In der sowjetischen Besatzungszone und in der DDR bekommt Otto Nagel zunächst öffentliche Anerkennung und Würdigung, die ihm in der Weimarer Zeit nur im kleinen Kreise zuteil geworden ist. Für die SED zieht Nagel im Oktober 1948 als Nachrücker für den verstorbenen Abgeordneten Franz Brüning in den Landtag von Brandenburg ein. 1948 erhält er eine Professur, 1949 wird er in den Deutschen Volksrat entsandt, ein von der SED gesteuertes Gremium in der Sowjetischen Besatzungszone, das die DDR-Verfassung vorbereitet. Nagel gehört als Vertreter des Kulturbundes der Provisorischen Volkskammer an. Die SED beansprucht die Führungsrolle bei der Ausrichtung der Kunst, die „Tägliche Rundschau“, Zeitung der sowjetischen Armee, gibt die Linie vor.
Mit 22 von DDR-Präsident Wilhelm Pieck berufenen Gründungsmitgliedern, unter ihnen Otto Nagel, wird am 24. März 1950 die Deutsche Akademie der Künste, die spätere Akademie der Künste der DDR, ins Leben gerufen. DDR-Ministerpräsident Otto Grotewohl hält die Festrede. Heinrich Mann, zum Präsidenten der Akademie gewählt, ist vor der Rückkehr nach Deutschland im amerikanischen Exil gestorben, Arnold Zweig übernimmt seine Aufgabe. Neben Nagel werden u.a. namhafte Künstler wie Johannes R. Becher, Bertolt Brecht, die Schauspielerin Helene Weigel und der Komponist Hanns Eisler berufen.
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In der Eröffnungsausstellung im Haus der Akademie hängt auch ein Bild Nagels, das ein Arbeitermädchen zeigt, entstanden 1932. Es ist kein heroisches und zukunftsgewandtes Porträt und vielleicht auch deshalb im letzten Raum gehängt. Otto Nagel ärgert das. „Mein ,Arbeitermädel‘ hing in der damaligen bürgerlichen Akademie der Künste repräsentativ auf einer Wand mit Max Liebermann“, schreibt er in einem Beschwerdebrief an den Akademiepräsidenten.
Die Nationalgalerie zeigt im Oktober 1950 eine große Ausstellung mit Werken von Nagel. „Otto Nagel stellt in seinem Schaffen ein bedeutsames Stück der Weltgeschichte anschaulich dar, nicht des staatlichen oder kriegerischen Geschehens, sondern des gesellschaftlichen, sozialen; aus eigenem Erleben“, lobt Ludwig Justi, Direktor der Nationalgalerie.
Ende der vierziger und Anfang der fünfziger Jahre verschärft die SED den Druck auf die Künstlerinnen und Künstler. Die Kunst soll dem Volk dienen – und was dem Volk dient, weiß die Partei am besten. Alexander Lwowitsch Dymschitz, Schriftsteller und zwischen 1945 und 1949 Kulturoffizier in der Sowjetischen Besatzungszone, gibt schon ab 1946 den Ton mit Artikeln in der Täglichen Rundschau vor, der Zeitung der Roten Armee für Deutschland, in denen er „Züge einer neuen Kunst“ entwirft. Im sozialistischen Realismus müsse die neue Haltung des Künstlers zur Welt zum Ausdruck kommen. Künstlerische Experimente passen laut Dymschitz nicht dazu. Der neue Künstler hat „ganz klare, positive Ideale und Ziele und ein festumrissenes positives, soziales Programm“ zu vertreten. 1949 wirft Dymschitz Picasso, Dali und dem Expressionisten Carl Hofer, zwischen 1945 und 1947 immerhin Vizepräsident des Kulturbundes, Dekadenz vor. In der Sowjetunion findet zu dieser Zeit eine Kritik der musikalischen Entwicklung statt: Als Formalismus wird dort die Abkehr von der volkstümlichen Musik und die Hinwendung zu „den rein individualistischen Empfindungen einer kleinen Gruppe auserwählter Ästheten“ verurteilt.
