Er wurde nur 54 Jahre alt. Am 10. September 1942 starb der letzte Bezirksvorsitzende der Berliner SPD, Franz Künstler, an den Folgen seiner KZ-Inhaftierungen und der von den Nazis verhängten Zwangsarbeit. Eine eindrucksvolle Menschenmenge – Zeitzeugen berichten von 1000 bis 3000 Berliner Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten – begleitete den Trauerzug. Die Historikerin Ingrid Fricke beschreibt in einer jetzt erschienenen politischen Biographie den Lebensweg Künstlers und sein Wirken innerhalb der Gewerkschafts- und Arbeiterbewegung. Zugleich ist der Band auch ein wesentlicher Beitrag zur Geschichtsschreibung der Berliner SPD.
Ingrid Fricke entwirft das Bild eines pragmatischen linken Politikers und Gewerkschafters, der „für die ganz konkrete Verbesserung des Alltags der Arbeiter kämpfte“. Künstler leitete die Berliner SPD in den schwierigen Zeiten von 1923 bis 1933 als Vorsitzender und führte die Auseinandersetzung mit Nazis und KPD.
Es gibt nicht viele erhaltene Dokumente, die Franz Künstlers Denken und Handeln dokumentieren, keine Tagebuchaufzeichnungen oder persönlichen Notizen. In der Friedrich-Ebert-Stiftung sind 14 Mappen zu finden, ein Stapel von etwa 20 Zentimetern. So hat Ingrid Fricke vor allem Zeitungen und Zeitschriften, Sitzungs- und Parteitagsprotokolle ausgewertet. Trotz dieser schwierigen Quellenlage entsteht ein umfassendes Bild von Franz Künstler in seiner Zeit.
Franz Künstler, 1888 geboren, aufgewachsen im proletarischen Kreuzberger Südosten, begann mit vierzehn Jahren seine Ausbildung zum Maschinenschlosser und engagierte sich frühzeitig in der Arbeiterjugendbewegung. Er hielt Vorträge über die Revolution von 1848, Wissen, das er sich, so Ingrid Fricke, „höchstwahrscheinlich im Selbststudium aneignete“. Und er sang im Gesangverein „Jugend“ mit. 1906, als er seine Lehre abgeschlossen hatte, wurde er Mitglied im Deutschen Metallarbeiterverband DMV.
„Freiheitlich und antimilitarisch“, so beschreibt Ingrid Fricke den jungen Franz Künstler, der 1907 der SPD beitrat. Wie er den Beginn des Weltkriegs erlebte, ist nicht belegbar, erst für die Zeit ab 1916 gibt es Quellen, die ihn im Lager der Kriegsgegner zeigen, die gegen die weitere Bewilligung der Kriegskredite und den Burgfrieden eintreten. Er übernimmt Funktionen im Ortsverein Neukölln und im Wahlkreisverein Teltow-Beeskow, nimmt an der illegalen Antikriegskundgebung teil, zu der der Spartacusbund am 1. Mai 1916 aufruft. Künstler wird zum Kriegsdienst einberufen, wohl auch, weil solche Versammlungen von der Obrigkeit observiert werden.
Für die Sozialdemokratie wird die Unterstützung des Kriegskurses durch die Mehrheit der Fraktion zur Zerreißprobe, 1917 schließt sich Franz Künstler der neu gegründeten USPD an.
Im November 1918 ist Künstler Soldatenrat. Er begrüßt die Unterstützung der USPD für das Rätesystem, beteiligt sich aber selbst auch als Kandidat am parlamentarischen System. In den kommenden Jahren wird er Stadtverordneter und später ist er – fast ununterbrochen – Reichstagsabgeordneter.
Als Angestellter des DMV erlebt er – wie auch in der USPD – die zunehmenden Richtungskämpfe in der Arbeiterbewegung. Während ein Teil der USPD sich der kommunistischen Internationale annähert, geht Franz Künstler diesen Weg wegen des Verlustes der Eigenständigkeit und innerparteilichen Demokratie nicht mit. Franz Künstler wird zwar, wie Ingrid Fricke es beschreibt, kein Vorreiter der Annäherung an die Mehrheitssozialdemokratie. Aber die Entwicklung in Russland und die Politik der KPD ließen die Kommunisten immer weniger zum Bündnispartner werden. Als mit dem Mord an Außenminister Rathenau die Bedrohung der jungen Republik durch rechtsextreme und reaktionäre Kräfte spürbar wurde, dürfte das, so vermutet Ingrid Fricke, für Künstler den Ausschlag gegeben haben, mit der Rest-USPD zur SPD zurückzukehren.
Berlin wurde mit den ehemaligen USPD-Mitgliedern ein starker linker Bezirksverband, den Franz Künstler als Vorsitzender erfolgreich durch die kommenden Jahre führte. Nach dem durch die Inflation bedingten Einbruch der Mitgliederzahlen gelang es ihm bis Ende 1931 wieder, die Vorkriegsstärke der Berliner SPD zu erreichen. Bei den Wahlen zwischen Dezember 1924 und November 1929 und bei den preußischen Landtagswahlen 1932 wurde Künstlers SPD zur stärksten Kraft.
Als Redner erlebte Künstler am eigenen Leib, wie Stoßtrupps der KPD Versammlungen der SPD zu sprengen versuchten. Eine Zusammenarbeit scheiterte am mangelnden Vertrauen, für das die KPD auch immer wieder Anlässe liefert. 1932 lehnte die KPD schließlich das auch von Künstler unterbreitete Angebot eines „Burgfriedens“ ab.
Ingrid Fricke ist es gelungen, einen wichtigen Abschnitt der Berliner Geschichte spannend, lebendig und faktenreich zu schildern. Sie berichtet vom Leben Künstlers, von seinem persönlichen Einsatz, aber detailreich auch von den Einflüssen, denen er in seiner Zeit ausgesetzt war.
Ingrid Fricke, Franz Künstler (1888–1942) Eine politische Biographie, erschienen in der Reihe Berliner Beiträge zur Ideen- und Zeitgeschichte, Verlag für Berlin-Brandenburg, 480 Seiten, 29,99 Euro, ISBN/EAN: 9783945256466