Chancen schaffen: Prof. Ulrich J. Kledzik und die Berliner Bildungspolitik

Prof. Ulrich Johannes Kledzik 2017. Foto: Ulrich Horb

Prof. Ulrich Johannes Kledzik 2017. Foto: Ulrich Horb

Berlin war immer schon reich an Ideen – auch an pädagogischen. Schulreformer wie Kurt Löwenstein und Fritz Karsen wirkten hier. Die nach Karsen benannte Schule in Neukölln ist die älteste staatliche Gesamtschule in Deutschland. Und auch mit seiner sechsjährigen Grundschule ab 1951 hat Berlin stets eine Sonderrolle in der Bundesrepublik gespielt. Einer, der lange Jahre die Bildungspolitik in Berlin begleitet, mitentwickelt und umgesetzt hat, ist Ulrich Johannes Kledzik. Von 1963 bis 1990 war er als Oberschulrat und Abteilungsleiter in der Senatsverwaltung für Schulwesen u.a. für die Berliner Gesamtschulen zuständig. Am 25. Januar 2021 ist er im Alter von 93 Jahren verstorben. Ein Rückblick auf sein Leben und Wirken ist zugleich ein Blick in die Geschichte des Berliner Schulwesens.

Als Sohn eines Landschullehrers in Westpreußen wurde Ulrich Johannes Kledzik am 22.12. 1927 geboren. Es ist das Jahr, in dem sich der Leiter des städtischen Bildungswesen Berlins, der Reichstagsabgeordnete und Neuköllner Stadtrat für Volksbildungswesen Kurt Löwenstein gerade kritisch mit den Plänen für ein Reichsschulgesetz auseinandersetzt. Konservative streiten für den Erhalt der christlichen Bekenntnisschule, Reformer wie Löwenstein setzen sich für die weltliche Gemeinschaftsschule ein, die aber keine „Weltanschauungsschule“ sein soll: „Die Sozialdemokratie hat gar kein Interesse an einer Weltanschauungsschule. Sie verlangt eine weltliche Schule, die allen Kindern und Lehrern offensteht, und in der aus den allen gemeinsamen weltlichen sozialen Bedürfnissen Unterricht und Erziehung gestaltet wird. Die weltliche Schule ist für die Sozialdemokratie keine negative Bekenntnisschule, sondern eine soziale Aufbauschule.“

Bildung ist für Arbeiterkinder in dieser Zeit ein wichtiges Gut, das hart erkämpft wird, gerade auch von der Sozialdemokratie. Fritz Karsen, 1919 einer der Mitbegründer des „Bundes entschiedener Schulreformer“, entwickelt gemeinsam mit dem Berliner Oberstadtschulrat Wilhelm Paulsen mehrere reformorientierte Schulprojekte. So wird es in Arbeiter-Abiturientenkursen am Kaiser-Friedrich-Realgymnasium Berufstätigen möglich, das Abitur auf dem Zweiten Bildungsweg nachzuholen. Und mit der Neuköllner „Karl-Marx-Schule“ gibt es den ersten Gesamtschul-Vorläufer.

Die Familie Kledzik zieht Jahre später nach Berlin. „Da verdient ein Lehrer mehr Geld, sagte meine Mutter“, erinnert sich Ulrich Kledzik. Für Kurt Löwenstein endet 1933 der Traum vom Aufbau eines modernen Schulsystems, einer „sozialen Aufbauschule für die aufsteigenden Massen“. An die Stelle der selbstbestimmten Kinderrepubliken der sozialistischen „Kinderfreunde“ treten Uniformität und Gleichschritt in den Organisationen der Nazis, in den Schulen wird Anpassung eingeübt. Sozialdemokratische Lehrer werden entlassen, zum Teil verfolgt. Fritz Karsen emigriert nach Kolumbien, zieht später in die USA. Kurt Löwenstein stirbt 1939 im Pariser Exil.

Mit Kriegsbeginn werden die männlichen Lehrkräfte nach und nach eingezogen. An einen Geschichtslehrer erinnert sich Ulrich Kledzik. Dieser hob den Arm zum Hitlergruß nur halb, wohl eine Art stillen Protestes, den er aber mit einer Armverletzung entschuldigte. Den Geschichtsstoff mussten die Schüler seitenweise auswendig lernen. „Er hat nichts hinterfragt. Er war kein Bekenner.“ Und als Lehrer damit für Ulrich Kledziks Maßstäbe „ein Versager“.

Ulrich Kledzik muss 1943 als 16jähriger Flakhelfer in den Krieg ziehen. „Wir wurden als Klasse an die Kanone gestellt. Und die Lehrer kamen dann zwei-, dreimal die Woche und machten Unterricht.“ Die Jugendlichen fühlten sich nicht als „Hitlerjugend“, sie fühlten sich als Soldaten, erinnert sich Kledzik. Seinen 18. Geburtstag muss er in russischer Gefangenschaft erleben, „das war die tiefste Position in meinem Leben.“ Einmal liegt nachts auf der Pritsche unter ihm ein Epileptiker. „Am nächsten Morgen lag dort eine nackte Leiche, der Mitgefangene war tot, ihm war alles gestohlen worden.“ Lebensphilosophien werden durch Erlebnisse wie diese geprägt.

