SPD-Landesparteitag vom 29. Mai 1992: Protokoll

Landesparteitag der SPD, Landesverband Berlin

am Freitag, dem 29. Mai 1992, im ICC Berlin, Saal 2

Beginn: 15.51 Uhr

Präs. Siegrun   K l e m m e r   : Liebe Genossinnen und Genossen! Wir dürfen euch ganz herzlich bitten, die Plätze einzunehmen, damit wir anfangen können.

Das Wort zur Eröffnung des heutigen Parteitages hat Monika Buttgereit.

(Beifall)

Punkt 1 der Tagesordnung

Eröffnung und Begrüßung

Monika   B u t t g e r e i t   : Liebe Genossinnen und Genossen! Liebe Gäste! Ich begrüße Sie und euch sehr herzlich auf unserem Landesparteitag.

Besonders herzlich begrüße ich die zahlreichen Freundinnen, Freunde und Gäste aus unserer Stadt und aus den Nachbarorten in Brandenburg.

(Beifall)

Mein weiterer Gruß gilt unseren Ehrengästen und Seniorinnen und Senioren, unter denen ich folgende besonders begrüßen möchte: Die Vertreterinnen und Vertreter der Gewerkschaften, des Hauptpersonalrats von Berlin, der KOMBA Berlin sowie des Deutschen Beamtenbundes, des Deutschen Postverbandes und des Bundes deutscher Kriminalbeamter; die Vertreterinnen und Vertreter des Bundes Deutscher Kriegsopfer, Körperbehinderter und Sozialrentner, des Bundes Deutscher Hirnbeschädigter, der Arbeiterwohlfahrt, des Deutschen Freidenker Verbandes sowie der Friedrich‑Ebert‑Stiftung, der Falken und des Landeselternausschusses sowie des Landesschulbeirats

Ferner begrüße ich die Vertreterinnen und Vertreter der Botschaften und Konsulate aus Amerika, Italien, Ungarn und Polen.

(Beifall)

Aus kirchlichen Kreisen begrüßen wir die Vertreter der evangelischen Kirche des Bistums Berlins sowie des Diözesanrates der Katholiken im Bistum Berlin.

Außerdem begrüße ich die Vertreterinnen und Vertreter der Innung des Berliner Taxigewerbes und der Arbeitsgemeinschaft privater Berliner Verkehrsverbände.

(Beifall)

Mein Gruß gilt auch den Vertreterinnen und Vertretern der Presse, des Funks und des Fernsehens.

Ganz besonders herzlich begrüße ich natürlich euch, die Delegierten unseres Landesparteitags.

(Beifall)

Im Mittelpunkt unseres heutigen Parteitags steht die Auswertung der Bezirkswahlen vom letzten Sonntag. Ich denke, wir haben keinen Anlass, uns beruhigt zurückzulehnen, weil wir im Verhältnis zur CDU mit einem blauen Auge davongekommen sind.

Diese Wahl war keine reine Bezirkswahl, sondern sie war auch ein Meinungsbild, eine Abstimmung über die Politik des Senats, über die Politik der großen Koalition. Es gilt also, das Wahlergebnis zum Anlass zu nehmen, uns mit der Politik der großen Koalition kritisch auseinanderzusetzen.

Wir sind angetreten mit dem Anspruch, in dieser Koalition für eine Politik des sozialen Ausgleichs und der Gerechtigkeit zu sorgen. An diesem Anspruch müssen wir uns und die Politik der großen Koalition nun messen lassen. Wir sollten auch prüfen, ob die Koalition die Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger, die großen Probleme in unserer Stadt in den Griff zu bekommen, erfüllt hat.

Einen weiteren wichtigen Bereich dieses Parteitags wird die Antragsberatung darstellen. Die Diskussion von Anträgen in zentralen Bereichen dient der programmatischen Weiterentwicklung unserer Partei. Das ist für die SPD, die eine programmatische Partei ist, eine ungeheuer wichtige Sache. Deswegen ist es heute angesichts immer komplexer werdender Probleme wichtiger denn je, über diese Anträge zu beraten. Ich hoffe, dass wir in einigen wesentlichen Bereichen wie zum Beispiel der Verkehrspolitik, dem § 218 und der Asylpolitik in unserer Antragsberatung deutliche Signale setzen werden.

Der Parteitag ist eröffnet!

(Beifall)

Präs. Siegrun   K l e m m e r   : So, liebe Genossinnen und Genossen, bevor Walter jetzt in der Tagesordnung fortfährt, darf euch das Präsidium einige Mitteilungen machen: Die Kommissionen, die auf dem Jahresparteitag gewählt wurden, sind im Amt. Für die Kommissionen steht wie immer der Raum 82 auf der Galerie im Saal 2 zur Verfügung.

Wir schlagen vor, die Redezeit auf fünf Minuten zu begrenzen und die Frist für Initiativanträge auf 17 Uhr festzusetzen.

Für die Kinderbetreuung steht der Raum 27 zur Verfügung.

Dann bittet die Büchergilde Gutenberg, auf sie aufmerksam zu machen und sie eurer besonderen Beachtung zu empfehlen. Von uns aus gesehen sind sie auf der rechten Seite. ‑ Das Protokoll bittet im Interesse einer ordnungsgemäßen Führung alle diejenigen, die nachher das Wort ergreifen, darum, uns auf ihrem Meldezettel den Kreis mit angeben. Das erleichtert dem Protokoll die Identifizierung.

Wir kommen nun zu

Punkt 2 der Tagesordnung

Das Ergebnis der Kommunalwahlen

in Berlin vom 24. Mai 1992

und seine Konsequenzen

‑ Walter Momper

‑ Thomas Härtel

 

Das Wort hat Walter Momper!

Walter   M o m p e r   : Liebe Genossinnen und Genossen! Liebe Freunde! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Wahlen am vergangenen Sonntag haben nicht nur die Zusammensetzung der 23 Bezirksverordnetenversammlungen bestimmt. Das Ergebnis gibt auch eine Momentaufnahme der politischen Stimmung in unserem Land insgesamt und auch in unserer Stadt wieder.

Bevor wir uns mit dem Ergebnis im Einzelnen beschäftigen, sollten wir uns das vor Augen führen. Das schützt uns vor einer zu engen Sicht und auch einigen zu kurz gegriffenen Einschätzungen, die sich in diesen Tagen in vielen Zeitungen und auch in Gesprächen wiederfinden.

Da ist vom Denkzettel für die großen Parteien die Rede ‑ das ist sicher richtig. Sorgen über die Partei der Nichtwähler stehen in allen Kommentaren ‑ wie ich meine, zu Recht. Andere beklagen kulturkritisch den Verlust an Vertrauen in das politische System ‑ auch da ist etwas dran. Diesen Analysen ist eines gemein: Die Einsichten sind richtig, aber sie sind noch nicht die ganze Realität. Es sind eher Symptome der schwierigen Lage, in der das Land und auch unsere Stadt sich befinden.

Vergegenwärtigen wir uns den geschichtlichen Moment, in dem wir uns befinden: Die Bundesrepublik und Berlin befinden sich in dem schwerwiegendsten Umbruch seit 1945: Fast alle Lebensbedingungen, die für die Menschen in Deutschland fast ein halbes Jahrhundert lang gegolten haben, sind in wenigen Jahren hinweggefegt oder massiv verändert ‑ das gilt auch für den Westen, auch dort, wo er es noch gar nicht weiß. Es ist ja nicht nur die Einheit Deutschlands, die unser politisches Koordinatensystem verschoben hat. Mit dem Ende der Sowjetunion, mit dem Ende des Ost‑West‑Gegensatzes ist die alte Ordnung Europas und der Welt weg. Und eine neue Ordnung gibt es noch nicht. Es ist die Zeit der größten Veränderung und auch der größten Unsicherheit über unsere Zukunft. Und die Politik ‑ jedenfalls wenn sie ehrlich ist ‑ kann viele Fragen nach dem Morgen überhaupt noch nicht beantworten.

