Seine Beobachtungen hat er in zahlreichen Bildern festgehalten. Es sind Momentaufnahmen aus dem alten Berlin, Stadtlandschaften, aber auch Einblicke in das Leben der Arbeiter, der Arbeitslosen und Obdachlosen im Berlin der zwanziger und dreißiger Jahre. Als genauer Beobachter erweist sich der Maler Otto Nagel aber auch in seinem Ende der zwanziger Jahre entstandenen Roman „Die weiße Taube oder Das nasse Dreieck“, der jetzt in einer Neuauflage im Verlag Walter Frey erschienen ist.
In seinen Bildern hat Otto Nagel den Verarmten, die in den heruntergekommenen Berliner Mietskasernen um das Überleben kämpften, ein Gesicht gegeben. In seinem einzigen Roman gibt er ihnen auch eine Stimme. Es ist die Geschichte eines unaufhaltbaren Abstiegs, erzählt aus der Sicht von Wilhelm Thiele, der arbeitslos wird und im „Nassen Dreieck“ landet, der „Pennerkneipe“ von Muttchen im Wedding, einem Treffpunkt der Obdachlosen und Bettler. Sie alle bekommen keinen Pfennig Arbeitslosenhilfe mehr. Zwei Millionenen Menschen leben in dieser Zeit in Deutschland ohne jede Unterstützung.
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Sie alle versuchen sich durchzuschlagen, ein paar Pfennige zu erbetteln, manchmal gibt es Gelegenheitsjobs. Als die Zeiten noch schlechter werden und auch die Angebettelten keinen Pfennig mehr haben, behelfen sie sich mit kleinen Diebstählen und Wilderei. Thiele findet noch einmal eine Liebe und heiratet. Seine Frau Minna wird schwanger, aber ein Kind würde die Not vergrößern. Nur verhindert auch ein improvisierter Schwangerschaftsabbruch die Geburt nicht. Das Geld für die Untermiete ist immer schwerer aufzubringen, Not und Hunger werden immer größer.
Den Schankraum des „Nassen Dreiecks“ hat Otto Nagel auch im Bild festgehalten, ebenso wie den kräftigen Budiker hinter dem Tresen der Weddinger Kneipe „Zum Alten Fritz“. Mit Kohle hat er einen „armen Bruder“ gezeichnet, der gebeugt vor der Schaufensterscheibe eines Ladens steht und auf die unerreichbaren Wurstwaren schaut. Szenen, die er in seinem Roman genauso anschaulich schildert. „Dies Menschen des Romans kannte ich fast alle“, schreibt Walli Nagel, Otto Nagels 1983 verstorbene Ehefrau, im Vorwort. Sie weist auf die „stark autobiographischen Züge“ des Romans hin. Und sie bekräftigt 1977, als das Manuskript nach langer Odyssee erstmals erscheint, dass Otto Nagel mit diesem Buch etwas aussagen wollte, „die Gesellschaft verdammen, anklagen, eine Gesellschaft in der niemand dem anderen die Hand reichte“. Wie seine Freunde Heinrich Zille und Käthe Kollwitz ist Nagel ein politischer Künstler. Als Sohn eines Tischlers ist Nagel in einer sozialdemokratischen Weddinger Familie aufgewachsen, ab 1912 wurde er dann selbst SPD-Mitglied und wechselte 1920 in die KPD.
Nagel beschreibt nüchtern den persönlichen Alltag und die gesellschaftlichen Umstände. Während die einen hungern, gibt es Waren im Überfluss, die sich niemand leisten kann. „Auf den Halden lagen die Kohlengebirge und in Berlin erfroren in den Proletenwohnungen die Säugling“, heißt es im Buch. Und es bleibt die Frage offen: „Warum schlossen diese Millionen vernunftbegabter Lebewesen sich nicht zusammen?“
Von den Nazis mehrfach inhaftiert und mit Malverbot belegt, gehört Nagel 1945 zu den Mitbegründern des Kulturbundes, er wird Mitglied der SED, gehört der Volkskammer an und ist von 1956 bis 1962 Präsident der Akademie der Künste der DDR. Erst 11 Jahre nach seinem Tod erscheint 1978 sein Roman erstmals in der DDR. 1983 verfilmte das DDR-Fernsehen das Buch unter dem Titel „Es geht einer vor die Hunde“.
Otto Nagel
Die weiße Taube oder Das nasse Dreieck
Roman – mit einem Vorwort von Walli Nagel und einem Nachwort von Brunhilde Wehinger
226 Seiten, 15,– €, ISBN 978-3-946327-10-3
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