Mutter und Bruder sind durch Bombenangriffe gegen Ende des Krieges ums Leben gekommen, der Vater ist in britischer Internierung. Mit viel Glück kommt Ulrich Kledzik schon 1946 nach Berlin zurück. „Da begann das Leben.“ Inmitten einer vom Krieg der Nazis zerstörten Stadt und obwohl es kaum etwas zu essen gab. In der Wohnung seiner Eltern wohnen Fremde – zwischen den Möbeln seiner Familie. Er erkämpft sich ein Zimmer in der Wohnung, studiert Pädagogik an der Pädagogischen Hochschule Berlin. „Es war das Gründungssemester unter dem Rektorat Wilhelm Blume, dem entschiedenen Schulreformer der zwanziger Jahre, der das Internat auf der Insel Scharfenberg gegründet hatte. Blume hat das Lehrkollegium an der PH auch unter dem Gesichtspunkt demokratischer Eindeutigkeit zusammengestellt. 1948 kommt mit der Spaltung der Verwaltung auch die Spaltung der Hochschule. „Die Edelkommunisten blieben im Osten, die anderen zogen in den Westen, in die Lankwitzer Kasernen.“ Einer seiner Dozenten ist Professor Max Klesse, in den zwanziger Jahren USPD-Anhänger, von Beruf Arzt und Historiker, bei ihm studiert Kledzik Geschichte. Paul Heimann fasziniert ihn als Didaktiker.

Es geht aufwärts. Die Trümmer werden beiseite geräumt. „Jeden Tag wird etwas Neues aufgebaut.“ Er bekommt 150 Mark Stipendium. „Dafür konnte man damals gerade ein Brot kaufen.“ So verkauft er Einrichtungsgegenstände seiner Eltern und beteiligt sich an dem zeitbedingten Tauschhandel – „wenig erfolgreich“, auch das betrachtet er als Lebenserfahrung.

Nach der Ablegung der ersten Staatsprüfung nach dem Kriege an der PH Berlin erhält er 1949 seine erste Lehrerstelle im Wedding. Allerdings nicht als Geschichtslehrer: „Geschichte ist ein Gesinnungsfach sagte mir der Schulleiter gleich am ersten Tag, das unterrichtet hier bei uns jeder Klassenlehrer selber.“ Fritz Krüger, Altsozialdemokrat, später Vorsitzender des Schulausschusses im Abgeordnetenhaus, stellt ihn im Wedding ein: „Er kannte meinen Vater noch als Berliner Lehrer.“ Eine neue demokratische Schule soll in Berlin entstehen – mitten im beginnenden Ost-West-Konflikt.

Ausriss aus dem Protokoll der Stadtverordnetenversammlung 1947.

Ausriss aus dem Protokoll der Stadtverordnetenversammlung 1947.

„Das Schul- und Unterrichtswesen Groß-Berlins umfasst in einem einheitlichen Aufbau den Schulkindergarten, die in sich gegliederte zwölfjährige Einheitsschule, die Fachschulen und die Hochschulen mit Ausnahme derjenigen, die zonalen Charakter haben.“ So heißt es im Schulgesetz für Groß-Berlin aus dem Juni 1948, das die Stadtverordnetenversammlung am 13.11.47 beschlossen hatte. Es ist die Zeit, in der Ulrich Johannes Kledzik an der Pädagogischen Hochschule Berlin studiert. Der Unterricht an den Berliner Schulen findet unter erschwerten Bedingungen statt, noch immer haben viele Schulgebäude Kriegsschäden, Schulbücher fehlen, die alten Geschichts- und Erdkundebücher sind für eine demokratische Erziehung unbrauchbar. An den Schulen werden dringend die neu ausgebildeten Lehrerinnen und Lehrer erwartet.

Während 1945 ausgewiesene Gegner des Nationalsozialismus für den Schuldienst gesucht wurden, auch eilig ausgebildete „Schulhelfer“ in den Dienst kamen, kehrten in den folgenden Jahren Kriegsheimkehrer und nach 49 studierte Lehrer in die Schulen zurück. Das Berliner Schulgesetz tritt in einer Zeit in Kraft, als die Spaltung der Stadt immer konkretere Züge annimmt. Am 24. Juni 1948, nur zwei Tage nach der Anordnung der Alliierten Kommandantura, das Schulgesetz in Kraft zu setzen, beginnt die Blockade der Zufahrtswege nach West-Berlin.

Ende August 1948 wird die Sitzung der Stadtverordnetenversammlung im Ostteil Berlins von Demonstranten und SED-Vertretern gestört, Anfang September suchen die Stadtverordneten – ohne die SED-Mitglieder – Schutz vor Übergriffen im Westteil der Stadt. Währungsreform und Gründung von Bundesrepublik und DDR besiegeln die Teilung Berlins.

Prof. Ulrich Johannes Kledzik 2017. Foto: Ulrich Horb

Prof. Ulrich Johannes Kledzik 2017. Foto: Ulrich Horb

Ulrich Kledzik, der noch einige Zeit in Pankow im sowjetischen Sektor wohnt, ehe ein Wohnungstausch nach Tempelhof möglich wird, unterrichtet ab 1949 im Wedding in einer achten Klasse. Die Arbeit macht ihm Freude: „Ich konnte gut mit Schülern umgehen.“ 1951 folgt die Zweite Staatsprüfung.

