Nach den schweren Ausschreitungen in Kreuzberg im Mai 1989 standen Innensenator Erich Pätzold (SPD) und die Polizeiführung unter Medienbeschuss. Dabei hatte die Polizei mit ihrer Taktik einen gewaltigen politischen Erfolg zu verzeichnen: Die Autonomen Gruppen wurden isoliert, der „Kiez“ sah in den Ordnungshütern erstmals seit Jahren wieder „Freunde und Helfer“.
Der Gewaltausbruch am Abend des 1. Mai war zwar erwartet worden, hatte in seiner Heftigkeit allerdings alle überrascht. Die Kraftprobe mit dem neuen rot-grünen Senat hatten Anhänger der Autonomen schon mehrmals zuvor gesucht. Mit Hausbesetzungen in Kreuzberg und Charlottenburg etwa, die allerdings durch Verhandlungen beigelegt wurden. In einem Fall, bei der Besetzung des ehemaligen Arbeitsschutzmuseums in der Fraunhoferstraße, hatten sich die Besetzer, die hier die Einrichtung eines „revolutionären Zentrums“ gefordert hatten, nach tagelangen Auseinandersetzungen und Verhandlungen still und heimlich aus dem Staube gemacht. In einem anderen Fall, als RAF-Sympathisanten das Amtszimmer des Regierenden Bürgermeisters kurzzeitig besetzten, schritt die Polizei ein – unter Aufsicht von Beobachtern der Alternativen Liste, die den Besetzern per Pressemitteilung im Nachhinein bescheinigten, die falsche Adresse aufgesucht zu haben.
Keine Spaltung des rot-grünen Senats
Die Spaltung des rot-grünen Senats, so die Einsicht der Autonomen, ließ sich so jedenfalls nicht erreichen. Die AL, die in der Koalitionsvereinbarung die Formel für das staatliche Gewaltmonopol gebilligt hatte, hielt sich an ihre Zusagen, distanzierte sich von Gewalttätern, ermahnte zu politischem Handeln, stellte sich mit deutlichen Worten hinter die Politik des Senats. Im Kiez gaben die Autonomen Anti·AL·Parolen aus: „Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten. Wer verrät uns schneller? Die ALer.“ Autonome störten das Fest der Berliner „taz“ Mitte April in Kreuzberg, der sie vorwarfen, wie die AL die „Bewegung“ zu zerstören, falsch zu berichten, autonome Positionen zu unterdrücken.
Es war naheliegend, dass sich Autonome den 1. Mai für ein „Revival“ des Krawalls ausgesucht hatten, der vor zwei Jahren für Aufsehen gesorgt hatte. Im Schutze des gut besuchten Stadtteilfestes am Lausitzer Platz, von dem aus die Gewalt vor zwei Jahren eskalierte, hofften sie auch diesmal, gegen die Polizei vorgehen zu können, zudem wurde am Nachmittag eine „Revolutionäre Maidemonstration“ veranstaltet, die durch Kreuzberg und Neukölln führte.
Schon hier gingen die ersten Fensterscheiben kaputt, wurden Spielsalons und Banken Ziel von Steinwürfen. Die Polizei hielt sich zurück. Die sichtbare Präsenz war anfangs gering, zum Teil waren Mannschaftswagen in den Seitenstraßen postiert. Nach den ersten Gewaltaktionen schritt die Polizei ein, ging aber nicht insgesamt gegen die – zum weitaus überwiegenden Teil friedlichen – Teilnehmer vor, um eine weitere Eskalation zu vermeiden.
Rettung eines Polizisten
Deeskalation bestimmte auch das Polizeikonzept, als es am Rande des Lausitzer-Platz-Festes schließlich wieder zu gewalttätigen Aktionen kam. Randalierer stürmten Getränkeshops. Im Kiez zwischen Waldemarstraße und Lausitzer Platz wurden Barrikaden errichtet, Autos angezündet. Mit unerhörtem Hass gingen Jugendliche auf Polizisten los, die weiterhin defensiv blieben. Türkische Jugendliche waren es, die einem jungen Polizisten das Leben retteten. Er war von einer Gruppe Autonomer niedergeschlagen worden, die ihm auch die Dienstpistole entwendeten. Polizisten waren einem Steinhagel ausgesetzt, Autonome beschossen sie mit Zwillen, warfen Molotow-Cocktails.
