Hans Sahl: „Die Wenigen und die Vielen“

Cover "Die wenigen und die vielen"

Cover „Die wenigen und die vielen“

„Der Mann, der Georg Kobbe hieß, ging langsam durch die Zweiundvierzigste Straße zum Broadway. Wie er so dahinschritt, sich mit Armen und Schultern einen Weg bahnend, glich er einem Schiffbrüchigen, der an eine unbekannte Küste gespült worden ist und dich verwundert umsieht: Wo bin ich?“

So endet Hans Sahls Roman „Die Wenigen und die Vielen“, der Georg Kobbe auf den Stationen seiner Flucht begleitet, weg von Berlin, wo das Leben für ihn 1933 lebensgefährlich geworden ist. Amsterdam oder Paris sind Aufenthaltsorte, schließlich New York. Immer wieder treffen sich die Geflüchteten, Heimatlosen, Entwurzelten an neuen Orten. Sie leben wie Georg Kobbe in kleinen Hotelzimmern, leben von Gelegenheitsarbeiten, wissen oft nicht, wie sie über den nächsten Tag kommen können. Sie machen Pläne und kämpfen untereinander weiter die Konflikte aus, die sie aus Deutschland mitgebracht haben oder die ihnen die Weltpolitik zuteilt.

1959 erschien der Roman Hans Sahls erstmals. In kleinen tagebuchartig festgehaltenen Beobachtungen schildert er die Entwicklungen, die das Land veränderten. Menschen, die sich seit ihrer Kindheit kennen, gehen plötzlich aufeinander los, schlagen aufeinander ein. „Im ganzen Land wurde jetzt der Stärkere gegen den Schwächeren ausgespielt.“

Kobbes Vater war 1914 noch mit Begeisterung in den Krieg für Deutschland gezogen, Sahl beschreibt ein jüdisches Elternhaus, das sich angepasst hat und vom Gefühl der Zugehörigkeit beseelt ist, das die Veränderungen um sich herum nicht wahrhaben will. Inmitten der Berichte über die Verfolgung jüdischer Bekannter versucht sich Kobbes Mutter Anna beim Kaffeeklatsch ein Stück Alltag zu erhalten. Der demente Vater erlebt die Veränderungen nicht mehr bewusst. Kobbe selbst bekommt in Berlin ein Jobangebot, der Vertrag soll nach den kommenden Reichstagswahlen unterschrieben werden. „In sechs Monaten ist alles vorüber. Verlassen Sie sich darauf“, sagt der Redakteur zu Kobbe.

In Berlin hätte Georg Kobbe bleiben und seine Artikel schreiben können, hätten die Nazis nicht das Leben unmöglich gemacht. So taucht die Stadt immer wieder in Rückblenden auf. Hans Sahl beobachtet die Menschen, beschreibt den Machtwechsel im Kleinen, Hoffnungen, Lieben, Machtmissbrauch, die Versuche des Widerstands. Die Angst, die sich einschleicht, die Verfolgung und Flucht. Immer wieder trifft Kobbe Luise, die Künstlerin, die mit ihren clownesken Auftritten gegen den Wahnsinn dieser Welt antanzt. Es sind nüchterne Beschreibungen und gerade deshalb sind sie wohl so eindringlich und bewegend.

Hans Sahl, 1902 in Dresden geboren, hat ein Leben wie das Kobbes geführt. Er entstammte einer jüdischen Kaufmannsfamilie, studierte Kunst- und Literaturgeschichte, Archäologie und Philosophie und promovierte über altdeutsche Malerei. Ende der zwanziger Jahre schrieb er Kritiken für die Feuilletons von Berliner Zeitungen, etwa den „Montag Morgen“, für den auch Erich Kästner arbeitete. Dann emigriert er über Prag, Zürich nach Paris, wird interniert, kann schließlich über Portugal in die USA gelangen.

Im Pariser Exil bricht Hans Sahl mit dem Stalinismus, dessen Sicht auf die Menschen er mit der des Nationalsozialismus vergleicht. „Das Exil im Exil“ ist der Titel eines autobiographischen Bandes, in dem er sich mit der Situation auseinandersetzt, ein Ausgestoßener unter den politischen Flüchtlingen zu sein.

Sahl übersetzt im New Yorker Exil amerikanische Autoren wie Tennessee Williams, Arthur Miller, und Thornton Wilder. Anfang der fünfziger Jahre kehrte er für einige Zeit nach Deutschland zurück, erst 1989 übersiedelte er endgültig. Er arbeitete für schweizerische und deutsche Zeitungen. Am 27. April 1993 starb er in Tübingen, begraben aber ist er in Berlin, auf dem Friedhof an der Heerstraße.

„Die Wenigen und die Vielen“, als „Roman einer Zeit“ untertitelt, beschreibt das Lebensgefühl Geflüchteter und macht Emigration spürbar: „…und er wusste, dass er hierbleiben und dass das Exil nie aufhören würde, solange er lebt…. Es war nicht mehr an irgendein Land gebunden, es war ein geistiger Zustand, eine Lebensform geworden, eine Art von passivem Widerstand gegen eine Welt, die nur noch in Kräften und Gegenkräften, in Bewegungen und Gegenbewegungen dachte…“

„Ein wichtiges Buch der Besinnung, eine ergreifend stille Stimme aus dem Chaos, ein Bericht voll bitterer Konsequenz“, urteilte der Autor Wolfgang Koeppen (1906 – 1996).

Hans Sahl: „Die Wenigen und die Vielen“. Roman. Luchterhand Literaturverlag, München 2010. 366 S., geb., 22,95 €.
Taschenbuch-Ausgabe, Sammlung Luchterhand, 1991, 285 S., ISBN 3-630-71008-5

Über Ulrich Horb

Jahrgang 1955, Journalist und Fotograf in Berlin
Dieser Beitrag wurde unter Berlin-Antiquariat, Berlin-Literatur abgelegt und mit , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert