn geheim hielt, um ihn zu schützen.
„Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist“, heißt es im Talmud. So sind die eindringlichsten Passagen des Buches die Lebensgeschichten, die aus den Interviews der Autorinnen entstanden sind und die die Erinnerung an die jüdischen Bürgerinnen und Bürger aus dem Wedding wachhalten. Zum Beispiel an die Familie Nathanson, die in der Pankstraße 76 wohnte, einem ansehnlichen Mietshaus, das, wie Ruth Nathansons berichtet, ihr Schwiegervater 1907 vom Magistrat erworben hatte. Die Nazis zwangen die jüdische Familie 1939 zum Verkauf. Ruth, selbst Christin, erlebte die Anfeindungen mit, die sich steigerten und der Familie die Lebensgrundlagen entzogen. 1939 gelingt es Ruth Nathanson noch, Tickets für eine Schiffspassage nach Shanghai zu bekommen, eine der wenigen verbliebenen Fluchtmöglichkeiten. Ihre Schwiegermutter, die später in Riga von den Nazis erschossen wird, zahlt die 6500 Mark für die Tickets. Die Familie muss unter Entbehrungen in der Fremde zurechtkommen, auch die Rückkehr nach dem Krieg ist nicht einfach.
Viele Angehörige von jüdischen Familien im Wedding werden aus ihrem bisherigen Leben gerissen, sie werden deportiert, müssen Zwangsarbeit leisten, werden im KZ ermordet oder wandern, wenn sie es schaffen, nach Palästina aus.
Helga Verleger etwa schildert, wie sie als Kind auf dem Schulweg am 10.November 1938 vorbei an zerstörten jüdischen Geschäften geht. Anni Wolff kommt 1991 mit ihrem Sohn nach Berlin, zeigt ihm das Haus ihrer Kindheit und trifft dabei auf eine jüngere Mieterin, die aus Erzählungen noch den früheren Familiennamen von Anni Wolff kennt: Gattel. Der Küster der gegenüberliegenden Stephanuskirche hatte von der jüdischen Familie berichtet. Annis Vater Richard Gattel, Nationalist und mit 47 Jahren 1917 noch Freiwilliger im 1. Weltkrieg, war bis 1931 Miteigentümer einer Hutfabrik. Die Eltern sterben 1943 und 1944 in Theresienstadt, Tochter Anni gelingt die Emigration nach Palästina, 2009 stirbt sie in Israel.
Im Kapitel „Rekonstruierte Geschichte“ wird anhand von Akten und Dokumenten in mehreren Fällen nachgezeichnet, wie die Enteignung jüdischer Familien erfolgte, etwa des Apothekers Fritz Apt aus der Badstraße.
Ein ebenso beschämendes Kapitel spielt sich in der Nachkriegszeit ab. Die Entschädigungen, die jüdischen Familien zustehen, werden von den Ämtern kleingerechnet. Die Familien, die ihren Besitz und ihre Angehörigen verloren haben, müssen wie Bittsteller um jede Mark kämpfen.
Mit den Jahren ist die Erinnerung an das jüdische Leben im Wedding wieder sichtbarer geworden. Mehr als 60 Stolpersteine erinnern inzwischen an die Namen deportierter und ermordeter jüdischer Familien. Und mit zunehmender Digitalisierung sind auch die Recherchemöglichkeiten einfacher geworden, so dass weitere hinzukommen können. Das Buch bietet dafür ausreichend Motivation.
Am Wedding haben sie gelebt. Lebenswege jüdischer Bürgerinnen und Bürger, Berliner Geschichtswerkstatt (Herausgeber), Autorinnen: Annegret Bühler, Dorothea Führe, Gisela Hahn-Hantke, Andrea Lefèvre, Ursula Schröter, Heike Stange, Neuauflage 2022, Reihe Wedding-Bücher im Verlag Walter Frey, ISBN 978-3-946327-33-2, 20 EUR