Äußerlich glichen die Ereignisse denen von 1987. Allerdings gab es gravierende Unterschiede. 1989 hatte die Polizei den Abzug der friedlichen Festbesucher gewährleistet, hatte die Auseinandersetzung nicht über ihre Köpfe hinweg gesucht. Hatten 1987 Tränengasgranaten wahllos Unbeteiligte, Anwohner und Autonome getroffen, so ging die Polizei 1989 besonnen vor, war allerdings angesichts einer Zahl von rund 2.000 an der Auseinandersetzung Beteiligten zeitweise, so Polizeipräsident Schertz, am Ende ihrer Möglichkeiten.
Der Gewaltausbruch hatte diesmal nichts mit einem sozialen Aufschrei Entrechteter oder mit politischer Auseinandersetzung zu tun. Ohnehin spielten politische Begriffe für einen großen Teil der Kreuzberger Autonomen nur noch eine untergeordnete Rolle. Da zählte eher die Möglichkeit, sich beim Plündern kostenlos mit Schnaps und Zigaretten versorgen zu können. Und da zählt die Möglichkeit, auf Polizisten einzuschlagen – für die Autonomen der personifizierte Staat, das „Schweinesystem“.
1987 gab es Erklärungsversuche für den Kreuzberger Gewaltausbruch. Damals hatte die Polizei mit unzureichenden Kräften hartes Durchgreifen demonstrieren wollen, war an der Masse der Beteiligten gescheitert, hatte sich schließlich zurückgezogen und der „Szene“ stundenlang das Feld überlassen. Damals hatten sich Jugendliche, Kinder, aber selbst Rentner an den Plünderungen beteiligt. Es war die Zeit der großen Stadtfeier 750 Jahre Berlin, in der aufpolierten Innenstadt hatte der CDU-Senat gute Laune verbreitet, weite Teile der Kreuzberger, Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger, junge wie alte, hatten sich davon abgekoppelt gesehen. Eine Handvoll Autonomer hatte die Lunte des Pulverfasses Kreuzberg angezündet und sich genüsslich zurücklehnen können.
Zwei Jahre später griff die Eskalation nicht um sich. Nur: Gewachsen war die Zahl derer, die bereit waren, Gewalt anzuwenden. Sie hatte sich nahezu verdreifacht. Mit dabei waren jetzt immer mehr Heranwachsende, erstmals haben sich auch türkische Jugendliche massiv an der Auseinandersetzung beteiligt.
An den Zahlen wurde eine Entwicklung deutlich, die sich mehr oder weniger im Verborgenen abgespielt hatte. Der enorme Rekrutierungserfolg der Autonomen hatte zum Teil Jahre zurückliegende Ursachen. Unterschiedlich waren auch die Motive der einzelnen, sich zu beteiligen. Einige hatten Arbeitslosigkeit erlebt, einige lebten von Sozialhilfe, einige waren aber auch wegen Alkoholismus arbeits- und kommunikationsunfähig, einige verbrämten auch nur die Lust zur Gewaltanwendung und zum Ladendiebstahl mit politischen Floskeln, manche waren auf der Suche nach dem Abenteuer in der Großstadt. Allen war gemeinsam, dass sie nicht aus innerem Antrieb zum Leben am Rande der Gesellschaft gekommen waren, dass es trotz aller Diskussionen nach dem 1. Mai 1987 keine wirklichen Anstrengungen gegeben hatte, ihnen Angebote für Arbeit und strukturiertes Leben zu machen. Es war in den vergangenen zwei Jahren nicht gelungen, einzelne durch solche Angebote aus der „Szene“ herauszubrechen. Im Gegenteil, die Ausgrenzung ging weiter, die Polizei wurde als Mittel zur Lösung der Konflikte benutzt.
