„Eine Besserung schlechter Zustände kann nur eintreten, wenn man die bestehenden Missstände aufdeckt, wenn man sie an das Licht des Tages zerrt, damit klar sichtbar wird, wo eingesetzt werden muss, um eine Wendung zum Bessern herbeizuführen.“ Das schrieb 1906 Albert Kohn, Geschäftsführer der Krankenkasse der Kaufleute, Handelsleute und Apotheker in Berlin, die gerade eine bedrückende und schonungslose Dokumentation über die Wohnsituation in der Hauptstadt vorgelegt hatte.
Die Wohnungen sind zu feucht, zu klein, zu dunkel, viel zu viele Menschen leben darin. Kohn, Sozialdemokrat und ab 1914 Direktor der Allgemeinen Ortskrankenkasse Berlin, hat mit der zwischen 1901 und 1920 erfolgten Wohnungsuntersuchung die Zusammenhänge zwischen den Lebensbedingungen und dem Gesundheitszustand der Mieterinnen und Mieter deutlich gemacht und eine sozialpolitische Diskussion angestoßen. Die Fotografien für diese Wohnungs-Enquete und die erhobenen Daten wie Wohnungsgröße und hygienische Zustände zeigten, unter welchen unzumutbaren Zuständen Arbeiterinnen und Arbeiter in den Mietskasernen Kreuzbergs oder Weddings lebten. Kohns Anliegen war es, präventiv zu wirken, die Verhältnisse zu verändern, um Krankheiten gar nicht erst entstehen zu lassen. So änderte sich auch der Blick auf Krankheiten, die nicht mehr nur als individuelles physiologisches Problem begriffen wurden, sondern ihre Ursache auch in gesellschaftlichen Missständen hatten.
Die Fotos haben etwas Intimes, sie geben sehr private Einblicke. Da ist das Fenster mit einer Decke als Schutz vor der Zugluft abgehängt, Mutter und drei Kinder sitzen neben einem Bett, das Wohnzimmer dient gleichzeitig als Arbeitsraum für Damenkonfektion. Eine andere Wohnung in der Franzstraße ist verwahrlost, die Tapete löst sich. Im Schlafraum stehen zwei Betten für sieben Personen. In der Frankfurter Allee liegt eine Kranke in einem Raum, in dem fünf Personen Blusen und Wäsche nähen. In der Kreuzberger Manteuffelstraße sitzt die Mutter mit ihren beiden kleineren Kindern und der 16jährigen lungenkranken Tochter am Tisch und fertigt Knallbonbons. In den Wohnungen stehen Töpfe, Geschirr und Wassereimer auf dem Boden und auf Tischen, an den Wänden hängt Kleidung und ab und zu ein Bild.
Die in der Zeit um den 1. Weltkrieg veröffentlichten jährlichen Studien wurden in den achtziger Jahren im Rowohlt-Verlag in neuer Form veröffentlicht. Die Wiederentdeckung fiel in eine Zeit, in der auf etlichen Hinterhöfen in Kreuzberg, Neukölln oder im Wedding noch immer ähnliche Aufnahmen entstehen konnten und die Sanierungspolitik ein wichtiges Thema war. Herausgeberin Gesine Asmus ergänzte die rund 175 ausgewählten Fotografien mit vier Aufsätzen, in denen die sozialpolitische Entwicklung vor und nach 1900 beschrieben wird, die Fotografien ausgewertet werden, der Alltag der Arbeiterfamilien in den Mietskasernen dargestellt wird sowie das Zustandekommen und die Wirkung die Wohnungs-Enquete. Zu den Fotos gibt es neben den Beschreibungen zur Lage der Wohnung auch Angaben zur Zahl der Bewohnerinnen und Bewohner sowie zu den hygienischen Zuständen.
Gesine Asmus (Hg.), Hinterhof, Keller und Mansarde, Einblicke in Berliner Wohnungselend 1901 – 1920, Die Wohnungsenquete der Ortskrankenkasse für den Gewerbebetrieb der Kaufleute, Handelsleute und Apotheker, Hamburg 1982, 300 S.,