Viele von euch werden jetzt fragen: Was hat das alles mit den Bezirkswahlen zu tun? Ich sage, eine ganze Menge. Denn die Beunruhigung, die Unsicherheit, die auf diese in wenigen Jahren vollzogene Entwicklung folgt, schlägt sich in jeder politischen Handlung und in jedem gesellschaftlichen Bereich nieder. Diese Unsicherheit wirkt sich tief auf das Denken und das Fühlen der Menschen aus. Alle gesellschaftlichen Kräfte, die Institutionen unseres Staates, die Tarifpartner, jeder einzelne Bürger ‑ alle spüren die enorme Anspannung der Kräfte, die nötig ist, um das gewohnte gesellschaftliche Gleichgewicht zu sichern.

Deshalb halte ich es auch für grundfalsch, bei der Analyse des Wahlergebnisses die Zahlen von 1989 als Vergleichsgrundlage zu nehmen. Das war damals eine Wahl unter West‑Berliner Bedingungen. An die schnelle Einheit Berlins glaubte damals niemand ernsthaft. Die politischen Streitpunkte waren wichtig, aber sie sind doch mit der derzeitigen Aufgabenstellung überhaupt nicht zu vergleichen. Auch die Mai‑Wahlen 1990 im Ostteil der Stadt taugen nur begrenzt als Vergleichsgröße: Das war noch vor der Währungsunion, niemand wusste den Zeitpunkt der Einigung, und seine Folgen konnte wirklich niemand so voraussagen.

Nur der Vergleich zur Wahl am 2. Dezember 1990 kann vernünftigerweise Erkenntnisse über die Verschiebung der politischen Verhältnisse geben. Ich sage das ausdrücklich nicht, weil wir als SPD damit besser aussehen. Ich will damit auch tatsächlich vorhandene Probleme nicht etwa schönreden ‑ das kann ich auch gar nicht, im Gegenteil. Aber wenn wir die richtigen Konsequenzen ziehen wollen, müssen wir bei solchen Vergleichen schon präzise sein.

Dennoch sind manche Ergebnisse für uns bitter: so der Verlust des Bürgermeisteramtes in Neukölln, so der Rückstand der SPD mit 209 Stimmen hinter der CDU in Reinickendorf, ebenso die Verluste in den sechs Westkreisen. gegenüber 1990. Trotzdem sage ich: Unter den gegebenen Umständen bin ich mit dem Ergebnis für die SPD jedenfalls nicht unzufrieden, und dabei bleibe ich auch. Wir haben unsere Position in Berlin ausbauen können, wir sind die stärkste politische Kraft in der Stadt. Zugegeben: 31,8 % sind für den Anspruch einer Volkspartei, die wir sind, viel zu wenig. Das ist bestenfalls das Niveau der Wahlergebnisse von 1985. Da wollen wir in Zukunft schon um mehr Zustimmung kämpfen. Aber dass wir unter diesen Bedingungen überhaupt stadtweit zulegen konnten, ist keine Selbstverständlichkeit.

Wir alle wissen, unter welch schwierigen Bedingungen die Berliner SPD seit dem letzten Jahr agieren muss ‑ Monika hat das hier eben angesprochen ‑: Wir sind der kleinere Partner in einer großen Koalition. In dieser Koalition können wir die politischen Unterschiede nicht so zuspitzen, wie es uns als Opposition möglich wäre. Es ist nicht das Maß an politischer Polarisierung im Wahlkampf zu erzielen, wie es sonst in einem vergleichbaren Fall entfaltet werden könnte. Hinzu kommt, dass die vorhandene schlechte Stimmung in der Stadt in dieser schwierigen Phase auch zu unseren Lasten gehen kann. Ich erinnere euch nur an das Ergebnis für die SPD in Baden‑Württemberg: Was für Voraussetzungen hatte dort die SPD: eine verbrauchte CDU, mit dem Späth‑Skandal besonders belastet, einen respektablen sozialdemokratischen Spitzenkandidaten mit Profil ‑ alles Voraussetzungen für einen Wechsel und für eine Zunahme. Trotzdem hat die SPD in Baden‑Württemberg nicht zugewonnen, sie hat sogar noch Prozente verloren.

Noch einen Punkt will ich nennen: Die Politik‑ und die Parteienverdrossenheit belasten natürlich auch unser Konto. Wenn man sich die absoluten Stimmzahlen ansieht, so liegt darin ein großes, sehr ernst zu nehmendes Problem, auf das ich noch zurückkommen werde.

Aber trotzdem müssen die Relationen hergestellt werden: Die Wahlbeteiligung entspricht der für Kommunalwahlen im Westen. In Köln beispielsweise lag die Wahlbeteiligung bei den dortigen Kommunalwahlen 1989 bei nur 57,4 %, und das ist in den meisten Kommunalwahlen so. Das ist zu wenig, aber wer darin gleich den Untergang der Demokratie wittert, der sollte doch, bitte, die Kirche im Dorf lassen.

Es ist sicher in erster Linie ein Problem der Politik, wenn der Bürger glaubt, die Ausübung des Wahlrechts bewirke für ihn nichts oder jedenfalls nichts Sinnvolles. Aber manchmal ist es auch eine modische Attitüde in bestimmten Kreisen, nicht zur Wahl gehen zu müssen. In diesen harten Zeiten des Verteilungskampfes erinnere ich daran, dass zum Beispiel Sozialpolitik, aber auch Wohnungsbaupolitik immer mit dem Stimmzettel durchgesetzt werden müssen. Dafür braucht man Mehrheiten. Jeder, der nicht abstimmt, muss wissen, dass er damit den anderen einen Gefallen tut.

Aber Fehler der Parteien müssen ebenso hart analysiert werden, da darf es keine Tabus geben. Gerade jetzt sind alle politischen Parteien gefordert, Wege aus den Legitimationsdefiziten von Politik und Parteien zu finden. Die SPD jedenfalls wird sich dem stellen.

Zurück zum Berliner Ergebnis: Das Berliner Ergebnis ist ein erster Schritt für uns aus dem Keller des 90er Ergebnisses zu den nächsten Abgeordnetenhauswahlen hin. Ein Punkt ist mir dabei besonders wichtig: Die Berliner SPD ist in beiden Hälften der Stadt gleich akzeptiert. 31,8 % der Wählerinnen und Wähler wählen uns im Ostteil und im Westteil der Stadt. Das ist ein kaum zu überschätzender strategischer Wert für uns. Keine andere politische Kraft kann das aufweisen: Die CDU ist mit 14 % im Ostteil stark westlastig, die PDS bleibt mit ihrem Anteil im Osten praktisch eine Spalterpartei. Auch die FDP hat noch Ost‑West‑Gefälle, und Bündnis und AL haben sich noch nicht einmal zu einer gemeinsamen Partei zusammengerauft. Mittel‑ und langfristig ist eine Partei nur dann mehrheitsfähig, wenn sie im gesamten Wahlgebiet ein einigermaßen homogenes Ergebnis ohne gravierende Ausreißer erzielt. Das heißt: Die Berliner SPD ist die Berlin‑Partei. Nutzen wir den Vorsprung, bauen wir ihn aus, indem wir unsere nach wie vor vorhandenen organisatorischen Defizite im Ostteil der Stadt ausgleichen. Das wird eine der wichtigsten Aufgaben unverändert bleiben, und wir haben sie noch nicht einmal im Ansatz bewältigt.

(Beifall)

Wir haben in den vergangenen Monaten einen kurzen, aber sehr intensiven Wahlkampf geführt. Im Mittelpunkt standen die brennenden Themen, die die Menschen bewegen: Arbeitsplätze schaffen und erhalten, Wohnen und Mieten und die Lösung der Verkehrsprobleme. Dieser Wahlkampf war nicht leicht zu führen. Die Bezirkswahl ist eine Domäne der Kreise, trotzdem war die Berliner SPD als ganze Organisation landesweit einheitlich präsent. Deswegen haben wir auch einen landesweiten Wahlkampfstab eingerichtet. Seine Arbeit wird im Anschluss Thomas Härtel bewerten. Ich möchte allen Beteiligten herzlich dafür danken, zu der nicht immer ganz leichten Abstimmung zwischen Landesebene und Kreisen beigetragen zu haben. Thomas Härtel hat die Aufgabe als politischer Wahlkampfleiter mit dem nötigen Fingerspitzengefühl, aber auch mit der nötigen Konsequenz, wenn es nötig war, gut gelöst. Ihm gebührt dafür unser Dank.