Die Auseinandersetzung zwischen Ost und West nimmt an Schärfe zu. Eine Berliner Besonderheit, das Einheitsschulsystem kommt dabei unter die Räder. Bei den West-Berliner Wahlen 1950 hatte die SPD zwar 61 Mandate bekommen, CDU (34 Sitze) und FDP (32 Sitze) haben aber zusammen eine Mehrheit. So wird 1951  mit der West-Berliner Schulgesetzesnovelle gegen die Stimmen der SPD die einheitliche Schule abgeschafft. Zwar bleibt die sechsjährige Grundschule erhalten, aber im Sekundarbereich wird die traditionelle Dreigliedrigkeit wieder hergestellt. Im Ostteil Berlins wird das Konzept der Einheitsschule beibehalten. Die allgemeinbildende Polytechnische Oberschule (POS), umfasst die Klassenstufen von der 1. bis zur 10. Klasse, die Erweiterte Oberschule (EOS) baut darauf auf.

Fritz Krüger, der Ulrich Kledzik im Wedding eingestellt hatte, schlägt ihn für das Studium in den USA vor, es gibt Förderprogramme für junge deutsche Lehrer. 1952 studiert Ulrich Kledzik an den Universitäten in Illinois und Texas, er bekommt Einblick in das amerikanische Schulsystem. „Ein großes Bildungserlebnis für mich, eine ganz neue Welt.“ In den Weihnachtsferien fährt er zusammen mit zwei Freunden auf der Route 66 in den Westen. Viele neue Eindrücke und Kontakte bleiben. Eine wichtige Erkenntnis für ihn ist: „Das Ziel der deutschen Schule ist es, Abitur zu machen. Ganz anders in den USA. Da ist es das Ziel der Schule, aus den Jugendlichen gute Bürger zu machen. Ein ganz anderes Ziel, ein demokratisches.“ Den Highschool-Abschluss, der nicht vergleichbar mit dem Abitur ist, erwerben nahezu alle Jugendlichen, merkt Kledzik an.

1953 kehrt er nach Berlin zurück. Im Wedding ist eine neue Oberschule praktischen Zweigs zwischen Stralsunder Straße und Bernauer Straße errichtet worden, ein hell geputzter Pavillonbau, der erste Schulneubau im Wedding seit 1915, der zweite im Nachkriegs-Berlin. Ernst Reuter ist der Wahlkreisabgeordnete, nach seinem überraschenden Tod 1953 wird die Schule nach ihm benannt. Ein ausgewähltes Lehrerkollegium nimmt die Arbeit auf. Die Schüler kamen vom Wedding, von der „Plumpe“. „Damals gingen 60 Prozent der Schüler auf die Hauptschule.“ Viele sind später beruflich erfolgreich. „Einer meiner Schüler war Manfred Foede, der IG-Metall-Vorsitzender in Berlin wurde.“ Ein junger Kollege wirbt Ulrich Kledzik für die Sozialdemokratie: Lothar Löffler, der später 17 Jahre lang die SPD im Bundestag vertritt.

Der Mauerbau 1961 bedeutet für die direkt an den Sperranlagen gelegene Ernst-Reuter-Schule einen dramatischen Einschnitt. Schüler und Lehrer aus dem Ostteil bleiben von einem auf den anderen Tag fern. Für Ulrich Kledzik, inzwischen Leiter der Schule, ergeben sich aus der neuen politischen Situation neue Aufgaben.

1960 ist Ulrich-Johannes Kledzik Schulleiter der Weddinger Ernst-Reuter-Oberschule geworden, die nur wenige Schritte von der Bernauer Straße entfernt liegt. Er übernimmt die Nachfolge des verstorbenen Schulleiters Scheunemann, obwohl ihm inzwischen auch eine Laufbahn an der Freien Universität spannend erscheint, an der er von 1954 bis 1958 – neben dem Unterricht – Soziologie, Englisch und Geschichte studiert hatte.

Als am 13. August Ost-Berlin mit Stacheldraht und Grenzbefestigungen abgeriegelt wird, ist damit plötzlich auch der Schulweg für etliche von Ulrich Kledziks Schülern versperrt. „Lehrer, die im Ostsektor wohnten, kamen vom einen auf den anderen Tag nicht mehr“, erinnert er sich. In ganz Berlin sind etwa 60 Lehrer und rund 1000 Schülerinnen und Schüler von ihren Schulen im Westteil der Stadt abgeschnitten. Die Teilung Deutschlands ist nun auch sichtbar vollzogen. Die beiden Systeme allerdings hatten sich bereits auseinanderentwickelt – auch im Schulwesen.

