Straßennamen dienen der Orientierung im Gewirr der Städte. Mit ihrer Benennung werden in der Regel Personen, Orte und Begriffe hervorgehoben, die zum Zeitpunkt der Namensgebung als vorbildlich und würdigenswert empfunden wurden – Bewertungen, die sich im Laufe der Zeit ändern können. Das zeigen die Debatten zu Straßenumbenennungen in Berlin, etwa im Afrikanischen Viertel in Berlin-Mitte.
Berlin hat rund 10.000 Straßen und Plätze. Viele noch gültige Straßennamen würden heute so nicht mehr vergeben. Aber sie gehören – wie auch die zahlreichen doppelt vergebenen Namen in ehemaligen Vororten – zur Stadtgeschichte und sind aus dem jeweiligen Zeitgeist erklärbar.
Heutige Neubenennungen folgen zum Teil zusätzlichen Überlegungen, etwa der Idee, gezielt den Anteil von Frauennamen im Straßenbild zu erhöhen. Straßenbenennungen werden auf bezirklicher Ebene beschlossen, unterlagen aber immer wieder auch übergeordneten politischen Einflüssen, etwa wenn in der Nachkriegszeit in Westdeutschland und West-Berlin die Erinnerung an ehemals deutsche Orte und Landschaften, die nun in Polen lagen, im Straßenbild wachgehalten werden sollte. Die Straßennamen zeugen von gesellschaftlichen Debatten und auch von gesellschaftlichen Mehrheiten.
Anders als Straßennamen haben die Benennungen von Schulen, Hochschulen oder ähnlichen öffentlichen Einrichtungen eine identitätsstiftende Funktion. Kann der Name diese Aufgabe nicht mehr erfüllen, sollten entsprechende Initiativen auf Neubenennung ernsthaft unterstützt werden. Straßenumbenennungen sind dagegen eher ein letztes Mittel, um sich von falschen Vorbildern, von abwertend genutzten Begriffen oder historischen Fehlbenennungen zu distanzieren. Zwei Phasen von Namensgebungen, die der NS-Zeit und die der DDR-Zeit, sind durch Umbenennungen – oder in vielen Fällen Rückbenennungen – weitgehend aus dem öffentlichen Erscheinungsbild getilgt. Dabei ging man zum Teil ungewöhnliche Wege: Am 18. Juni 1945 beschloss der gerade eingesetzte Magistrat Berlins, Straßenumbenennungen in die Verantwortung des Polizeichefs zu geben.
Immer wieder gibt es lokale Vorstöße, weitere Straßennamen infrage zu stellen. In den meisten Fällen handelt es sich dabei um Vorgänge, die mit der wenig bis nicht aufgearbeiteten Geschichte des 19. Jahrhunderts zusammenhängen, mit der Gründung des Nationalstaats und der Zeit des Kolonialismus.
Dabei geht es zum einen um Begriffe, die heute als diskriminierend empfunden werden, wie etwa bei der Mohrenstraße in Mitte. Zum anderen geht es um Benennungen nach Personen, die nach heutigen Maßstäben nicht mehr als Vorbild gelten können, wie im Afrikanischen Viertel oder der nach einem umstrittenen Historiker benannten Treitschkestraße in Steglitz-Zehlendorf.
Das Beispiel der Mohrenstraße zeigt, wie aus unterschiedlichen Blickwinkeln heraus gegensätzliche Schlüsse gezogen werden können. Die Befürworter der Umbenennung setzen bei der heutigen Wirkung des Wortes Mohr an, empfinden den Begriff als kolonialrassistisch belastet und als Beleidigung von Menschen mit afrikanischen Wurzeln. In einer Herkunftsbeschreibung des Straßennamens verwies Hermann Vogt 1885 auf dort einquartierte Schwarze, die – unfreiwillig -zum preußischen Militärdienst herangezogen werden sollten.