(Beifall)

Ebenso danken wir Monika Höppner und Detlef Dzembritzki für ihre Mitarbeit im Wahlkampfstab.

(Beifall)

Ihr habt das zusätzlich zu euren übrigen Belastungen auf euch genommen. Ich danke euch. Der Beifall hat es gezeigt: Wir alle danken euch für euer Engagement in dieser Sache.

Noch einen wollen wir nicht vergessen ‑ unseren technischen Wahlkampfleiter Reiner Ploch.

(Beifall)

Mir ist aufgefallen, dass die Barthaare bei ihm in den letzten Wochen zunehmend grauer geworden sind. Ich kann das nachvollziehen.

(Zuruf)

‑ Männlicher sieht es auch aus, richtig, Marianne. Das hat nun eine Frau gesagt.

Das war manchmal ein schlimmes Wechselbad: Kommt Engholm nun, kommt er nicht, dann doch wieder ja, dann wieder nein, wieder nicht, und dann ist er doch gekommen. Also, ich weiß, wo das hergekommen ist, Reiner. Noch nie haben wir einen Wahlkampfleiter gehabt, der mit so wenig Geld einen so veritablen Wahlkampf auf die Beine gestellt hat. Dir und allen, die dabei geholfen haben, sagen wir ein herzliches Dankeschön.

(Starker Beifall)

Bei meinen lobenden Worten möchte ich auch die nicht vergessen, die sonst ‑ mal mehr, mal weniger verdient ‑ eher Gegenstand der Kritik der Partei selbst sind und sie zu spüren bekommen, nämlich die Jungsozialistinnen und Jungsozialisten.

(Vereinzelter Beifall)

Ich fand es toll, wie ihr in wenigen Tagen den Plakatierungstrupp zusammenbekommen habt, um die Ausfälle bei der Plakatierung in den Kreisen, die ziemlich herb waren, zu beheben. Es machte Spaß, zur Müllerstraße zu kommen und auch andere arbeiten zu sehen, wenn ihr da draußen am Container mit Kleister und Pappe zugange wart. Wer solchen Einsatz zeigt, der verschafft sich natürlich auch mehr Gehör, wenn er mal kritisiert oder sonst politische Inhalte verfolgt. Jungsozialistinnen und Jungsozialisten, wir danken euch für euren Einsatz.

(Starker Beifall)

Einige Bemerkungen zum Ergebnis der Reps. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Jede Stimme für die Reps ist eine verlorene Stimme, eine verlorene Stimme für die Demokratie!

(Vereinzelter Beifall)

Jede Stimme für die Reps ist auch eine Stimme zuviel. 8,3 % für diese demagogische Partei ohne Konzept und ohne Programm sind exakt 8,3 % zuviel. Wir müssen die Motive der Bürger, die die Reps gewählt haben, verstehen; wir müssen sie ernst nehmen und alles daransetzen, sie abzubauen.

Zum Vergleich mit Berlin: Im reichsten Land der Bundesrepublik, in Baden‑Württemberg mit nur 4 % Arbeitslosigkeit, haben die Rechtsradikalen fast 11 % erzielt. Angesichts der weit größeren Spannungen, der Unsicherheit in Berlin, sind die 8,3 % hier relativ weniger, als sich Herr Schönhuber erhofft hat und ‑ wenn wir ehrlich sind ‑ wohl auch die meisten von uns befürchtet haben. Ich will das Problem nicht verniedlichen, aber im Ausland hat Berlin sein internationales Ansehen wahren können. Dazu haben übrigens nicht nur die Wählerinnen und Wähler, die zur Wahl hingegangen sind, beigetragen, sondern auch die Berliner CDU hat dazu beigetragen. Sie hat darauf verzichtet ‑ anders als andere ‑ mit ausländerfeindlichen Parolen und einer verzerrenden Asyldebatte die Stammtische aufzuheizen. Trotzdem: Es ist und bleibt ein schlimmes Warnzeichen, wenn die Reps in mindestens vier Bezirken einen Stadtrat stellen.

Liebe Genossinnen und Genossen! Wir müssen das Wahlergebnis so akzeptieren, wie es ist. Ich kann es zwar keinem BVV‑Mitglied verdenken, wenn es den Rep‑Stadtrat, der ansteht, nicht mitwählen kann ‑ ich selbst könnte es auch nicht. Ich warne aber davor, durch Tricks den Wählerwillen zu beugen. Wohl oder übel müssen wir diese Leute in den Bezirksämtern ertragen. Macht umgekehrt einen Schuh daraus: Zeigt der Öffentlichkeit, wie wenig diese Demagogentruppe drauf hat. Führt sie vor, wo ihr es könnt ‑ dann blättert der braune Lack auch ganz schnell wieder ab.

(Vereinzelter Beifall)

Genauso viel Sorgen macht das überraschend gute Abschneiden der PDS im Ostteil der Stadt. Hier drückt sich eine Lagermentalität aus. Schaut man sich die Stimmbezirke an, so haben hauptsächlich Angestellte des alten Staatsapparats und der Sicherheitsorgane für die PDS gestimmt. Unsere Erwartungen auf ein rasches Abschmelzen der PDS haben sich nicht erfüllt. Dennoch: Mit nur 0,9 % im Westen hat diese Partei keine realistische Zukunftschance. Das heißt für uns aber nicht, dass wir einfach die Lösung dieses Problems abwarten. 170 000 Wähler in dieser Stadt dürfen nicht einfach beiseite gelassen werden. Auch diese Menschen müssen für unser Gesellschaftssystem gewonnen werden. Wir wollen auch sie integrieren. Wir wollen, dass auch sie ihren Lebensunterhalt selbst verdienen können. Wir wollen, dass sie wiedergutmachen können, was sie möglicherweise dem Land und den Deutschen der ehemaligen DDR angetan haben. Das ist keine Frage des ideologischen Kampfes gegen den Kommunismus. Der ist mausetot. Aber es kommt darauf an, allen Menschen im Ostteil der Stadt eine sichere soziale Perspektive zu geben. Solange der industrielle Niedergang und die Arbeitslosigkeit weitergehen, werden die Menschen PDS wählen. Sicherlich gibt es unter diesen 170 000 Menschen einen großen Teil ewig Gestriger. Aber im Osten haben Menschen ihre Stimme der PDS auch aus Protest gegen die falsche Politik der Bundesregierung gegeben. Sie fühlen sich nicht in unsere Gesellschaft integriert. Wir müssen in dieses Ghetto einbrechen und offensiv mit diesen Wählerinnen und Wählern ins Gespräch kommen. Unsere Politik muss an dem Punkt beweglicher werden und auch auf die Sorgen dieser Menschen eingehen.

Im Hinblick auf die Bezirksamtsbildung gilt für beide Parteien ‑ für die Reps und für die PDS ‑: Die SPD wird keine Zählgemeinschaft mit diesen Parteien eingehen!

(Beifall)

Für uns gilt, was auch für andere gelten sollte: Mehrheiten für Wahlen müssen vorher in den Bezirksverordnetenversammlungen feststehen, damit man keine PDS­ oder Rep‑Stimmen benötigt oder auch nur in den Geruch kommt, sie zu benötigen. Auch wenn einige Zeitungen Falschmeldungen verbreiten: Es gibt keine Verhandlungen mit PDS und Reps von seiten der Berliner SPD!

(Beifall)

Die CDU will die große Koalition überall in den Bezirken haben. Ich lehne dieses Ansinnen der CDU ab.