Prof. Ulrich Johannes Kledzik 2007. Foto: Ulrich Horb

Prof. Ulrich Johannes Kledzik 2007 in seinem Büro an der TU. Foto: Ulrich Horb

Schon 1950 hatte es in der DDR-„Verordnung über die Unterrichtsstunde als Grundform der Schularbeit“ geheißen: „Die organisierte Unterrichtsarbeit in der deutschen demokratischen Schule dient dem Erwerb systematischer, allseitiger und umfassender Kenntnisse sowie gesellschaftlich wertvoller Fähigkeiten und Fertigkeiten der Schüler für den erfolgreichen Kampf um die Erhaltung des Friedens, die Einheit Deutschlands, die Festigung und Verteidigung der Deutschen Demokratischen Republik.“ Der Lehrer wird in den Dienst der Partei gestellt: „Der Lehrer der deutschen demokratischen Schule steht mitten im gesellschaftlichen und kulturellen Leben seines Volkes. Er erhält seinen Auftrag von den das staatliche Leben in der Deutschen Demokratischen Republik bestimmenden fortschrittlichen Kräften des Volkes und dient als Volkslehrer in allen Schularten den werktätigen Schichten und allen anderen Menschen, die sich für den Frieden, den demokratischen Aufbau und das sonstige Wohl unseres Volkes aktiv einsetzen.“

Die DDR hat 1959 die sogenannte Polytechnische Oberschule eingeführt und die zehnjährige Schulzeit zur Pflicht gemacht. In Berlin-West, eingemauert, aber auch „Schaufenster des Westens“ mit SPD-Mehrheiten, verführte die DDR-Ideologie nicht, auch wenn dort zunächst an Erkenntnisse und Forderungen zum Beispiel des Bundes Entschiedener Schulreformer aus der Weimarer Zeit anzuknüpfen versucht wurde. Ulrich Kledzik, der Mauerbau und Folgen aus nächste Nähe erlebt hat, erhält 1962 zusammen mit zwei Berliner Kollegen einen Sonderauftrag: Im Auftrag der Weltlehrerorganisation geht er auf eine dreimonatige Vortragsreise durch 15 Länder Mittel- und Südamerikas sowie Westafrikas, um über die Auswirkungen des Mauerbaues auf Unterricht und Erziehung in Deutschland zu informieren.

1963 feiert die Ernst-Reuter-Schule ihr zehnjähriges Bestehen. Carl-Heinz Evers, von 1959 an Berliner Landesschulrat, Anfang der sechziger Jahre mit einer vielbeachteten Denkschrift zur inneren Schulreform hervorgetreten und von Willy Brandt 1963 zum Schulsenator berufen, holt Ulrich Kledzik im selben Jahr in die Senatsverwaltung. Evers ist Nachfolger des Christdemokraten Joachim Tiburtius, der das Amt zwölf Jahre inne hatte. In seiner Denkschrift setzte Evers 1961 neue Akzente. „Begabung wurde nicht mehr vornehmlich statisch interpretiert, sondern als Entfaltungsprozess, der zeitgemäßes Arbeits-, Sozial- und Kulturverhalten vorbereiten soll“, so Ulrich Kledzik.

Prof. Ulrich Johannes Kledzik 2007 in seinem Büro an der TU. Foto: Ulrich Horb

Prof. Ulrich Johannes Kledzik 2007 in seinem Büro an der TU. Foto: Ulrich Horb

Bis 1990 blieb Kledzik in der Senatsverwaltung für Schulwesen. Zunächst war er Referent für die Hauptschulen, später Unterabteilungsleiter, dann Abteilungsleiter für den Sekundarbereich I, die letzten sieben Jahre war er stellvertretender Landesschulrat. „Nach dem Mauerbau hat sich die Aufgabe Berlins geändert“, sagt Kledzik. „Die großen Firmen waren alle nach Westdeutschland gegangen, bis auf den Cornelsen-Verlag und Schering. Ziel war es nun, Werkstatt zu sein.“ Das galt auch für den pädagogischen Bereich. Der Gedanke, bald wieder Hauptstadt eines vereinten Deutschland zu sein, rückte ferner, stattdessen setzte man darauf, die Bevölkerungsabwanderung zu stoppen, indem die Stadt attraktiv ausgebaut wurde.

Schulreformen, wie sie Carl-Heinz Evers forderte, fanden in der SPD Anfang der sechziger Jahre Rückhalt. Wichtiger aber noch: „Es gab eine starke Gewerkschaft mit Erich Frister an der Spitze, der später zehn Jahre lang Bundesvorsitzender der GEW war.“ Die Verbindung zwischen der GEW und den Sozialdemokraten in der Stadt war eng, so Ulrich Kledzik.

„Evers, später auch Gerd Löffler als Schulsenator, setzten auf eine demokratische Leistungsschule, auf Zentrierung im Pädagogischen und auf eine Beispielhaftigkeit gegenüber den anderen Bundesländern. Das bedeutete, dass wir die Subventionen, die wir als West-Berliner bekamen, umzusetzen versucht haben in bessere Schulen, in bessere Lehrer-Schüler-Relationen, in bessere Ausstattung. Das waren alles Ziele innerhalb eines ,Werkstatt-Berlin’-Gedankens.“

Aufkleber der AfB: Werbung für die Gesamtschule. Foto: Ulrich Horb

Aufkleber der sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft für Bildung (AfB): Werbung für die Gesamtschule. Foto: Ulrich Horb

Die sechziger Jahre bringen einen Aufbruch in ganz besonderer Richtung. Carl-Heinz Evers gelingt es in der Kultusministerkonferenz, die Zulassung der Gesamtschule als Experiment zu erreichen. Nach vielen Rückschlägen gehen die Schulreformer in die Offensive, um die frühzeitige Auslese der Kinder im dreigliedrigen Schulsystem zu verhindern. Mit der Gesamtschule will man in der Bundesrepublik wie auch in anderen Industrienationen u.a. die Abschlussquote erhöhen. In Schweden liegt die Abiturquote in den sechziger Jahren bei etwa 30 Prozent, in der Bundesrepublik 1965 bei nur 7,5 Prozent.