Historisch könnte mit dem Namen jedoch auch eine Würdigung beabsichtigt gewesen sein. 1706, so legen es die Beschreibungen von Friedrich Nicolai nahe, erhielten die Straßen in der neu entstandenen Friedrichstadt, zu der auch die Mohrenstraße gehörte, ihre Namen. Damals gab es keine Kolonien, wohl aber einen Handelspakt Preußens mit einem ghanaischen Fürsten. Diese Verbindung wurde, so die These einiger Historiker, durch den damals gebräuchlichen Begriff Mohr, abgeleitet von den Mauren, mit einer Straße gewürdigt. Allerdings hat es tatsächlich auch aus Ghana nach Preußen gebrachte Sklaven am Hofe von Kurfürst Friedrich Wilhelm gegeben. So geht es einerseits um eine heute mögliche verunglimpfende Wirkung und andererseits um eine historische Aufarbeitung und Einordnung. Wobei es für die Initiatoren der Umbenennung auch darauf ankommen dürfte, ein Symbol zu setzen und die Aufarbeitung der kolonialistischen Vergangenheit Deutschlands einzufordern. Mit der Umbenennung wäre eine solche Aufarbeitung indes beendet. Zumindest müsste nach einer neuen Namensgebung mit einer Infostele über die frühere Benennung, die verschiedenen historischen Erklärungsversuche und den Konflikt informiert werden.
Kolonialismus im Afrikanischen Viertel
Symbolisch aufgeladen ist auch die Debatte um einige der Straßennamen im Afrikanischen Viertel im Wedding. Die Lüderitzstraße, der Nachtigalplatz oder die Petersallee, die von Kritikern als Verherrlichung der deutschen Kolonialgeschichte gesehen werden, sollen Platz für neue Namen machen. Für die Befürworter der Umbenennung sind die Straßennamen Ausdruck einer bis heute andauernden und auf den Kolonialismus zurückgehenden rassistischen Einstellung. Seit 2012 informiert eine Stele über die Konflikte, die sich in den Straßennamen zeigen.
Die historische Bewertung von Carl Peters (1856 – 1918) fällt heute negativ aus. Peters, vom britischen Kolonialismus beeindruckt, sammelte – zunächst als Privatmann mit seiner „Gesellschaft für deutsche Kolonisation“ – um 1884 Unterschriften in Form von Kreuzen afrikanischer Häuptlinge unter „Schutzverträgen“, um ein deutsches Kolonialreich aufzubauen. Selbst Bismarck kam das Vorgehen zeitweise obskur vor. Peters provozierte militärische Konflikte, wurde schließlich aber Reichskommissar für das Kilimandscharogebiet. Das Verhalten von Peters wurde – wie die gesamte Kolonialpolitik – im Reichstag vom sozialdemokratischen Abgeordneten August Bebel heftig attackiert, der „Vorwärts“ charakterisierte ihn als Menschen, der „in Ermangelung von Juden drüben in Afrika Neger totschießt wie Spatzen“. 1897 wurde Peters unehrenhaft aus dem Dienst des Deutschen Reichs entlassen, 1937 wurde dies posthum durch einen Erlass Hitlers aufgehoben. Zwei Jahre später erfolgte die Benennung der Straße im Afrikanischen Viertel nach Peters. Mit einem Trick beseitigte die Bezirksverordnetenversammlung Wedding 1986 die kolonialistische Verknüpfung. Statt an Carl Peters erinnert die Straße heute an Hans Peters, Berliner Zentrumspolitiker, Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime und CDU-Politiker in der Nachkriegszeit – was eine erneute Umbenennung erschwert, von den Kritikern allerdings als Mogelpackung empfunden wird. Denn tatsächlich ist diese Umwidmung im Kontext des Afrikanischen Viertels nur schwer erkennbar.