(Beifall)

Die große Koalition wird nicht von oben herab für alle Bezirke verordnet. Die Berliner Verfassung sieht vor, dass die Bezirke nach den Grundsätzen der Selbstverwaltung politisch zu gestalten sind ‑ nicht nur, weil ich auf diese Verfassung einmal vereidigt worden bin, auch sonst ist das ein vernünftiger Grundsatz. Denn Selbstverwaltung heißt, sich selbst zu verwalten, nicht Gleichschaltung. Ich weiß nicht, wie es sich bei der CDU verhält, aber der SPD‑Landesverband ist kein Politbüro. Im Übrigen gibt das die Koalitionsvereinbarung auch nicht her. Sie sieht „faire Partnerschaft“ auch in den Bezirken vor, aber auch nicht mehr.

Im Übrigen hat die SPD ein Interesse daran, schnell handlungsfähige Bezirksämter zu bilden. Ich bin sicher, dass unsere Mandatsträger in den Bezirken die richtigen Entscheidungen treffen, die im Interesse des jeweiligen Bezirks, regional durchaus unterschiedlich, geboten sind. Niemand wird dabei vergessen, wer mitgekämpft hat, als es galt, Tempo 30‑Zonen oder Busspuren in den Bezirken zu verteidigen. Da waren im Übrigen auch CDU‑Stadträte dabei.

Die CDU hat am vergangenen Sonntag eine vernichtende Niederlage einstecken müssen. Das ist ein Desaster, das mich mit Sorge erfüllt. Nur noch 14 % im Ostteil der Stadt, auf ganz Berlin gerechnet über 13 % Verlust in nicht einmal 18 Monaten ‑ das ist in der Tat eine schwere Schlappe, die Herr Diepgen auch eingeräumt hat. Das ist eine Quittung für die falschen Versprechungen vor der Einheit. Das ist in erster Linie ein Votum gegen die Ignoranz der Bundesregierung, die tatenlos zusieht, wie Industrie in den neuen Bundesländern plattgemacht wird.

Jeder kennt meine Kritik am Regierenden Bürgermeister Diepgen. Ich habe ihn oft genug vor Leisetreterei gegenüber Bonn gewarnt. Aber er trägt nicht die Hauptschuld an diesem Ergebnis. Diese Quittung des Wählers muss er in Bonn präsentieren. Ich kann ihn nur ermutigen, es auch wirklich zu tun.

(Vereinzelter Beifall)

Dieses Ergebnis ist ein Signal gegen Bundeskanzler Kohl. Die Menschen sind mit der dilettantischen und unverantwortlichen Art und Weise, wie er die Dinge einfach treiben lässt, nicht einverstanden.

Ich appelliere an die Berliner CDU, aus diesem Wahlergebnis nicht die falschen Konsequenzen zu ziehen. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit und wertgleiche Lebensverhältnisse im Ostteil der Stadt wie im Westen sind der richtige Weg. Da ziehen wir mit dem Regierenden Bürgermeister auch weiterhin an einem Strang. Ich warne die CDU vor einer Wende in der Politik des innerstädtischen Wertausgleichs. Investitionen im Ostteil der Stadt müssen weiterhin eindeutig Vorrang vor Investitionen im Westen haben. Es ist einfach, mit nationalem Pathos die Herstellung gleicher Lebensverhältnisse zu fordern. Jetzt aber gilt es, den großen Worten auch konsequente Taten folgen zu lassen. Es darf bei der CDU keine Wende geben vom bisherigen Kurs der Integration hin zu einer Klientelpolitik für die Wähler im Westen ‑ das wäre nun wirklich der falsche Weg.

Aber ich sage euch ebenso deutlich: Schaut euch die Hochburgen der Rep‑Ergebnisse im Westen an und der Enthaltungen. Das sind auch die Gebiete der Kleinverdiener, aber auch der Facharbeiter und der kleinen Angestellten. Wir haben Gebiete in Moabit, Nord‑Neukölln und in Teilen Weddings, in die dringend investiert werden muss, in denen die Bausubstanz, das Wohnumfeld und die soziale Infrastruktur dringend verbessert werden müssen. Auch diesen vernachlässigten Bereichen im Westen muss mehr geholfen werden als dem durchschnittlich gutsituierten Gebiet des Westteils. Auch das ist Wertausgleich der Lebensverhältnisse!

(Beifall)

Das Ergebnis zeigt: Die Wahlen waren Wahlen der sozialen Sorge. Unzufriedenheit über die unsoziale Politik der inneren Einigung verschaffte sich Luft. Es war auch eine Wahl gegen Kohl, aber der hat die Lektion offensichtlich nicht verstanden. Die Ergebnisse des Parteitreffens von vorgestern haben nochmals gezeigt: Dieser Kanzler lebt offenbar in einer anderen Welt. So dickfällig kann doch keiner sein, um die Alarmsignale zu ignorieren, die aus allen Ecken kommen. Ich frage mich, wo ich lebe, wenn ich dieses Schauspiel betrachte: Da übernimmt die SPD als Opposition die Hausaufgaben der Regierung. Die SPD rechnet aus, was eigentlich Waigel ausrechnen müsste. Die SPD sagt, es kostet soundso viel. Dann sagen wir auch noch, wie und woher das Geld dafür genommen werden muss. Da waren auch unangenehme Wahrheiten, Belastungen ‑ für einzelne erhebliche ‑ dabei. Und dann kommt die Regierung und sagt schlicht: Wollen wir nicht, machen wir nicht. ‑ Was tut sie statt dessen: Nichts! Kohl lässtdie Dinge treiben. Das Staatsschiff steuert führungslos durch die schwersten Gewässer der letzten 50 Jahre. Damit muss endlich Schluss sein; in Bonn muss endlich eine andere Politik einkehren!

(Beifall)

Ehrlich währt am längsten, sagt das alte Sprichwort, und die Politik hat das zurzeit nötig wie nie ‑ ich weiß, wovon ich rede. Es ist das größte Kapital der SPD. Oskar Lafontaine und wir haben dafür ‑ unter anderem dafür ‑ sogar eine Wahl verloren. Dieses Kapital müssen wir jetzt einsetzen. Verlorengegangenes Vertrauen gewinnen wir nur zurück, wenn wir den Menschen klipp und klar sagen, welche Belastungen auf sie zukommen und wie wir sie zu verteilen gedenken. Die SPD hat mit ihrem 50‑Milliarden‑DM‑Paket ein Konzept vorgelegt, zu dem die Bundesregierung noch nicht einmal eine ernsthafte Alternative vorzulegen hat. Der Bundespräsident weist uns mit seinem Vorschlag zum Lastenausgleich auch den richtigen Weg zum sozialen Ausgleich. Das ist ein Vorschlag, den wir als Berliner SPD, so denke ich, unterstützen sollten.

In Berlin haben wir jetzt zwei Jahre vor uns, in denen die große Koalition Handlungsfähigkeit zeigen muss. Herr Diepgen hat in Bonn nichts mehr zu verlieren. Ich fordere ihn ausdrücklich auf: Beschließen Sie im Senat die Unterstützung des Weizsäcker‑Vorschlags, fahren wir damit gemeinsam nach Bonn, setzten wir ihn im Interesse der sozialen Gerechtigkeit in ganz Deutschland in Bonn endlich durch. Das ist ein vernünftiger Vorschlag.

(Vereinzelter Beifall)

Aber damit allein ist es nicht getan. Wir werden als Berlinerinnen und Berliner die nötige Unterstützung des Bundes nur bekommen, wenn Berlin seine Hausaufgaben auch macht. Die SPD fühlt sich in ihrer Verantwortung für die Stadt gestärkt, und wir stellen uns dieser Aufgabe. Was wir jetzt nicht gebrauchen können, sind Strategiedebatten oder Personaldiskussionen. Was jetzt ansteht, sind zwei Jahre härtester Knochenarbeit in der großen Koalition. Außerordentliche, auch schmerzhafte Anstrengungen und Einschnitte erwarten uns. Es hilft überhaupt nichts: Mit Verschweigen und Verniedlichen kommen wir nicht weiter. Kohl ist dafür das warnende Beispiel. Man muss den Bürgerinnen und Bürgern die Wahrheit sagen, dann sind sie auch bereit, schwierige Wege mitzugehen.