Nagel ist zunehmend in die politischen Prozesse eingebunden. Von 1950 bis 1954 ist er Abgeordneter der ersten gewählten DDR-Volkskammer. 1951 ziehen Otto und Walli Nagel wieder nach Berlin, nicht in den Wedding, der zum französischen Sektor gehört, sondern in den sowjetischen Sektor, in ein Haus in der Biesdorfer Königstraße 5-6.
Wege und Irrwege
Im Januar 1951 verschärft ein mit dem Pseudonym „N. Orlow“ unterzeichneter Artikel „Wege und Irrwege der modernen Kunst“ in der Täglichen Rundschau die Situation für die Künstler. Als Verfasser gibt sich Jahrzehnte später Wladimir Semjonowitsch Semjonow zu erkennen, damals einflussreicher politischer Berater der Sowjetischen Militäradministration und ab 1953 erster Hoher Kommissar der UdSSR in Deutschland. Orlows Vorwurf: In der Bildenden Kunst bleibe das gesellschaftliche Bewusstsein hinter dem gesellschaftlichen Sein zurück. Er kritisiert die „Herrschaft der Formalisten“ und das Ministerium für Volksbildung, das öffentliche Gelder zum Ankauf „ganz absurder formalistischer Bilder“ einsetze. Solche Toleranz könne nicht mehr erlaubt werden. Orlow droht, die Werktätigen würden eingreifen, „um eine derartige volksfeindliche Kunst aus dem Wege zu räumen“. Illustriert ist der Artikel mit aus Orlows Sicht negativen Motiven von Horst Strempel, Arno Mohr, Lea Grundig oder Theo Otto. Orlow stellt die rhetorische Frage, warum solche Künstler als Thema das Abscheuliche und Missgestaltete wählen. Die Künstler selbst bezeichnet er als „gesellschaftsfeindlich“, sie zielen auf die „Zerstörung der Malerei in der Deutschen Demokratischen Republik“ und orientieren sich am dekadenten Westen. Und selbst Käthe Kollwitz, die enge Wegbegleiterin Nagels, greift Orlow an: „Die Fürsprecher des Hässlichen in der Malerei suchen zuweilen Käthe Kollwitz als ihre Vorläuferin und als Stammmutter der proletarischen Kunst in Deutschland darzustellen. Das war sie niemals. Käthe Kollwitz sah in den Arbeitern überhaupt nur den leidenden Teil des Volkes. Heute weiß sogar jeder Schuljunge, dass die Arbeiterklasse nicht nur eine leidende und glücklose Klasse ist.“
Die Reaktion der bildenden Künstler: Sie „verharren in Schweigen, resignieren oder fühlen sich in einer Sprache angesprochen, die ihnen fremd ist.“ So beschreibt es jedenfalls Otto Nagel, der den Mut zu einer Antwort in der Täglichen Rundschau aufbringt. „Ohne Frage hat der Orlow-Artikel bei aller guten Absicht zuerst einmal bei den Hauptbeteiligten eine gewisse Verwirrung hervorgerufen, und dies vor allem durch nicht immer geschickte Formulierungen sowie insbesondere durch die Heranziehung von Reproduktionen, die geeignet sind, das Bild des augenblicklichen Standes der bildenden Kunst bei uns zu verzerren.“ Nagel verteidigt die düster wirkenden Arbeiten von Lea Grundig oder Theo Otto, die die „ganze Brutalität und Entmenschlichung des gerade beendeten Faschismus“ dargestellt haben.