Als Vorbild kann auch der Kaufmann Adolf Lüderitz (1834 – 1886) heute nicht mehr gelten. Er hatte 1883 über einen Abgesandten Grundbesitz vom Stamm der Nama erworben. Während die Nama davon ausgingen, dass dem Verkauf als Maßeinheit englische Meilen (1,6 Kilometer) zugrundelagen, setzte Lüderitz durch, dass es sich um preußische Meilen (7,5 Kilometer) handelte. Mit diesem Betrug legte er den Grundstock für die Kolonie Deutsch-Südwestafrika. Dort gibt es noch immer die Stadt Lüderitz, deren Umbenennung seit einigen Jahren diskutiert wird.
Etwas differenzierter fällt der Blick auf den Afrikaforscher Gustav Nachtigal (1834 – 1885) aus, der als Gesandter Preußens zwischen 1868 und 1875 die heutigen Gebiete von Tschad, Nigeria, Kamerun und Sudan bereiste und mit Reiseberichten zurückkehrte, die der Realität in Afrika durchaus gerecht wurden. Bismarck brachte Nachtigal dazu, 1884 die Funktion des Reichskommissars für Westafrika zu übernehmen. In diesem von Nachtigal ungeliebten Amt folgte er trotz seines früher geäußerten Verständnisses und Respekts vor der afrikanischen Bevölkerung der Logik des damaligen Kolonialismus und übte Gewalt und Repression aus.
Für die Neubenennung der umstrittenen Straßen und Plätze im Afrikanischen Viertel wurde nach jahrelanger Diskussion vom Bezirk eine Jury eingesetzt, die 2017 eine Auswahl aus 196 Namensvorschlägen von Bürgerinnen und Bürgern vornahm. Ihr gehörten auch verschiedene Vertreter der durchaus heterogenen afrikanischen Community an. Bei den Vorschlägen zeigte sich die Widersprüchlichkeit von Persönlichkeiten: Die als Namensgeberin vorgesehene Nzinga Königin von Ndongo und Matamba (1583 – 1663) im heutigen Angola wird zwar auf einer UNESCO-Liste als Heldin des Kolonialkampfs gewürdigt, hat aber offenbar in großer Zahl Sklaven an Holländer verkauft. Die Jury muss ihre Vorschläge nun neu bewerten.
Erfolgreiche Umbenennungen
Nach einem anfänglich liberalen, später nationalistischen und antisemitischen Historiker ist eine Straße in Steglitz-Zehlendorf benannt: die Treitschkestraße, deren Umbenennung bereits seit 2003 gefordert wird, aber an der Mehrheit von CDU und Grünen im Bezirk scheiterte. Seit 2008 informiert eine Infostele über den Historiker, der schon zu Lebzeiten wegen seiner parteilichen Geschichtsschreibung umstritten war. Treitschkes Formulierung „Die Juden sind unser Unglück“ aus dem Jahre 1879, die er als angeblich allgemeine Erkenntnis der Deutschen ausgab, wurde später zum Motto des NS-Hetzblatts „Der Stürmer“. Der national-konservative Historiker bereitete mit seiner Kritik an den Juden als einem „fremden Element“ in der Gesellschaft den Weg des Antisemitismus in die bürgerliche Gesellschaft vor.
Auch Treitschkes Schüler Dietrich Schäfer (1845 – 1929) zeichnete sich durch antisemitische Äußerungen und aggressive Forderungen nach einem „Siegfrieden“ im 1. Weltkrieg aus. Der 1934 nach ihm benannte Weg in Steglitz-Zehlendorf wurde allerdings bereits 1992 – auch nach einer dreijährigen juristischen Klärungsphase – in Carl-Heinrich-Becker-Weg umbenannt. Becker (1876 – 1933) war Orientalist und Kultusminister in der Weimarer Republik.