Die Finanzlage der Stadt hat sich keineswegs gebessert. Auch die kommenden Haushalte ‑ 1993 steht bevor ‑ werden Einsparungen in einer Größenordnung des letzten Haushalts mit sich bringen: 3 Milliarden DM. Alle Bereiche werden Federn lassen müssen, und es darf auch kein Tabu dabei geben. Ich sage es ganz deutlich: Wir haben in Berlin eine Reihe von Ausstattungsvorsprüngen ansammeln können. Wir werden sie überwiegend nicht behalten können. Wenn wir in Bonn irgendetwas erreichen wollen, müssen wir die eigenen Kräfte stärken. 3 Milliarden DM an Einsparungen für 1993: Ohne tiefe Einschnitte ist das nicht zu machen, auch nicht ohne tiefe Einschnitte beim Stellenplan. Da darf es nicht nach der bisherigen Methode des lobbyistischen Gruppenkampfes gehen. Alle gesellschaftlichen Gruppen müssen die Belastungen je nach ihrer Stärke mittragen.

Die Haushaltslage Berlins muss in Ordnung gebracht werden. Dazu muss auch der Bund sein Scherflein beitragen, aber es ist jetzt sichtbar: Der Rückgang der Berlinhilfe wird auch durch einen etwaigen Hauptstadtvertrag nicht ausgeglichen werden. Über den Hauptstadtvertrag und die Finanzausstattung eines Landes Berlin‑Brandenburg muss endlich konkret verhandelt werden.

Eines allerdings muss klar bleiben: In zwei Bereichen dürfen wir mit unseren Anstrengungen nicht nachlassen: im Wohnungsbau und bei den arbeitbeschaffenden Maßnahmen. Beide sind notwendig, beide sind unerlässlich ‑ genau das hat dieses Wahlergebnis noch einmal gezeigt.

(Vereinzelter Beifall)

Neben der Konsolidierung des Haushalts hat die große Koalition eine zweite große Aufgabe: Die dringend nötige Verwaltungsreform muss angepackt werden. Auch dabei darf es keine Tabus geben: Effizienz und bürgernahe Dienstleistung sind das Ziel, Abbau von Doppelarbeit und Verwaltungseinheiten von effizienter Größe sind die Mittel. Mit den Vorschlägen der Kommission unter Leitung von Klaus‑Uwe Benneter haben wir einen ersten Schritt getan. Das muss jetzt bis zum Herbst in der Partei diskutiert werden. Das kann auch hier und heute nicht überfallartig beschlossen werden, denn dazu ist das doch ein bisschen zu gravierend. Aber welche Bezirke zusammengelegt werden, welche Senatsverwaltungen sinnvollerweise zusammenzufassen sind, welche Dienstleistungen unbedingt von der öffentlichen Hand erfüllt werden müssen und welche nicht, welche Aufgaben voll an die Bezirke abgegeben werden müssen, dazu müssen wir als Partei in den nächsten Monaten einen Standpunkt auf diesem Landesparteitag finden, damit wir in der Vorhand bei diesen Dingen sind.

(Vereinzelter Beifall)

Wenn diese großen Projekte ‑ Haushaltssanierung und Verwaltungsreform ‑ in den nächsten beiden Jahren nicht klappen, dann werden auch wir Sozialdemokraten vom Wähler die Quittung bekommen. Niemand soll glauben, die große Koalition schütze den kleineren Partner automatisch vor Wählerverlusten. Wir sind zum Erfolg verurteilt, aber wir haben alle Chancen in der Hand, es auch zu schaffen. Mit klaren Entscheidungen, sozialer Verantwortlichkeit und vernünftigem Management ist die Aufgabe zu lösen. Über diese vor uns liegenden Aufgaben werden wir auch im Koalitionsausschuss mit der CDU reden müssen.

Ost und West müssen friedlich zusammenwachsen. Dazu gehört nicht nur der Abbau sozialer Spannungen, sondern auch eine angemessene Aufarbeitung der Stasi‑Vergangenheit. Die unsäglichen Entgleisungen des Herrn Wruck aus der vergangenen Woche, der Manfred Stolpe mit „Stasi‑raus“‑Rufen verunglimpft hat, zeigt, wie es nicht gehen kann. Da steht dumpfe Denunziation gegen differenzierte Aufarbeitung. So kann nur jemand reagieren, der die Existenz von Blockflöten in der eigenen Partei verdrängt. So wird die DDR‑Vergangenheit zum Knüppel in der gegenwärtigen politischen Auseinandersetzung gemacht. Dieses Verhalten widert mich an. Herr Wruck und die CDU sollten die Konsequenzen ziehen.

(Starker Beifall)

Ihr habt den heutigen Zeitungen entnommen, dass aus der DDR‑Vergangenheit auch Marlitt Köhnke, unsere Bezirksbürgermeisterin in Hellersdorf, belastet ist. Die vom Landesausschuss im Januar beschlossenen Richtlinien zum Umgang mit der Stasi‑Vergangenheit wurden früher auf einen Prüfstand gestellt, als wir es uns gewünscht und auch erwartet haben. Für Marlitt Köhnke war Martin Gutzeit als Vorsitzender des vom Landesausschuss eingesetzten Rates die richtige Adresse, um in ihrer Not einen Ausweg zu finden. Sie hat sich im Februar an ihn gewandt. Daraufhin ist im Kreisvorstand Hellersdorf die Auskunftseinholung beschlossen worden, die leider in der dortigen BVV nicht auf den Weg gekommen war. Nach der Auskunft der Gauck‑Behörde und nach Akteneinsicht in der letzten Woche hat die Kreisvollversammlung der SPD Hellersdorf nach viereinhalbstündiger Diskussion Marlitt Köhnke das Vertrauen als Spitzenkandidatin ausgesprochen. Ich habe die Kreisvollversammlung am vergangenen Dienstag mit großem Respekt verfolgt. Ich habe selten eine Diskussion innerhalb der Berliner SPD erlebt, die bei aller Emotionalität, die da war ‑ auch von einem Genossen, der anderthalb Jahre lang im DDR‑Knast eingesessen hatte ‑, doch so von gegenseitigem Verständnis und Verantwortungsbewusstsein geprägt gewesen ist, wie diese Diskussion. Trotz emotionaler Betroffenheit wurde auf einem ebenso hohen wie demokratischen Niveau abgewogen und eine Entscheidung gefällt. Ich habe Respekt vor dieser Entscheidung der Basis in Hellersdorf.

In diesem Zusammenhang möchte ich die Unterstellung zurückweisen, die SPD habe die Wähler getäuscht. Es wäre auch mir lieber gewesen, wir hätten diesen Fall vor den Wahlen geklärt und öffentlich gemacht. Aber ich bitte dringend, nicht die Maßstäbe des Rechtsstaates dabei zu verlieren. Erst wenn alle Umstände geklärt sind ‑ und das ist das gute Recht der Betroffenen ‑, hat die Öffentlichkeit ein Anrecht auf Information über den vollständigen Sachverhalt. Dann muss allerdings auch öffentlich gemacht werden, wie wir das gemacht haben. Halten wir uns nicht daran, schädigt das die Betroffenen. Diese bittere Erfahrung haben einige machen müssen. Ich erinnere daran, dass mindestens in einem anderen Fall die Akteneinsicht bei der Gauck‑Behörde eine „Differenzierung des Ergebnisses“, wie es im Gauck‑Bescheid stand, ergeben hat.

Im übrigen hat Marlitt Köhnke bereits im Februar das Verfahren auf ihre Initiative eingeleitet ‑ vier Monate vor der Wahl. Es ist schon ziemlich böswillig, nun zu unterstellen, man habe damals darauf spekuliert, den Wahltag vorübergehen zu lassen.

Im übrigen ist der Bürgermeister noch nicht gewählt, und es war nicht die Person der Spitzenkandidatin allein, die am vergangenen Sonntag zur Wahl stand, sondern die SPD als Partei.