Nagel: „Es hat mir, und das gilt auch für die im Orlow-Artikel angezogene Käthe Kollwitz, wahrhaftig keine Freude gemacht, in meinem Werk den Ausgebeuteten und Elenden darzustellen. Ich hasste diese Gesellschaft, die diese Zustände schuf, und kämpfte mit allen meinen Mitteln und Möglichkeiten, auch durch meine Bilder, für die Schaffung einer Ordnung, in der den Künstlern derartige Motive nicht mehr gestellt werden.“ Nagel zeigt Verständnis gegenüber einer Ungeduld. „Wir als bildende Künstler tragen diese Ungeduld selbst in uns. Ich persönlich habe versucht, den neuen Menschen zu erkennen und zu gestalten, und bin mit meinen bisherigen Leistungen durchaus noch nicht ganz zufrieden. Aber niemand kann über seinen Schatten springen.“ Nagel verweist auf die Tagungen und Seminare des Verbands bildender Künstler. „Nur glaube ich nicht, dass die angelaufene Diskussion geeignet ist, dieses Werdende zu stützen und fest werden zu lassen, wenn die Diskussion nicht unter Einbeziehung der bildenden Künstler geführt wird.“
Otto Nagels Mahnungen bleiben erfolglos. In einer Entschließung folgt das ZK der SED im März 1951 den Moskauer Vorgaben und gibt die Linie in der Kunst vor: „Formalismus bedeutet Zersetzung und Zerstörung der Kunst selbst. Die Formalisten leugnen, dass die entscheidende Bedeutung im Inhalt, in der Idee, im Gedanken des Werkes liegt. Nach ihrer Auffassung besteht die Bedeutung eines Kunstwerkes nicht in seinem Inhalt, sondern in seiner Form. Überall, wo die Frage der Form selbständige Bedeutung gewinnt, verliert die Kunst ihren humanistischen und demokratischen Charakter.“
Das ZK der SED warnt die Künstler: „Das wichtigste Merkmal des Formalismus besteht darin, unter dem Vorwand, etwas ‚vollkommen Neues‘ zu entwickeln, den völligen Bruch mit dem klassischen Kulturerbe zu vollziehen. Das führt zur Entwurzelung der nationalen Kultur, der Zerstörung des Nationalbewusstseins, fördert den Kosmopolitismus und bedeutet damit eine Unterstützung der Kriegspolitik des amerikanischen Imperialismus.“
Und Walter Ulbricht, der wenig Zugang zur Kunst hat, sagt deutlich: „Wir wollen in unseren Kunstschulen keine abstrakten Bilder mehr sehen. Die Grau-in-Grau-Malerei, die ein Ausdruck des kapitalistischen Niedergangs ist, steht im schroffsten Widerspruch zum neuen Leben in der Deutschen Demokratischen Republik.“
Unter der Bezeichnung Formalismusstreit geht diese Phase in die Geschichtsbücher ein. Ein wirklicher Streit um die besseren Ideen ist es allerdings nicht. Die Kunst hat sich der Partei unterzuordnen.
Quellen:
Otto Nagel, Berliner Bilder, mit einem Vorwort von Walli Nagel, Henschelverlag Berlin (Ost), 1970
Erhard Frommhold, Otto Nagel – Zeit – Leben – Werk, Henschelverlag Berlin (Ost) 1974
Otto Nagel, 48 Bilder mit einem Text von Ludwig Justi Potsdam 1947
Walli Nagel, Das darfst Du nicht, Wedding-Bücher, Berlin 2018
Otto Nagel, Die weiße Taube oder das nasse Dreieck, Roman, Wedding-Bücher, Berlin 2017
Otto Nagel, Katalog zu den Ausstellungen Februar und April 1966, Ladengalerie Berlin-Charlottenburg
Sibylle Schallenberg-Nagel: Mein Vater Otto Nagel, in: „Zaubertruhe“, Ein Almanach für junge Mädchen, Der Kinderbuchverlag Berlin (Ost), 1971
Gerhard Pommeranz-Liedtke, Otto Nagel und Berlin, 228 S., Dresden 1964
Dank an Salka Schallenberg für ihre Informationen und Hinweise. Mehr unter http://artist-otto-nagel.de/