Gut zwei Jahre – von 1995 bis 1997 – dauerte es, bis die Reichssportfeldstraße am Olympiastadion in Charlottenburg-Wilmersdorf, die 1936 ihren Namen bekommen hatte, in Flatowallee umbenannt werden konnte. Gewürdigt werden damit die jüdischen Turner Alfred Flatow und sein Cousin Gustav Felix Flatow, die von den Nazis im Konzentrationslager Theresienstadt ermordet wurden. Durchsetzen konnte sich mit dem Vorschlag eine Anwohnerinitiative, nachdem sich die Berliner CDU einem ersten Vorstoß 1989 noch verweigert hatte.
Erfolgreich umbenannt wurde 2016 auch die Einemstraße am Nollendorfplatz, in der NS-Zeit nach dem preußischen Kriegsminister Karl von Einem (1853-1934) benannt, der während des Herero-Aufstands im früheren Deutsch-Südwestafrika (heute: Namibia) verantwortlich für den Tod zehntausender Menschen war. Und noch in seinen Memoiren äußerte er 1933 seinen Stolz auf die „Leistungen“ der Offiziere und Mannschaften. Zugleich rief er dazu auf, homosexuelle Soldaten und Offiziere zu „vernichten“. Neuer Namensgeber wurde Karl Heinrich Ulrichs (1825-1895), ein Jurist, der sich schon 1867 gegen die strafrechtliche Verfolgung Homosexueller wandte und Deutschland schließlich verlassen musste. Auch hier gab es um die Benennung eine längere Auseinandersetzung – da die Straße durch zwei Bezirke führt, mussten beide Bezirke zustimmen. Im Schöneberger Teil erfolgte die Umsetzung 2013, in Mitte verzögerte die Klage einer Anwohnerin die Umbenennung.
Schon 1990 wurde die kurze Graf-Spee-Straße im Tiergartener Diplomatenviertel, benannt nach einem früheren Admiral, in Hiroshimastraße umbenannt. Damit sollte der kriegerische Bezug getilgt werden und an die erste Stadt erinnert werden, über der eine Atombombe abgeworfen wurde.
Wie mit der Widersprüchlichkeit von Personen oder Begriffen umgegangen wird, wird auf bezirklicher Ebene entschieden. Eine einheitliche Berliner Regelung zum Umgang mit Straßenumbenennungen gibt es nicht, auch keine allgemein vereinbarten Grundsätze unter den Bezirken. Ausschlaggebend für die Entscheidung sind der Druck der Interessengruppen vor Ort und die jeweiligen politischen Mehrheiten. Dazu kommt, dass Anwohner oft wenig Interesse an Umbenennungen ihrer Straße haben, die für sie mit umständlichen Änderungen von Ausweispapieren und Briefbögen verbunden sind.
Es stellt sich zudem die Frage, wie viel Unrecht ein Namensgeber zu verantworten haben muss, bevor eine Straßenumbenennung erfolgt. Ist es gerecht, wenn etwa mit Bismarck ein Hauptverantwortlicher für die Kolonialpolitik weiter im Straßenbild erscheinen darf, während die Erinnerung an die Befehlsempfänger getilgt wird? Und auch Hindenburg, der Hitler zur Macht verhalf, bleibt Namensgebers eines Damms.
Noch gibt es kein Historikergremium, das klären kann, ob eine Namensgebung aus heutiger Sicht noch vertretbar ist. Es gibt keine Regelung, in welchem Umkreis Anwohnerinnen und Anwohner bei der Entscheidungsfindung einbezogen werden sollen und wie verbindlich ihre Meinung sein kann.
Die Tilgung eines umstrittenen Straßennamens ist nicht unbedingt ein Zeichen für die gelungene Aufarbeitung von Geschichte. Nach wenigen Jahren sind die alten Straßennamen aus der Erinnerung verschwunden, die Straßen haben neue Anwohnerinnen und Anwohner. Der Streitfall verschwindet damit aus dem Blick. Bis auf wenige Ausnahmen, in denen Namen der Stadt nicht mehr zumutbar sind, scheint deshalb die ständige Aufarbeitung vor Ort mit Veranstaltungen und Infotafeln der bessere Weg.