Bethanien: Diakonissen, Besetzer, Künstler (VII)

Mariannenplatz, Feuerwehrbrunnen und Bebauung. Sammlung U. Horb

Mariannenplatz, Feuerwehrbrunnen und Bebauung. Sammlung U. Horb

Berlin wächst rasant. Innerhalb von knapp dreißig Jahren zwischen Reichsgründung 1871 und Jahrhundertwende ziehen mehr als eine Million Menschen in die Hauptstadt, die auf  1.888.848 Einwohnerinnen und Einwohner wächst.  Die Luisenstadt, in der das Bethanien liegt, ist eines der Berliner Viertel, das mit seinen Mietskasernen viele der Neuankommenden aufnimmt  und in enge Unterkünfte pfercht. In der Gegend rund um das Bethanien sind Wohnhäuser mit engen Hinterhöfen und Quergebäuden entstanden. Wohnen und Handwerk sind auf engem Raum vereint. Für Stube und Küche zahlen Arbeiter 20 bis 30 Mark, bei einem Lohn von siebzig bis hundert Mark. Meist ist nur ein Zimmer beheizbar, die Toilette auf dem Podest teilen sich zwei bis drei Dutzend Menschen. „Schlafburschen“ tragen als Untermieter zur Finanzierung der Wohnung bei. Geht der  Arbeitsplatz verloren oder reicht der Zuverdienst der Frau nicht mehr aus, geraten die Arbeiterfamilien schnell mit der Mietzahlung in Verzug und werden gekündigt..

Mit Ablauf des  halbjährlichen Mietvertrags am 1. April oder 1. Oktober stehen sie auf der Straße.. „Ziehtage“ heißen diese Termine. Im Jahrbuch für Volkswirtschaft und Statistik von 1871 wird eindringlich beschrieben, wie die Menschen an diesen Tagen mit allen möglichen Transportmitteln unterwegs sind, „um jede Art von Hausrat aus einem Mietsgelass in das andere zu befördern“,  „Tragbahren und Hundekarren, Wagen jeder Gestalt mit Pferden jeder Gattung, oft auch mit keuchenden Menschen bespannt oder von letzteren geschoben“ sind auf den Straßen zu sehen. Und es gibt Gegenden, die besonders betroffen sind: „Am ärgsten jedoch war das Treiben in den Vorstädten, ganz besonders auf der äußeren Luisenstadt vom Halleschen Tor bis zum Lausitzer Platz. Ganze Straßen waren dort zu beiden Seiten so dicht mit Möbeln besetzt, die der Abholung vergeblich harrten, dass  man meinen konnte, es sei dort ein einziges Möbelmagazin etabliert.“

Speisen können nicht lange aufbewahrt werden, die Milch verdirbt schnell, so haben  vor allem Kinder im Sommer häufig Durchfall. Die Erwachsenen leiden an Tuberkulose und Geschlechtskrankheiten.

Schon 1877 und 1878 hat  der Sozialdemokrat Friedrich Wilhelm Fritzsche, Zigarrenmacher, Lyriker und Gewerkschafter, den Wahlkreis Berlin 4 „Luisenstadt jenseits des Kanals, Stralauer Vorstadt, Königsstadt-Ost“ gewonnen. Bis 1881 bleibt er Reichstagsabgeordneter. Nach dem Inkrafttreten des Sozialistengesetzes 1878, das die Betätigung sozialistischer und sozialdemokratischer Organisationen untersagt, wird Fritzsche aus Berlin ausgewiesen und emigriert später in die Vereinigten Staaten.1884 wird  der Sozialdemokrat Paul  Singer, ganz untypisch Inhaber einer Damenmäntelfabrik, im Wahlkreis 4 in den Reichstag gewählt. Auch er wird während des Sozialistengesetzes aus der Stadt verwiesen, gewinnt aber trotz der Behinderungen 1887 und 1890 den Wahlkreis wieder.

Im Januar 1890 wird das Verbot der Sozialdemokratie nicht mehr verlängert. Seine Wirkung hat es verfehlt: Bei den Wahlen 1893 gewinnt die SPD fünf der sechs Berliner Wahlkreise, darunter mit Ewald Vogtherr auch den an das Bethanien angrenzenden Wahlkreis 3 „Luisenstadt diesseits des Kanals, Neu-Cölln“. Paul Singer, 1884 auch in die Berliner Stadtverordnetenversammlung gewählt,  behält sein Reichstagsmandat bis zu seinem Tod am 31. Januar 1911. Zwischen 1880 und 1907 verdoppelt sich die Stimmenzahl für die Sozialdemokratie in Berlin von 126.317 Stimmen auf 251.215 Stimmen. 1912 wählen fast 75 Prozent der Berliner Wahlberechtigten – Frauen haben noch kein Wahlrecht – die Arbeiterpartei.

Mit der Einführung einer Sozialversicherung versuchte Reichskanzler Bismarck der Unzufriedenheit der Arbeiter entgegenzuwirken. 1883 wird  die Krankenversicherung gesetzlich verankert. Allerdings gilt sie nicht für Hausangestellte oder Landarbeiter.  Sie hat aber einen positiven Einfluss auf die Entwicklung der medizinischen Versorgung. Die Zahl der   Medizin-Absolventen an deutschen Hochschulen verdoppelt sich bis 1890 auf  über 8700, kurz vor der Jahrhundertwende gibt es in Berlin mehr als 2300 Ärzte, die nun nicht mehr von Hausbesuch zu Hausbesuch gehen, sondern in eigenen Praxen Patienten behandeln.

In den Jahren um 1900 folgen auf dem Gelände der Diakonissenanstalt Bethanien nahezu jährlich Erweiterungen. Zusätzliche Krankenunterkünfte werden gebaut, die Stallungen erweitert, das Feierabendhaus und das Lehrschwesternhaus müssen erweitert werden.

Der schmucke Mariannenplatz mit seiner Wasserfontäne erhält im November 1902 ein Denkmal, entworfen von Stadtbaurat Ludwig Hoffmann, das die aufopferungsvolle Arbeit der Feuerwehrmänner würdigen soll. Zwei vier Meter hohe Marmorsäulen stehen gegenüber den beiden Türmen der Thomaskirche. Wasserspeiende Löwenköpfe sind an den Säulen montiert, dazwischen zeigen Reliefszenen des Bildhauers August Vogel (1859-1932) Szenen aus dem Feuerwehralltag. Die Reste des  im 2. Weltkrieg zerstörten Brunnens sind 1958 abgerissen worden. 1981 wurde ein neuer, vom Kreuzberger Künstler  Kurt Mühlenhaupt entworfener Feuerwehrbrunnen eingeweiht.

Die Zahl der Betten im Bethanien  steigt, um 1910 liegt sie bei 400.  Die kirchlichen Strukturen sind damit überfordert. Oberin Jenny von Keller hält eine Verkleinerung oder einen Verkauf an die Stadt für denkbar. Sie setzt sich damit nicht durch und muss den Platz als Oberin frei machen für Hildegard von Bethmann Hollweg, die Schwester des Reichskanzlers. Ab 1912 wird das Bethanien Ausbildungsstätte für christliche Kindergärtnerinnen.

Über Ulrich Horb

Jahrgang 1955, Journalist und Fotograf in Berlin
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