Fotoalben zeigen meist die besonderen Momente: Hochzeiten, Geburtstage, Urlaub. Dahinter verblasst der Alltag, das Gewöhnliche. Dabei erzählt er das eigentliche Leben. Das macht der Blick in den großformatigen Bildband „Alltag in Berlin“ deutlich, der im Elsengold-Verlag erschienen ist. Tausend Fotos aus hundert Jahren beschreiben die Veränderungen einer Metropole, sie schreiben die Geschichte der Stadt im 20. Jahrhundert und wecken Erinnerungen.
Ausgewählt und in Kapiteln übersichtlich geordnet haben die Bilder der Historiker Hans-Ulrich Thamer und die ehemalige Leiterin der Fotosammlung des Berliner Landesarchivs, Barbara Schäche. Zwei Drittel des Bandes sind den Menschen der Stadt gewidmet, ihrer Arbeit, dem Wohnen, der Familie, den Schulen und der Kultur, ein Drittel zeigt Berlin als Hauptstadt der Deutschen mit all den politischen Kämpfen von der Kaiserzeit über die NS-Diktatur und den Wiederaufbau in zwei Teilstädten.
Es lohnt sich, sich von den Geschichten der Bilder einfangen zu lassen, in ihnen nach Vertrautem und Fremden zu suchen. Harte körperliche Arbeit ist zu sehen, Frauen in der Rüstungsindustrie des 1. Weltkriegs, Heimarbeit an der Nähmaschine in den dreißiger Jahren. Firmennamen, die längst verschwunden sind: AEG, Wittler-Brot, das Werk für Fernsehelektronik. Der Scherenschleifer zieht nicht mehr von Haus zu Haus, die kleinen Drogerien sind verschwunden. Ein Foto zeigt die letzte Verkostung in der 1994 stillgelegten Bärenquell-Brauerei. Inschriften an den Häusern zeugen von längst überholten Geschäftsideen: Wer braucht noch eine Gardinenspannerei?
Es sind Bilder von Armut und Elend dabei, verhärmte Gesichter, Kinder, die – 1919 – den Abfall an der Zentralmarkthalle in Mitte nach Essbarem durchsuchen, Frauen im Luftschutzkeller. Kriegsinvaliden gehören zum Stadtbild – nach 1918 und nach 1945. Daneben immer wieder die Suche nach dem privaten Glück: Familienfeste, eine Feier von Laubenpiepern, ein Kettenkarussell, auf dem Kinder vor der Kulisse des zerstörten Stadtschlosses durch die Luft fliegen.
Berlin war und ist voller Veränderungen. Die Fotos erzählen von Zuzug und Integration, von Aufbau, Fortschritt und Irrtum, von der Auseinandersetzung der Systeme an der Grenzlinie zwischen Ost und West mitten in der Stadt. Eine spannende Zeitreise. Ulrich Horb
Hans-Ulrich Thamer, Barbara Schäche, Alltag in Berlin – Das 20. Jahrhundert, 476 S., 1000 Abbildungen, ISBN 9783944594552, € 49,95