Karl Scheffler: „Berlin – ein Stadtschicksal“

Cover "Berlin - ein Stadtschicksal" - Ausgabe von 1989

Cover „Berlin – ein Stadtschicksal“ – Ausgabe von 1989

Berlin wächst und verändert sich.  Der rasante Wandel in den Jahren nach der Wiedervereinigung der beiden Stadthälften, neue Räume für Kultur, für innovative Firmen und Projekte zu Beginn des neuen Jahrtausends –  all das wurde immer wieder mit den Worten kommentiert, Berlin sei „dazu verdammt: immerfort zu werden und niemals zu sein“. Eine treffende Beschreibung, keine neue allerdings. Der Kunstkritiker Karl Scheffler(1869 – 1951)  hat sie schon 1910 zu Papier gebracht,  in seinem Buch „Berlin – ein Stadtschicksal“.  Eine Streitschrift, die seither immer wieder Neuauflagen erlebte.

Schon nach den ersten Seiten stellt sich für die Leserin oder den Leser allerdings vor allem eine Frage: Was hat ihm diese Stadt getan?  

Interessiert, aber mit spürbarer Distanz beschreibt Scheffler, der lange in Berlin lebte,  die Entstehungsgeschichte Berlins und Cöllns aus Siedlungen von germanischen Ackerbauern und wendischen Fischer. Seine fundamentale Kritik an der Stadt und am Wilhelminismus, die nach dem Erscheinen auf viel Widerspruch in der Stadt stieß, relativiert er zwanzig Jahre später etwas – als „Groll aus gekränkter Liebe“.

„Berlin ist niemals ein natürliches Zentrum, niemals die vorbestimmte deutsche Hauptstadt gewesen“, so Schefflers Urteil über die Stadt, die sich „weit ab von den Stammgebieten der deutschen Kultur“ befinde.   Berlin sei ganz anders als die organisch gewachsenen Hauptstädte Paris oder London. Und tatsächlich war es lange Zeit unvorstellbar, dass das preußische Berlin einmal Hauptstadt eines weit in den Westen reichenden Deutschlands werden könnte.

Berlins Stadtanlage beschreibt er als „schwierig und künstlich“. „Der zur Formlosigkeit verdammte Geist hat sich einen formlosen Stadtkörper gebildet“, stellt Scheffler fest. Der Stadtplan  beweise den Mangel an klarer Gliederung. Allenfalls der Friedrichstadt, einem Gebiet um die Friedrichstraße und Lindenstraße in Kreuzberg, bescheinigt Scheffler eine gewisse Ordnung, allerdings als „eine dem Stadtplan willkürlich angefügte Fürstenanlage“.

Es ist ein heute verloren gegangener Blick auf die Stadt: Berlin ist für Scheffler eine Stadt  der Kolonisten, die aus vielen Teilen Deutschlands und Europas in den Osten kamen, Hugenotten, Slawen, Juden darunter, um unter rauen Bedingungen  zu  leben und zu arbeiten. Der Kolonistengrundsatz, sich nicht verblüffen zu lassen, prägte den Berliner Witz und die Schnoddrigkeit, vermutet der Autor.  Der Sinn für Kunst und Kultur ist hier nur wenig entwickelt, Gotik und Renaissance drangen nicht hierhin vor, Andreas Schlüters Denkmale sind, so Scheffler, „Fremdgewächse“ und nicht berlinisch, nur Schinkel  billigt er das „Berlinische“ zu. Erst nach der Ära Friedrichs des Großen begann der Adel in Berlin eine Rolle zu spielen, klagt Scheffler.  Und über die Bevölkerung urteilt er: „Alle lassen sich gehen wie Menschen, die auf gute Haltung etwas zu geben noch nicht gelernt haben.“ Von früh bis spät renne ein überarbeitetes Kolonistenvolk durch die Gassen, das von Würde nichts wisse.

Auf das rasante Wachstum Berlins im 19. Jahrhundert  wurde mit schematischen Plänen reagiert, Scheffler vergleicht sie mit der Entwicklung  amerikanischer Kolonialstädte.  „Was man in der Reichshauptstadt Platz nennt, das ist einfach eine größere oder kleinere Öffnung, auf die ein halbes Dutzend Straßen münden, und über die der Verkehr kreuz und quer lebensgefährlich dahinbraust; oder es sind Lichtungen im Häuserwald, die vom Landschaftsgärtner mit Gebüsch bewaldet werden, oder in deren Mitte eine unsagbar häßliche Ziegelsteinkirche gepflanzt ist.“

Die Stadt ist für Scheffler Arbeitsplatz, Wohnen sollte in den Vororten stattfinden. Eine Entwicklung, die Jahrzehnte später tatsächlich stattfand und zur Verödung der Innenstädte führte.  Manch andere vom Geist des beginnenden 20. Jahrhunderts geprägte Überlegung Schefflers ist zum Glück nicht in Erfüllung gegangen. Dennoch zeigen die vielen Auflagen des Büchleins von 1910, wie gerne ein wortgewaltiger Verriss der Hauptstadt immer wieder gelesen wird. Scheffler selbst hat sein Buch in einer zweiten Auflage 1931 entschärft und statt der Betonung des Schicksalhaften  ihm nun den Titel „Wandlungen einer Stadt“ mitgegeben.

Neu:
Karl Scheffler: „Berlin – ein Stadtschicksal“,  Hrsg. und mit einem Vorwort von Florian Illies, Suhrkamp Verlag, Berlin 2015, 222 Seiten, 21,95 Euro gebunden,  ISBN: 978-3-518-42511-4

Antiquarisch:
Karl Scheffler: „Berlin – ein Stadtschicksal“,  Verlag Erich Reiss, Berlin 1910, 267 S.,
Berlin – Wandlungen einer Stadt, überarbeitete Ausgabe 1931 Verlag Bruno Cassirer, Berlin

Karl Scheffler: „Berlin – ein Stadtschicksal“,  Nachwort von Detlef Bluhm, Verlag Fannei & Walz, Berlin 1989, 222 S., ISBN 10: 3927574023 ISBN 13: 9783927574021

 

 

Über Ulrich Horb

Jahrgang 1955, Journalist und Fotograf in Berlin
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