Liebe Genossinnen und Genossen! Das Wahlergebnis gibt uns als Partei eine Menge Aufgaben auf. Der schleichende Mitgliederschwund aller Parteien verlangt auch von uns nach einer besseren Form und nach neuer Offenheit unserer Partei. Wir müssen zu neuen Formen der Politik finden. Wenn immer mehr Menschen sagen, die da oben bestimmen ja doch alles, dann sage ich: Das ist eine Klage nach zu wenig Demokratie. Und gegen zuwenig Demokratie hilft nur mehr Demokratie. Der alte Wahlslogan von Willy Brandt ist aktueller denn je. Wenn die Menschen sich nicht beteiligt fühlen, dann muss man sie selbst mehr in die Verantwortung nehmen. Das passiert jetzt mit der brandenburgischen Landesverfassung, die vom Volk abgestimmt wird. Man kann das aber auch auf andere Fragen ausweiten: Warum sollen die Menschen nicht selbst abstimmen dürfen über die Abschaffung des § 218, über die Einführung der Pflegeversicherung?

(Beifall)

Oder auch über stadtpolitische Fragen wie Olympia. Da wäre mir überhaupt nicht bange, dass es dafür klare und eindeutige Mehrheiten in dieser Stadt gibt, wenn das dargelegt wird und man die Menschen in die Verantwortung nimmt. Das würde die Bürgerinnen und Bürger mit in die Verantwortung nehmen, den Verdruss über manche lange Politikerdiskussion beseitigen und die öffentliche Debatte manchmal nicht nur beleben, sondern vielleicht sogar abkürzen. Ich bin sicher, dass wir in diesen Feldern erheblich mehr Mut haben müssen als bisher. Unsere Demokratie muss unmittelbare Mitwirkung der Bürger ermöglichen ‑ nicht nur bei Wahlen und bei Abstimmungen, sondern sonst auch. Wir als Partei haben mit den Abstimmungen nach Berliner Muster in den Bezirken doch die allerbesten Erfahrungen gemacht.

Nur, das betrifft auch die Reform unserer Parteiarbeit. Der gute alte Tanker SPD, oder die gute alte Tante SPD, muss aufgemöbelt werden. SPD 2000 ist ein geflügeltes Wort, nur müssen jetzt auch endlich Taten folgen und Konsequenzen für unsere eigene Organisation.

(Beifall)

Wir sollten unsere althergebrachte und ehrwürdige Abteilungsstruktur reformieren. Ich finde, eine Abteilung pro Wahlkreis reicht doch völlig aus und ist rationaler.

(Vereinzelter Beifall)

Wir müssen uns öffnen für Menschen, die nicht sofort Mitglied der SPD werden wollen. Ihnen müssen mehr Beteiligungs‑ und auch Mitwirkungsmöglichkeiten eingeräumt werden.

(Vereinzelter Beifall)

In Zeiten, wo viele Genossinnen und Genossen, viele Freundinnen und Freunde Parteiversammlungen kaum noch besuchen, aber zur Mitarbeit beim Stadtteilfest bereit sind, müssen wir andere Formen der Parteiarbeit für unsere Mitglieder, aber auch für die Bürgerinnen und Bürger finden. Deshalb müssen sich auch unsere Dienstleistungsangebote an die Mitglieder ändern. Im Zeichen der Freizeitgesellschaft wirken manche unserer Unternehmungen einfach langweilig. Aber die Motivation, Politik zu machen, ist da und muss in Konkurrenz zu dem übrigen vielfältigen Freizeitangebot erreicht werden. Innerhalb unserer Partei darf es nicht mehr verwerflich sein, wenn sich jemand nur ein halbes Jahr um ein Thema intensiv kümmert und dann ein halbes Jahr gar nicht mehr aktiv ist. Ich sage: Solange er den satzungsgemäßen Beitrag zahlt, solange muss man auch das als Partei ertragen können. Alle, die am Stand stehen, sonst aktiv sind und die Abende opfern, sind mir natürlich lieber, aber man darf nicht herablassend sein, wenn einer sich anders verhält. Seine politischen Mitwirkungsrechte dürfen darunter nicht leiden. Der Landesvorstand wird euch dazu konkrete Vorschläge unterbreiten, wie die Partei reformiert werden und welche Veränderungen es geben soll. Aber, bitte, diskutiert die Parteireform schon jetzt während der Parteiwahlen. Vorschläge und Anregungen von eurer Seite sind dazu immer willkommen, wir werden daraus eine Konzeption machen ‑ die soll allerdings im Zusammenhang mit dieser Parteiwahlkampagne, so meine ich auch, nicht auf die lange Bank geschoben, sondern dann auch wirklich beschlossen werden.

(Vereinzelter Beifall)

Die SPD hat ein großes Feld offen, das es zu beackern gilt. Das gilt erst recht im Hinblick auf das innerparteiliche Zusammenwachsen von Ost und West. Das Wahlergebnis sollten wir als Ausgangslage nutzen. Wenn wir wieder die Berlin‑Partei werden wollen, die wir einmal waren, dann müssen wir uns selbst und den Berlinerinnen und Berlinern auch unbequeme Wahrheiten sagen, dann müssen wir zum entschlossenen Handeln ‑ auch in einer großen Koalition ‑ in der Lage sein, und dann müssen wir uns für die sozialen Interessen der Arbeitnehmer, der Mieterinnen und Mieter und der Deutschen in den neuen Bundesländern einsetzen. ‑ Das ist der Auftrag des Wahlergebnisses, und dem sollten wir uns stellen. ‑ Frischauf! ‑ Danke!

(Beifall)

Präs. Siegrun   K l e m m e r   : Bevor Thomas Härtel das Wort bekommt, zwei Mitteilungen für die Kommissionen: Die Mandatsprüfungskommission trifft sich jetzt sofort oben, hinter der blauen Wand, und die Antragskommission trifft sich nach der Rede von Thomas Härtel ‑ und damit hat er jetzt das Wort.

Thomas   H ä r t e l   : Liebe Genossinnen und Genossen! Als mich Walter Momper vor knapp einem Jahr fragte, ob ich bereit wäre, den Bezirkswahlkampf auf der Landesebene zu koordinieren und in Abstimmung mit den Bezirken zu leiten, habe ich nach kurzer Überlegung aus vier Gründen zugesagt. Ich war ‑ ich betone, ich war, ich komme darauf zurück ‑ ein Anhänger von der Trennung der Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus und zu den Bezirksverordnetenversammlungen. Ich glaubte, dass durch diese Wahlen kommunalpolitische Arbeit stärker in das Blickfeld der Öffentlichkeit gerückt werden kann, bietet doch gerade die Kommunalpolitik die Chance, in direktem Kontakt zu unseren Bürgerinnen und Bürgern ihre Alltagssorgen aufzunehmen und sie in politische Entscheidungsprozesse mit einzubeziehen.

Der zweite Grund war die dem zuvor Gesagten nicht widersprechende Erkenntnis, dass eine überbezirkliche, inhaltliche Verknüpfung der unterschiedlichen Wahlkampfschwerpunkte in den 23 Bezirken unbedingt gefunden werden musste. Es war klar, dass allein bezirkliche Themen nicht zu einer Mobilisierung der Wählerinnen und Wähler führen würde, zumal die Öffentlichkeit sehr wohl weiß, dass die Entscheidungskompetenzen der Bezirke beschränkt sind. Wir haben die richtigen Themen gewählt und gefunden, daran gibt es nichts zu deuteln, aber dennoch ‑ und darauf komme ich auch zurück ‑ gibt es Ursachen, weshalb wir in dieser Wahl nicht so erfolgreich abgeschnitten haben.

Der dritte Grund war der Reiz und die Herausforderung, einen Wahlkampf von der Landesebene her zu führen, der die Ost‑ und West‑Berliner Bezirke auch in den Köpfen unserer Parteimitglieder zusammenbringt.

