„Pinselheinrich“ nannten ihn liebevoll Spötter. Seine Zeichnungen haben das Bild Berlins geprägt. Er hat die Hinterhöfe in Charlottenburg, Kreuzberg oder Wedding als Motive erkannt, hat die Kinder beim Spielen auf der Straße gezeichnet, die Armut und Enge in den Mietskasernen festgehalten. Mit dem Zeichenstift hat er das Berliner „Milljöh“ um 1900 dokumentiert. Nach 1967 erschienen mehrere Veröffentlichungen, die Heinrich Zille als Fotografen zeigen sollten, so auch der von Winfried Ranke eingeleitete Band „Heinrich Zille – Photographien Berlin 1890 – 1910“. Die Urheberschaft Zilles ist allerdings nicht zweifelsfrei nachweisbar.
Unbestritten ist, dass Heinrich Zille beruflich mit der noch jungen Technik der Fotografie Berührung hatte. Zille, geboren am 10. Januar 1858 in Radeburg bei Dresden, kam mit seiner Familie Ende der achtzehnhundertsechziger Jahre nach Berlin und lebte anfangs in einer ärmlichen Kellerwohnung nahe dem Schlesischen Bahnhof. Nach dem Willen seines Vaters sollte er das Metzgerhandwerk erlernen, Freude hatte er allerdings eher am Zeichnen. So nahm er privaten Zeichenunterricht, begann eine Ausbildung als Lithograph und lernte den Umgang mit verschiedenen Drucktechniken. 1877 wurde er als Geselle bei der „Photographischen Gesellschaft Berlin“ angestellt, für die er drei Jahrzehnte arbeitete. Laborarbeit, die Anfertigung von fotografischen Abzügen, war ihm vertraut.
So lag die Vorstellung nahe, dass er selbst auch mit der Kamera unterwegs war. 1967 erschien im Fackelträger-Verlag ein Band, in dem Friedrich Luft 100 Fotografien aus dem alten Berlin vorstellte, „aufgenommen von Heinrich Zille selber“. Es folgten weitere Veröffentlichungen, so Winfried Rankes Bildband „Photographien Berlin 1890 – 1910“, zunächst erschienen bei Schirmer/Mosel, später als Taschenbuch im Heyne-Verlag. Die Fotografien, zum Teil Papierabzüge, aber auch einige Negative, befanden sich in der noch immer von der Familie Zille genutzten Charlottenburger Wohnung Heinrich Zilles. Dort lagen sie offenbar lange Zeit unbeachtet, aus welchen Gründen auch immer. Neben einigen Familienfotos sind es Straßenszenen, Rummelplatzmotive und Aktfotografien – Motive, die für Heinrich Zille durchaus von Interesse gewesen sein könnten.
Winfried Ranke leitet in seinem Begleittext aus den Aufnahmen die vermutete fotografische Herangehensweise von Zille ab, die Motivwahl. Er geht der Frage nach, wann Zille zum Pinsel und wann zur Kamera gegriffen haben könnte. Er stellt aber auch fest: „Die Tatsache, dass Zille selbst photographische Aufnahmen gemacht hat, wird bis 1967 in der Zille-Literatur überhaupt nicht erwähnt.“ Das hat gute Gründe, glaubt der Dresdener Fotograf Detlef Zille, nicht verwandt mit der Familie von Heinrich Zille. Er hat sich ausführlich mit den Zille zugeschriebenen Aufnahmen befasst (Fotogeschichte 130, 2013) und sieht keinen Beleg dafür, dass der Zeichner überhaupt eine Kamera besessen oder entliehen hat, geschweige denn vier verschiedene, wie es anhand der unterschiedlichen Plattengrößen der Aufnahmen notwendig gewesen wäre. Für einige Aufnahmen lässt sich nur feststellen, dass Zille an ihrer Entwicklung und Laborbearbeitung beteiligt war.
Auch bei Zilles Zeitgenossen, die über viele Details berichtet haben, gibt es keine Hinweise auf fotografische Betätigung. Der Maler Otto Nagel, mit Zille befreundet und Verfasser einer umfassenden Würdigung des Malers und Zeichners, erzählt von den „kleinen Papierblättchen“, auf denen Zille, wo auch immer er gerade war, seine Studien festhielt, aber nichts von einer Kamera. Detlef Zilles Vermutung: Finanzielle Interessen ließen in den sechziger Jahren die Fragen nach der Urheberschaft der Fotos in den Hintergrund treten, die Zille-Erben hatten eine neue Einnahmequelle erschlossen, es gab Abzüge von den Platten, das Land Berlin kaufte den Bestand schließlich an.
Dass sich die Aufnahmen im Besitz Zilles befanden, belegt noch nicht die Urheberschaft und könnte auf das Interesse des Zeichners an den Motiven zurückzuführen sein, die wie seine zeichnerischen Arbeiten die soziale Situation in der sich wandelnden Stadt zeigen. Und die ihm vielleicht als Vorlagen für Straßenszenen und Aktzeichnungen dienen konnten.
Ohne die vermutete Urheberschaft Zilles hätten es manche Aufnahmen sicher nicht in eine Buchveröffentlichung geschafft. Schärfe, Ausschnitt und Blickwinkel lassen in einigen Fällen zu wünschen übrig. Als historische Dokumente aus der Zeit Zilles, von wem auch immer aufgenommen, lohnen sie allemal das Anschauen.
Ihre Entdeckung und Zuschreibung zeigt allerdings nachhaltig Wirkung. In den veröffentlichten Lebensläufen wird Zille seither als „Grafiker, Zeichner, Fotograf“ geführt. „Erst nach seinem Tod wird seine Bedeutung als Fotograf erkannt“, heißt es etwa im Zille-Lebenslauf des Deutschen Historischen Museums von 2014.
Die Berlinische Galerie, in deren Besitz sich die Fotoarbeiten seit 1987 befinden, hat den Bestand in den vergangenen Jahren digitalisiert. „Dieser besteht aus 152 Originalabzügen und mehr als doppelt so vielen Glasnegativen“, so ihre Bestandsübersicht. „Unter Auftrag der Berlinischen Galerie fertigten die Fotografen Michael Schmidt und Manfred Paul 1993/94 zahlreiche Neuabzüge an, weshalb das gesamte Heinrich Zille Konvolut mittlerweile 628 Datensätze umfasst. Dazu gehören auch 85 Fotografien, die nicht eindeutig Zille zugeschrieben werden können.“
Mehr zur Frage der Urheberschaft auf der Seite von Detlef Zille
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W. Ranke, Heinrich Zille – Photographien Berlin 1890 – 1910, München 1975, 88 Seiten Text, 199 Seiten Fotos