Die Gesamtschule kommt

1968 wird in Berlin mit der Walter-Gropius-Schule die erste Gesamtschule der Bundesrepublik eröffnet. Die Erwartungen der Bildungsreformer sind hoch: Die Gesamtschule soll Chancengleichheit herstellen, sie soll anders als das dreigliedrige Schulsystem mit seiner frühen Auslese mehr Schüler fördern und für eine größere Zahl von besseren Abschlüssen sorgen.

Berlin nimmt in dieser Entwicklung – auch dank der Vorarbeiten des sozialdemokratischen Schulsenators Carl-Heinz Evers etwa durch die Aufnahme der Gesamtschule in das Schulgesetz – eine Vorreiterrolle ein. Hier entstehen in den siebziger Jahren dreizehn Gesamtschulen in Bildungszentren, weitere zehn in Altbauten. „Das durch die Steigerung der Schülerzahl in der 7. bis 10. Jahrgangsstufe um mehr als 50 % in den Jahren zwischen 1970 und 1975 bedingt größte kommunale Hochbauprojekt Berlins seit Ende des Zweiten Weltkriegs bietet die Chance, nicht allein einer vorgegebenen Bedarfslage zu entsprechen, sondern auch strukturell, curricular und in Abstimmung mit dem baulichen Entwurf den Ansatz zu einer Sekundarstufe I als integrierte Schule für etwa ein Viertel der Schüler dieser Altersstufe zu wagen“, so Ulrich Kledzik, ab 1972 Leitender Oberschulrat und mit seinem Kollegenteam Rohde, Kaiser und Seiring pädagogisch zuständig für die Sekundarstufe I. Zwischen 1974 und 1975 werden in Serienbauweise für rund 620 Millionen Mark dreizehn so genannte Mittelstufenzentren gebaut, die als Bildungszentren für Gesamtschulen (7. bis 10.Klasse) wie auch für außerschulische Nutzung (Freizeit, Sport, Bibliotheken) angelegt werden: Prüffeld für Organisation, Inhalte und Differenzierungsformen, Praxisfeld für Fantasie und Engagement.

Zwischen den sozialdemokratisch geführten Bundesländern und den Ländern mit CDU-Mehrheit bleibt die grundlegende bildungspolitische Kontroverse bestehen. Die konservativ regierten Länder wollen offen halten, ob die bildungspolitischen Ziele besser in einem „reformierten gegliederten Schulwesen“, in Form einer „kooperativen Gesamtschule“ – also drei getrennten Oberschulzweigen unter einem Dach – oder in der „integrierten Gesamtschule“ verwirklicht werden können, wie sie die SPD-Länder bevorzugen, die das längere gemeinsame Lernen in den Vordergrund stellen.

Aber auch in Berlin, wo fast ein Drittel der Schülerinnen und Schüler die integrierte Gesamtschule besucht und die sozialdemokratisch geführten Senate ihre Vorliebe für die Gesamtschule nicht verstecken, bleibt die Auseinandersetzung bestehen. Ulrich Kledzik schreibt Mitte der siebziger Jahre: „In diesem Entwicklungsstadium wird deshalb nur ein behutsamer, die Risiken kalkulierender Mittelweg gegangen werden können, der auch berücksichtigt, dass die Innovationsbereitschaft nicht beliebig ausgeweitet werden kann. Reformbewegungen dieses Ausmaßes bedürfen breiter Unterstützung der Lehrerschaft aller Laufbahnen.“

1982 wird die zehnjährige Erprobungsphase der Gesamtschule beendet, die Kultusminister beschließen die gegenseitige Anerkennung der Abschlüsse an integrierten Gesamtschulen. In Berlin betrifft das inzwischen immerhin 28.000 Schülerinnen und Schüler und 2500 Lehrerinnen und Lehrer an 29 Gesamtschulen. Damit wird die Gesamtschule als Schulform neben dem gegliederten Schulsystem offiziell akzeptiert, sie ersetzt das System nicht, wie es viele der Gesamtschulanhänger zehn Jahre zuvor erhofft hatten. Für Kledzik dennoch auch ein Erfolg: Nun werde es „nicht mehr möglich sein, Eltern durch den Hinweis darauf zu verunsichern, dass die Abschlusszeugnisse der Gesamtschule nicht anerkannt seien, wie es zum Ende jedes Schuljahres seit einigen Jahren pressewirksam behauptet wurde“.

Mittelstufenzentrum Emser Straße in Wilmersdorf Anfang der achtziger Jahre:  1989 musste die Schule das Gebäude verlassen 1992 begann die
Asbestentsorgung in dem 1973 gebauten Schulhaus, das 1994 endgültig unter strengen Sicherheitsvorkehrungen
abgerissen wurde. 2002 wurde ein neues Schulgebäude eingeweiht. Foto: Horb

Mitte der achtziger Jahre ist die Gesamtschule ein fester Bestandteil im Berliner Schulwesen geworden, im Nebeneinander der Systeme, gefördert auch von einer christdemokratischen Schulsenatorin Hanna-Renate Laurien. Die öffentliche Debatte in der Stadt dreht sich allerdings mehr um die Architektur der Mittelstufenzentren und die Asbestbelastung in den Betonklötzen. Die Erfolge der Gesamtschulen treten dahinter zurück. Ulrich Kledzik schreibt 1985: „Es bleibt das Faktum: Die Gesamtschule führt in Berlin mehr Schüler als aus der Grundschulempfehlung ableitbar zu höheren Abschlüssen, etwas mehr als 50 Prozent mit Hauptschulempfehlung zum Realschulabschluss oder zur Übergangsberechtigung auf die gymnasiale Oberstufe; rund 30 Prozent mit Realschulempfehlung zum Versetzungszeugnis in die gymnasiale Oberstufe; sie hält damit Schullaufbahnen länger offen und erhöht ganz allgemein die Chancen der Gesamtschüler.“ Damit hatte die Berliner Gesamtschule zwar ihre wichtigsten Ziele und auch die höchsten Schülerzahlen in der Bundesrepublik erreicht, diskutiert aber wurde in der Stadt über die Sanierung der Gebäude.

Neue Fächer für die Schulen in Ost und West

Mittelstufenzentrum Emser Straße in Wilmersdorf Anfang der achtziger Jahre: Gesamtschule mit Raumschiffatmosphäre. 1989 musste die Schule das Gebäude verlassen 1992 begann die Asbestentsorgung in dem 1973 gebauten Schulhaus, das 1994 endgültig unter strengen Sicherheitsvorkehrungen abgerissen wurde. 2002 wurde ein neues Schulgebäude eingeweiht. Foto: Horb

Mittelstufenzentrum Emser Straße in Wilmersdorf Anfang der achtziger Jahre: Gesamtschule mit
Raumschiffatmosphäre.  Foto: Horb

Veränderungen der Schulstrukturen, wie sie mit der Einführung der Gesamtschule gelangen, machten nur einen Teil der bildungspolitischen Debatte aus. Neue Fächer, neue Unterrichtsmethoden hielten Einzug. Fremdsprachen bleiben kein Privileg für Gymnasiasten: Das seit 1945 in Berlin eingeführte Unterrichtsfach Englisch an Volksschulen wird auch nach der Schulgesetznovelle von 1951 im Westteil der Stadt als gleichberechtigtes Fach beibehalten. An der Polytechnischen Oberschule (POS) der DDR wird Russisch 1.Fremdsprache. Dort wird die „sozialistische Schule“ propagiert, im polytechnischen Unterricht sollen in allen Fächern theoretisch-durchdringendes und praktisch-umgestaltendes Tun miteinander verbunden werden.

Ulrich Kledzik arbeitet im Westteil Berlins am Bildungsplan für die Oberschule Praktischen Zweiges mit. Dessen Festlegungen kennzeichnen seit 1957 das Pflichtfach Englisch an diesem Schultyp. Kledzik: „Die Pflege der Umgangssprache, das Zurechtfinden in Sprechsituationen des täglichen Lebens können jedem Schüler zugemutet werden, wenn der Unterricht vom Hören zum Verstehen, vom Sprechen zum Darstellen, vom Lesen zum Schreiben als direkte Methode angelegt wird.“ Der Verleger Franz Cornelsen sicherte durch neue Unterrichtsmaterialien die bildungspolitischen Zielsetzungen einer Fremdsprache für jeden in Berlin; das British Council und das Amerika-Haus unterstützten die Lehrerfortbildung. „Kontroverse Vorschläge, etwa den Fremdsprachenunterricht zugunsten der Fächer Deutsch und Mathematik wieder aufzugeben, konnten sich nicht durchsetzen. Seit über einem halben Jahrhundert lernt nun jeder Berliner Schüler eine Fremdsprache, zumeist Englisch, aber in Europa-Schulen auch weitere, durch die Internationalisierung unseres Lebens längst bestätigt“, sagt Ulrich Kledzik.

