Werner Ratajczak, Leben für die Demokratie
geboren 4.9. 1928
Er blieb Sozialdemokrat, auch als es seine Partei viele Jahre nicht gab. Mehr als 70 seiner mehr als 90 Lebensjahre ist Werner Ratajczak mit der SPD verbunden. Das war im Ostteil der Stadt nicht immer einfach.
Es waren die Erfahrungen mit Krieg und Nationalsozialismus, die Werner Ratajczak prägten. Er war 16, als er im April 1945 an die Front sollte. Die Großeltern, bei denen er aufgewachsen war, verboten das kurzerhand, er versteckte sich und überlebte.
Nach Kriegsende begann er in Friedrichshain eine Lehre als Elektrofacharbeiter. Und er suchte eine politische Heimat. Im Frühjahr 1946 hatten sich Teile der SPD unter starkem Druck mit der KPD zur SED vereint. Die SPD aber gab es nach einer Urabstimmung weiter. Und nur sie kam für Werner Ratajczak in Frage, als er sich 1947 politisch engagieren wollte. „Mir war immer völlig klar, dass das System der Sowjetunion genauso diktatorisch ist wie das des Nationalsozialismus“, so Werner Ratajczak. Der SPD sei es um soziale Gerechtigkeit gegangen, aber eben auch um Freiheit und Demokratie.
Um von der SPD in Friedrichshain aufgenommen zu werden, musste er ein Jahr die Veranstaltungen seiner Abteilung besuchen und zwei Bürgen haben. Am 18. Mai 1948 erhielt er sein Parteibuch, gut einen Monat später erreichte der Kalte Krieg mit der Blockade West-Berlins einen ersten Höhepunkt. Die Stadtverwaltung, in der die SPD seit der Wahl 1946 mit Abstand stärkste Partei war, wurde gespalten, die SED gab in Ost-Berlin den Ton an. Als Sozialdemokrat durfte Werner keinen Meister machen, nicht studieren.
Die SPD-Abteilung 16 in Friedrichshain traf sich im Keglerheim in der Sonntagstraße. 40, 50 Mitglieder und Gäste kamen jeden Monat. Ob die Stasi mit dabei war, war für Werner Ratajczak nicht erkennbar. Aber Akten zeugen von intensiver Beobachtung. Rund 12.000 Seiten stellte die Stasi-Unterlagenbehörde für Friedrichshain zusammen, als der SPD-Abgeordnete Sven Heinemann 2013 nachforschte. Werner Ratajczak war Jungsozialistenbeisitzer. Im Westen, in Steglitz, nahm er an den Schulungen der Jungsozialisten teil. bei denen auch die SPD-Geschichte vermittelt wurde. Für Werner eine wichtige Grundlage, die er bei jüngeren Mitgliedern heute manchmal vermisst.
An Wahlen konnte die SPD in Ost-Berlin nicht teilnehmen. „Und wir wollten das auch nicht, wir wollten uns an diesem System nicht beteiligen“, sagt er. Wahlkampf machte er dennoch: Die Friedrichshainer unterstützten Willy Brandt und die Kreuzberger Sozialdemokraten mit ihrem schillernden Bürgermeister Willy Kressmann.
1953 heiratete Werner seine Frau Gerda. Ende der fünfziger Jahre zogen sie in eine neu erbaute Genossenschaftswohnung in der Annenstraße, Werner etwas widerwillig, weil dort viele SED-Mitglieder Wohnungen bekamen. Als er seine SPD-Fahne in eine Halterung vor dem Küchenfenster steckte, ersetzte eine Nachbarin sie umgehend durch eine rote.
Zu Funktionärsversammlungen fuhr man in die Westbezirke. Allerdings versteckte sich die SPD in Ost-Berlin auch nicht. Es gab bis 1961 ein SPD-Kreisbüro in der Krossener Straße 22, der Kreisvorsitzende Kurt Neubauer war Bundestagsabgeordneter, gewählt vom West-Berliner Abgeordnetenhaus. Und gemeinsam mit der Kreuzberger SPD fuhren die Friedrichshainer jedes Jahr mit einem Dampfer der Weißen Flotte die Spree entlang.
Noch war die Grenze durchlässig, Flugblätter und Zeitungen holte Werner aus dem SPD-Büro in der Zietenstraße. 1959 fand er im Westen Arbeit bei Siemens. Aber die Konflikte verschärften sich. Als Grenzgänger drohte ihm der Verlust der Wohnung. 1961 kündigte er bei Siemens und fing beim VEB Elektroblitz an.
Ein mit Kurt Neubauers Hilfe geplanter Umzug in den Westen kam nicht zustande. Wegen eines Streits mit einem Volkspolizisten wurde Werner Ratajczak zwei Tage vor dem Mauerbau 1961 festgenommen und zu einem halben Jahr Haft wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt verurteilt. Im Februar 1962 wurde er aus Rummelsburg entlassen.
Die SPD-Mitglieder in Ost-Berlin, 750 allein in Friedrichshain, wurden im August 1961 vom SPD-Landesvorstand aus ihren Pflichten entlassen, die Volkspolizei schloss das SPD-Büro. Seine Meinung konnte Werner Ratajczak nur noch privat äußern.
Aus den West-Nachrichten erfuhr er im Herbst 1989 von der Gründung der SDP, im Briefkasten lag wenig später eine Einladung zu einem noch konspirativen Treffen bei den Familien Bassenge und Regine Hildebrandt. Werner Ratajczak half beim Wiederaufbau der SPD in Mitte, er meldete sich im Kurt-Schumacher-Haus, brachte jüngere und ältere Sozialdemokraten zusammen. Damals hätte sich die SPD auch für ehemalige SED-Mitglieder öffnen sollen, sagt er.
Einige West-Genossen empfand er damals als überheblich. Aber es gab auch viel Unterstützung. Nur die Demokratie habe er sich anders vorgestellt, sagt Werner Ratajczak heute. Entschlossener.
„Die SPD ist eine linke Partei. Mit rechts hat sie nichts zu tun“, sagt er. Noch mit 90 Jahren gehörte er als Beisitzer dem Vorstand der AG 60plus an. Und mit seinem Projekt der Unterstützung ehemaliger ukrainischer Zwangsarbeiterinnen, Opfer des NS-Regimes, hatte er eine Aufgabe gefunden, die er über viele Jahren mit ganzem Herzen wahrnahm. Ulrich Horb