Kein Vorwand für Gewalteskalation
1989 hatte sich die Polizei erstmals anders verhalten. Sie hatte keinen Vorwand für die Eskalation der Gewalt geliefert. Sie hatte damit zwar nicht die Gewalttaten der Autonomen verhindern können, sie hatte ihnen aber – auch unter dem Opfer von 335 verletzten Polizeibeamten – jegliche politische Legitimation im Kiez entzogen. Mehr noch: In Kreuzberg hatte erstmals eine Gegenbewegung eingesetzt. Linke Sozialarbeiter, Lehrer, Intellektuelle, die im Kiez wohnten, die bislang vornehmlich die sozialen Ursachen der Gewalt sehen, sahen jetzt die Folgen. In den Gesprächen am Straßenrand, die vor allem am Tag nach dem 1. Mai überall in Kreuzberg stattfanden, stand vor allem im Mittelpunkt, wie Bürger selbst auf diejenigen einwirken könnten, mit denen sie zusammenwohnen, wie sie Gewaltausbrüche verhindern und Vernunft wieder in den Kiez einkehren lassen könnten.
In einem Kiez·Bündnis engagierten sich danach erstmals viele Gruppen, die sonst den Autonomen eher Entgegenkommen und Verständnis signalisiert hatten. Klar war: Ein „harter Kern“ der Szene war aus unterschiedlichen Motiven nicht mehr ansprechbar, blieb er allerdings isoliert, hatte er keine Möglichkeit mehr, ähnliche Gewaltaktionen zu wiederholen.
Das Sympathisantenfeld bröckelte ab, neue Gewalttäter kamen nicht mehr hinzu. Zwar konnte die Deeskalationstaktik der Polizei mittelfristig zum Erfolg führen, 1989 waren allerdings noch kurzfristige Erfolge gefragt. So stand Innensenator Pätzold (SPD) auch unter den Beschuss der sonst eher noch gemäßigten DGB-Polizeigewerkschaft. Das Konzept der Deeskalation sei gescheitert, erklärte ihr Vorsitzender von Walsleben kurzerhand. Und die Springer-Boulevard-Blätter „Bild“ und „BZ“ machen sich zu Volkes Stimme. Schlagzeile der „BZ“ am 3. Mai: „Will man uns Berliner für dumm verkaufen? Der Straßenterror und die seltsamen Sprüche der Verantwortlichen“. Zwanzig Festnahmen in der Nacht des 1. Mai wurden als nicht ausreichend gerügt.
Pätzold hielt an der Linie des Senats fest. Gewerkschafter wie Abgeordnetenhaus-Opposition verlangten, dass gegen vermummte Gewalttäter hart vorgegangen werden sollte. Das allerdings war gar kein Streitpunkt. Dem stimmte inzwischen auch die AL öffentlich zu. Bürger sollten genauso wie ihr Eigentum weiter von der Polizei geschützt werden.
In den Folgejahren kam es am 1. Mai rund um den Lausitzer Platz und die Oranienstraße immer wieder zu mehr oder weniger heftigen Straßenschlachten. 1998 gab es nach heftigen Auseinandersetzungen über 400 Festnahmen. 1999 wurden Barrikaden aus Bauwagen, Toilettenhäuschen und Baumaterialien errichtet und in Brand gesteckt, 159 Beamte wurden verletzt, 133 Personen festgenommen. 2002 plünderten rund 200 Jugendliche am Oranienplatz nach einem Konzert einen Supermarkt, es gab 34 Festnahmen in der Nacht. Ab 2003 veranstaltete ein Kiezbündnis aus Anwohnern, Gewerbetreibenden und verschiedenen Projekten und Initiativen in der Oranienstraße ein „Myfest“ und durchbrach damit die Gewaltrituale des 1. Mai.