Arbeitslehreunterricht in den achtziger Jahren an einem Berliner Mittelstufenzentrum. Foto: Horb

Ende der fünfziger Jahre gibt es an den DDR-Schulen ein neues Fach: Einführung in die sozialistische Produktion (ESP). Ergänzt wird die Theorie durch tageweise Mitarbeit in einem Betrieb, bis 1970 gibt es dazu den Unterrichtstag in der sozialistischen Produktion (UTP). Qualifizierte Arbeitskräfte sollen frühzeitig erkannt werden. In der Bundesrepublik empfahl der Deutsche Ausschuss für das Bildungs- und Erziehungswesen 1964 praktisches Handeln im Lernprozess zu berücksichtigen. Die Grundzüge von Arbeit, Produktion und Dienstleistung sollen in der Schule angesprochen werden, Schule und Leben sich annähern. „Die Bildungspläne“, so Ulrich Kledzik, „sollen sozusagen als rollende Reform ständig erneuert werden, um die traditionelle Buchschule einzuschränken und zeitnahe Inhalte nicht zu kurz kommen zu lassen. Unter der neuen Fachbezeichnung Arbeitslehre könnten Grundwissen und Einsichten in Wirtschaft, Technik, Haushalt und Berufe in der Schule vor der dann verständigeren ersten Berufsentscheidung angesprochen werden, Inhalte also der uns umgebenden Wirklichkeit, die sich dem Zugriff der traditionellen Einzelfächer unserer Schulen häufig entziehen.“

Viele Jahre nach seinem Ausscheiden aus dem Schuldienst hat Ulrich Kledzik noch ein Büro an der TU, seit 1980 lehrt er hier als Professor die Didaktik der Arbeitslehre. „Die Reformanregung aktivierte Schulpädagogen, Wirtschaftsvertreter, Arbeitnehmerverbände, die Berufsberatung der damaligen Bundesanstalt und natürlich die Wissenschaften in allen Bundesländern“, sagt Kledzik. „Eine breite Debatte setzte ein über Zielsetzungen, Fach oder Prinzip, Öffnung der Schulen zur Arbeitswelt, Betriebspraktika, Ausstattung, Lehrerbildung. Bis heute ist der Komplex ein interessantes Reformfeld – mit Ausnahme der Gymnasien – geblieben, wenn auch unter verschiedenen Fachbezeichnungen.“

Als im Westteil Berlins für die neuen Gesamtschulen auch neue Gebäude entstehen, nutzt Ulrich Kledzik die Gelegenheit. In den Bildungszentren setzt Berlin ein Beispiel für Ausstattung, Labors und Technik, um die Projekte der Arbeitslehre, begleitet vom Fachmoderator im damaligen Pädagogischen Zentrum und den Lehrerbildnern an PH und TU, für eine stark motivierte Schülerschaft pädagogisch qualifiziert zu halten. Kledzik leitete die Kommission Lernfeld Arbeitslehre der Kultusministerkonferenz zwischen 1984 und 1987, konnte jedoch mit dem Land Berlin gegen das Votum von Bayern und Baden-Württemberg keinen Empfehlungsbeschluss für alle Bundesländer erreichen. „Der Impuls blieb nicht ohne Rückschläge“, sagt Kledzik. 1991 strich der damalige Schulsenator Kleemann das Fach Technik in der 5. und 6. Klasse der Grundschule, später sind die Unterrichtsstunden des Faches Arbeitslehre im Pflichtunterricht der Berliner Gesamtschulen mit Ausnahme von einer Wochenstunde in der 9. Klasse gestrichen worden, um das Fach Ethik als verbindliches Fach in der Stundentafel platzieren zu können; auch der Wahlpflichtunterricht vermindert sich. Kledzik: „Die rollende Reform der Inhalte und Kompetenzziele von Schule rollt also – auch sehr strittig – weiter!“

Die in Berlin entwickelten Schul- und Strukturreformen finden in den siebziger und achtziger Jahren zunehmend auch international Beachtung und Anerkennung. Ulrich Kledzik, seit 1980 Honorarprofessor für Didaktik der Arbeitslehre an der TU Berlin, nahm 1985 einen Ruf an die Universität London wahr, wurde dort Fellow und brachte Erfahrungen in das britische Vorhaben ein, das sich Technisch-Berufliche – Erziehungs Initiative/TVEI nannte und von der konservativen Regierung mit 40 Millionen Pfund angesetzt worden war, den Zielen der Arbeitslehre sehr nahe. Er kooperierte dabei eng auch als Berliner Schulaufsichtsvertreter mit der königlichen Schulinspektion HMI. 1998 ernannte ihn die Queen ehrenhalber zum Officer of the British Empire/OBE. 2003 stellte das Pädagogische Forschungsinstitut Peking fest, Arbeitslehre (als Begriff übernommen) gehöre zu den zentralen Reformmomenten der chinesischen Schule. Kledzikstellte 2008 fest: „Berliner Lehrer bilden dort aus – der Kontinent mit großer Zukunft setzt internationale Prioritäten.“

An die Zeit der Reformen erinnert sich Ulrich Kledzik gerne: „Eine große Berliner Tageszeitung notierte einmal, dass es wie ein ferner pädagogisch-revolutionärer Schein aufleuchte, wenn man an die Reformjahre der Berliner Schule etwa zwischen den 50 er und 80 er Jahren denkt. Und in der Tat es war Aufbruch und Aufbau, es gab strittige Debatten um Ziele, aber auch Begegnungen zwischen den Schulformen z.B. beim Aufbau der gymnasialen Oberstufen und fördernde kollegiale Solidarität über weltanschauliche Differenzen hinweg in den Zeiten von Evers, Gerd Löffler (SPD, 63-75), Rasch (FDP, 75-81),Frau Laurien (CDU, 81-89). Die Reformschritte wurden in der Fachliteratur zur Diskussion gestellt, einwerbende Positionen konnten sachlich postuliert werden.“ So veröffentlichte Kledzik, den bildungspolitischen und schulpädagogischen Ansätzen folgend, Sammelbände wie: Entwurf einer Hauptschule (1967), Unterrichtsplanung (1971), Arbeitslehre als Fach (1972), Gesamtschule auf dem Weg zur Regelschule (1974), Lernfeld Arbeitslehre (1988), London Letter (1985) und dokumentierte 2000 die Berliner Gesamtschule ‘68 bis ‘88.