Mit mir wurden dann noch Monika Höppner als Bezirksbürgermeisterin von Köpenick und Detlef Dzembritzki als Bezirksbürgermeister von Reinickendorf in den politischen Wahlkampfstab berufen. Wir haben gut zusammengearbeitet. Vor allen Dingen hat mich die Art, wie wir zusammengearbeitet haben, sehr beflügelt und macht mir auch Hoffnung für die weitere Zusammenarbeit. Auch ich möchte beiden an dieser Stelle sehr herzlich danken.

(Beifall)

Schließlich gab es einen weiteren Grund, sich dieser Aufgabe nicht zu entziehen. Als Abteilungsvorsitzender, als Mitglied des Kreisvorstands in Steglitz und als Kommunalpolitiker habe ich von den Kreisen und Ortsvereinen in den vergangenen Wahlkämpfen und in den Kampagnen, die der Landesverband durchgeführt hat, eben an diesen Kritik erfahren und erleben können, und auch ich selbst habe diese Kritik geübt. Sehr schnell werden Vorschläge und Aktionen des Landesverbandes zerredet, eigene Ideen und Vorstellungen ‑ das muss hier auch einmal gesagt werden ‑ aber nur äußerst selten eingebracht.

Als Wahlkampfleiter wurde ich nun einer derjenigen, die mit in der Müllerstraße sitzen. Auch wenn nicht täglich ‑ schließlich habe ich meine Aufgabe nebenamtlich geführt und hatte weiterhin voll meinen Job als Volksbildungsstadtrat in Steglitz auszufüllen ‑, so habe ich doch sehr oft in der Müllerstraße erfahren müssen, wie schwer es ist, Abstimmungen mit den Kreisen herbeizuführen. Wahlkampfrundschreiben werden offensichtlich nicht immer mit der notwendigen Aufmerksamkeit gelesen. Einladungen zu Abstimmungen mit den Wahlkampfbeauftragten der Bezirke folgt man nur spärlich. Obwohl nach jeder Wahl von den Mitgliedern und vor allem von den Funktionären in den Kreisen neue Ideen, neue Formen der Öffentlichkeitsarbeit gefordert werden, wurden Vorschläge des Wahlkampfstabs, die von traditionellen Veranstaltungsformen abwichen, fast immer zunächst mit Stirnrunzeln und oft mit Widerspruch zur Kenntnis genommen. Die von uns durchgeführte Telefonaktion stieß anfangs auf heftige Ablehnung. In einigen Kreisvorständen wurde sogar beschlossen, nicht daran teilzunehmen. Die Erfahrungen haben dann aber gezeigt, dass wir damit richtig lagen. Die Telefonaktion hat denn auch vielen, die daran teilgenommen haben, Spaß gemacht.

(Vereinzelter Beifall)

Das vermittelt auch in eure Kreise, weil es wichtig ist, auch Positives rüberzubringen.

Die Erfahrungen haben auch gezeigt, dass der „Sonderzug nach Pankow“ ‑ ebenso von vielen belächelt ‑ ein Erfolg war. Mit „Kultur in vollen Zügen“ wollten wir eine völlig neue Veranstaltungsform für die Öffentlichkeitsarbeit umsetzen. Aus den Kreisen wurde uns heftiger Widerstand entgegengebracht. Wir haben diese Veranstaltung durchgeführt. Auch wenn sie organisatorische Mängel aufwies und sich leider viele Kreise nicht an die Absprachen hielten, war diese Veranstaltungsform ein richtiges Experiment ‑ was immer wieder gefordert wird ‑, um Sympathie in der Öffentlichkeit zu wecken. Nach einer gründlichen Auswertung durch die Mitglieder des Wahlkampfstabes werden wir solche und ähnliche Veranstaltungen ‑ und wir müssen das auch tun ‑ auch außerhalb von Wahlkämpfen durchführen müssen.

Traditionelle Veranstaltungsformen in der heißen Wahlkampfphase, wie Einladung zu einer politischen Gesprächsrunde, dann Referat des Spitzenkandidaten und Aussprache, sind solche, die uns nicht eine Stimme bringen. Das Gespräch mit den Bürgerinnen und Bürgern ist vor allem außerhalb von Wahlkämpfen zu führen, nur dann sind diese Gespräche überzeugend ‑ weniger in Wahlkämpfen.

(Beifall)

Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Müllerstraße haben viele eigene Ideen eingebracht. Reiner Ploch wurde schon gedankt. Auch ich möchte ihm, der so ideenreich war, gleichzeitig immer hart gerechnet und den Wahlkampf technisch so hervorragend geführt hat, an dieser Stelle sehr herzlich danken. Reiner, vielen Dank, und ich hoffe, dass wir auch weiterhin, auf anderen Ebenen und auch vielleicht dort, zusammenarbeiten können.

(Beifall)

Ich will auch herzlichen Dank sagen vor allen Dingen den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die von mir aus gesehen auf der linken Seite sitzen, den vielen Sekretärinnen und Sekretären der Müllerstraße und den Referentinnen und Referenten. Wenn man einmal so etwas erfahren hat, wie schwer eine Abstimmung mit 23 Kreisen ist, dann gilt mein Lob allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Müllerstraße. Wir sollten da nicht immer nur schimpfen, sondern auch einmal anerkennend zur Kenntnis nehmen, dass sie hier wirklich Außergewöhnliches leisten.

(Beifall)

Erlaubt mir einige Anmerkungen und Bewertungen zum Ergebnis der Kommunalwahlen. Laut Infas wollten 22 % der Wählerinnen und Wähler im Ostteil der Stadt und 16 % in West‑Berlin bezogen auf Probleme im unmittelbaren Umfeld ihre Wahlentscheidung treffen. 50 % der Wählerinnen und Wähler wollten ihre Stimme unter landes‑ bzw. sogar bundespolitischen Gesichtspunkten abgeben.

Die Wahlen ‑ das wurde schon angedeutet ‑ waren keine Kommunalwahlen, sie konnten es auch eigentlich nicht sein. Die Zweistufigkeit der Berliner Verwaltung, die mangelnde Eigenverantwortung der Bezirke machen deutlich, wie verwoben die Zuständigkeiten und Verantwortungen sind. Oft haben wir auf bezirklicher Ebene einen Wahlkampf gegen den Senat geführt ‑ wir sind selbst daran beteiligt. Diese Art der Auseinandersetzung hat wenig zur Glaubwürdigkeit unserer Politik beigetragen.

(Vereinzelter Beifall)

Man kann eben nicht, wie der Kabarettist Dieter Hildebrandt es in einem Sketch so treffend ausgeführt hat, mit der Faust auf den Tisch hauen, wenn man überall seine Finger drin hat.

(Vereinzelter Beifall)

Das ist keine Absage an die große Koalition. In der schwierigen Phase, in der sich unsere Stadt befindet, müssen weitreichende Entscheidungen getroffen und von bestimmten Bevölkerungsgruppen Opfer abverlangt werden, die nur von tragfähigen politischen Mehrheiten durchzuhalten sind. Viel wichtiger erscheint mir in diesem Zusammenhang, dass die Verantwortlichkeiten zwischen Bezirken und Landesebene klarer geregelt werden müssen. Unsere Bürgerinnen und Bürger wollen Klarheiten, kein Verwirrspiel, das wir als Politiker sehr häufig und offensichtlich gern betreiben. Die Bezirke brauchen eine starke Eigenverantwortung und Selbständigkeit, dann haben Kommunalwahlen auch einen Sinn. Wir sollten aber auf keinen Fall diese Art von Kommunalwahlen unter den jetzigen Voraussetzungen, wenn sich also nichts ändert, wiederholen. Diese Wahlen bringen nicht viel ‑ nicht viel für die Partei und auch nichts für den Bürger und die Bürgerinnen unserer Stadt.

(Vereinzelter Beifall)

Die Bezirks‑ und Verwaltungsreform muss jetzt schnell in Angriff genommen werden; sie ist auch im Hinblick auf die Vereinigung von Brandenburg und Berlin notwendig. Halbherzige Schritte mit Blick und Rücksicht auf liebgewordene politische Mandate bringen uns auf keinen Fall nach vorne. Eine Zusammenlegung von Bezirken und auch eine Reduzierung der Anzahl von Bezirksstadträten und ‑rätinnen dürfen für uns kein Tabu sein. Einhergehen muss dabei vor allem aber eine Dezentralisierung der Verantwortung und eine Verwaltungsreform, die zu mehr Bürgernähe führt.