Die Dichte der Reformbewegung kann schulgeschichtlich abgelesen werden: Ansatz für eine Volksschuloberstufe; die Praktizierung einer zeitgemäßen Didaktik; die Neufassung von Inhalten incl. der Verpflichtung zu einer Fremdsprache für alle; die Entwicklung des neuen Faches Arbeitslehre, der Informatik, die Öffnung der Schule gegenüber der Gesellschaft, der Arbeits- und Berufswelt; die Einführung des 10.Pflichtschuljahres 1978; die beginnende Überwindung ausgrenzender Schulstrukturen durch die Gesamtschule; die Neufassung von Abschlüssen und der gymnasialen Oberstufe – gültig gleichermaßen an Gesamtschulen und Gymnasien -, die Integrationen von Begabung, Talenten, Behinderungen sowie die großen Bemühungen um die Förderung der Zuwanderer.

Ulrich Kledzik: „Erfahrungen, die zur Ermutigung in dem niemals abgeschlossenen schulpädagogischen Prozess Anlass geben, doch eine Erfahrung dominiert alle anderen: Die großen Ziele Chancengleichheit und Abbau der Abhängigkeit von sozialer Herkunft werden nur erreicht werden können, wenn es zu einer gemeinsamen Kraftanstrengung von Eltern, Lehrerschaft und Bildungspolitikern aller Parteien kommt, wenn in der KMK nicht nur formale Erfüllungen, sondern auch strukturelle Bedingungen beraten würden – meines Erachtens kann man sich dabei noch immer auf Reformträger in Hochschulen und Lehrerbildung stützen.“ Es gelte, sich nun endlich den internationalen Entwicklungen und Empfehlungen zu öffnen; Ideologien auszuweichen und den eigenen Zielaussagen folgend, unter welchem Leitbegriff auch immer, die erforderlichen Ressourcen zu beschließen, fordert Kledzik. „Für Berlin bin ich dabei ohne Zweifel , dass dazu auf den seit einer Generation arbeitenden Gesamtschulen aufgebaut werden kann und auch auf die Kooperationsbereitschaft der übrigen Schularten.“ Die Herausforderung unserer Zeit gelte unverändert sowohl den Eliten wie den Massen, meint der leidenschaftliche Pädagoge. „Tony Blairs Signal Education besteht fort.“

Im Jahr 2010 ist es zu einer weitreichenden Reform der Berliner Schulen gekommen. Das dreigliedrige Schulsystem ist abgelöst worden, Haupt- und Realschulen sind mit den Gesamtschulen zu Integrierten Sekundarschulen zusammengeführt worden, an denen alle Schulabschlüsse möglich sind – die Berufsbildungsreife (BB, früher Hauptschulabschluss), die erweiterte Berufsbildungsreife (eBB, früher erweiterter Hauptschulabschluss), der Mittlere Schulabschluss (MSA, früher Realschulabschluss) und an Sekundarschulen mit gymnasialer Oberstufe das Abitur nach 13 Jahren. Damit ist eine größere Durchlässigkeit des Berliner Schulsystems erreicht worden.

Über 30 Jahre hat Ulrich Johannes Kledzik die bildungspolitischen Weichenstellungen in der Stadt vorangetrieben. Zum 80. Geburtstag 2007 dankte ihm Klaus Wowereit, einstiger Stadtrat für Volksbildung in Tempelhof, in einem persönlichen Schreiben für das außerordentliche Engagement. Und dass das Seminar zur Didaktik der Arbeitslehre an der TU nach ihm „Kledzik-Seminar“ genannt wurde, ist auch ein besonderer Ausdruck der Wertschätzung.

Die Begeisterung, mit der er nach dem Krieg die Arbeit als Lehrer aufgenommen und später als Oberschulrat fortgeführt hat, wünscht er allen Lehrergenerationen. Kledzik: „Erinnerung verdrängt nicht die Hoffnung, Pessimismus nicht den Optimismus, das Allerwichtigste in dieser Profession.“

Ulrich Kledzik hat viele Würdigungen nach seinem Ausscheiden aus dem Schuldienst erhalten. Eine – nachträgliche – Feierstunde zu seinem 85. Geburtstag an der Technischen Universität im Februar 2013 fand unter dem Motto „Ein Leben für die Berliner Schulen“ statt. Bis ins hohe Alter hat sich Ulrich Kledzik mit Stellungnahmen zu Wort gemeldet und an Diskussionen teilgenommen. Am 25. Januar 2021 ist er im Alter von 93 Jahren verstorben.

 

Link: Traueranzeige beim Tagesspiegel

 

Über Ulrich Horb

Jahrgang 1955, Journalist und Fotograf in Berlin
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