(Vereinzelter Beifall)

Im Vergleich zu den Wahlen 1989 haben wir in den West‑Berliner Bezirken drastisch verloren. Da ist überhaupt nichts wegzureden. Ebenso haben wir Verluste in Ost‑Berlin im Vergleich zu 1990. Doch der Vergleich hinkt! Dazwischen hat sich nicht nur unsere Stadt, unser Land, sondern auch unsere Welt verändert. Daher ist auch ein Vergleich zu den Wahlen 1990 gerechtfertigt und notwendig. Die für uns alle überraschende, nicht erwartete Abwärtsentwicklung unserer Partei bei den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus und zum Deutschen Bundestag im Dezember 1990 hat sich nicht fortgesetzt. In 11 Bezirken haben wir wieder zugelegt, und in beiden Teilen der Stadt 31,8 % der Stimmen auf uns vereinigen können. Damit haben wir zumindest eine bessere Ausgangsbasis für die nächsten Wahlen geschaffen. Diese kleine, aber nicht unbedeutende Chance sollten wir gemeinsam nutzen.

Doch das Ergebnis ist keineswegs ein Grund zur Zufriedenheit. In den Bezirken haben sich dramatische Veränderungen vollzogen: Der Einzug der Republikaner in mindestens vier Rathäuser ist mehr als ein Alarmzeichen. Ein Vergleich zu noch größeren Erfolgen im sogenannten Wohlstandsgürtel um Stuttgart ist zwar zulässig, spielt die Problematik meines Erachtens aber fahrlässig herunter.

(Beifall)

Die Reps haben sich mit Abstand zur größten und erfolgreichsten Partei am rechten Rand entwickelt. Noch haben sie im Ostteil unserer Stadt weniger Wählerinnen und Wähler mobilisieren können. Dort haben Protestwähler eher der PDS ihre Stimme gegeben. Das kann jedoch schnell anders werden.

Interessant ist, dass offensichtlich der größte Teil der Rep‑Wähler weniger diejenigen sind, die von der gegenwärtigen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung unmittelbar Betroffene sind als die, die sich von den Veränderungsprozessen auch infolge der deutschen Einigung bedroht fühlen. Es sind die wirtschaftlichen und sozialen Zukunftsängste und das Misstrauen denen da oben gegenüber, die mehr und mehr Menschen in die Arme der Republikaner treiben.

Noch ein Aspekt muss uns aufhorchen lassen: sie mobilisieren überdurchschnittlich Erstwähler. Und nicht nur das: 26 % der Kandidaten bei den Republikanern gehören zur Altersgruppe der 18‑ bis 29jährigen. 26 %! Bei uns sind es nur 12 %. Wenn hieraus nicht endlich in allen unseren Parteigliederungen Konsequenzen gezogen werden, wenn wir nicht endlich neue Formen des Zugangs gerade für junge Menschen finden, haben wir auch unsere Zukunft verbaut.

(Beifall)

Ebenso ernst zu nehmen ist der von vielen nicht erwartete hohe Anteil der PDS im Ostteil unserer Stadt. Auch hier müssen wir entschieden gegensteuern. Wir müssen unsere Partei gegenüber denjenigen öffnen, die bereit sind, sich von den alten Seilschaften zu trennen. Ihnen müssen wir Wege ebnen, nicht mit langen Verhören bei Aufnahmegesprächen neue Mauern bauen. Offene Mitwirkungsangebote, die auch die Aufarbeitung vergangener Entscheidungen möglich machen, die ihnen neue Orientierung bieten, sind von uns zu entwickeln.

Der Aufbau unserer Parteiorganisation im Ostteil der Stadt könnte eine Chance für innovative Ansätze neuer innerparteilicher Mitwirkungsstrukturen und wegweisender Öffentlichkeitsarbeit werden. Eine Chance, die bislang leider nicht genutzt wurde. Hier liegt meines Erachtens ein wichtiges Aufgabenfeld des Landesvorstands, das er umgehend mit allen Kräften anzupacken hat. Hier ist in der Vergangenheit, in den letzten zwei Jahren, auch einiges versäumt worden. Schulungs‑ und Bildungsangebote, zum Beispiel wie die zur Vorbereitung der Telefonaktion, die konkreten Hilfen nebenbei vielleicht auch für den persönlichen Bereich, bieten auch positive Erfahrungen, sind kleine, aber wichtige Schritte.

Wenn ich die eher zurückhaltende Kritik als Erfahrung aus dem Wahlkampfstab unseren Mitgliedern des Landesvorstands mit auf den Weg geben möchte, dann darf man in diesem Zusammenhang hier heute auf keinen Fall die Fraktion und ihre Abgeordneten unerwähnt lassen, sonst würden gleich innerparteiliche Streitgefühle geweckt. Die Zusammenarbeit mit der Fraktion ‑ besser: mit den einzelnen Abgeordneten ‑ hätte im kommunalen Wahlkampf durchaus besser sein können. Erst in den letzten Phasen wurden die Abstimmungen häufiger. Aber eine Kritik sei aus grundsätzlicher Erwägung an dieser Stelle angebracht: Mitten im Wahlkampf wollten unsere Abgeordneten Entscheidungsfreudigkeit zeigen. Das ist vom Grundsatz her gut so. Zur Öffnung des Brandenburger Tores kann man stehen, wie man will ‑ ich halte sie für falsch.

(Beifall)

Dass aber ohne vorherige Abstimmung oder zumindest Vorabmitteilung über die Köpfe der betroffenen Bezirke entschieden wird, schadet auch dem Ansehen unserer Genossinnen und Genossen, die vor Ort redlich bemüht sind, nicht nur Wählerinnen und Wähler für unsere Partei zu werben, sondern auch deutlich machen wollen, dass es sich lohnt, in unserer Partei zu arbeiten. So etwas darf sich nicht wiederholen!

(Beifall)

Das Gerede über die Parteiverdrossenheit ‑ eine Zustandsbeschreibung, die die Chance hat, Wort des Jahres zu werden ‑ kommt nicht aus heiterem Himmel über uns. Der Unwille gegenüber den großen Parteien ist ein langsamer, aber stetiger Prozess, zwischendurch immer wieder durch Skandale verstärkt, die wir alle auch zum Teil mitzuverantworten haben. Interessant für mich ist, dass dagegen das demokratische System, einschließlich das der Parteien, nach wie vor unverändert große Zustimmung findet ‑ wenigstens ein Lichtblick. Viele Wählerinnen und Wähler fühlen sich von den etablierten Parteien im Stich gelassen. Enttäuscht ist man eher weniger von unserem demokratischen System als mehr von einem Teil der politischen Akteure und der Art und Weise, wie sie, ja, wie wir Politik gestalten.

(Vereinzelter Beifall)

Wir sind zurzeit unfähig, hieraus die richtigen Konsequenzen zu ziehen. Noch am Wahlabend trifft man sich in den berühmten Hinterzimmern der Politik, betreibt Schuldzuweisungen ‑ in der Regel immer an die da oben gerichtet ‑, ohne zu merken, dass man gerade im kommunalen Wahlkampf, gerade auch in den einzelnen Bezirken, hierfür mit die Verantwortung trägt. Wenige Tage nach den Wahlen vermitteln wir wieder den Eindruck, dass es bei der Bezirksamtsbildung ausschließlich um Posten geht. Lange Diskussionen über Zählverfahren, die kein Mensch versteht, Diskussionen über Abstimmungsverhalten hier, über Abstimmungsverhalten dort. Mögliche Zählgemeinschaft bei der Wahl des Bezirksbürgermeisters aber unterschiedlichen Mehrheiten in den Bezirksverordnetenversammlungen und im Bezirksamt führen letztendlich zu einer Politik, die die Glaubwürdigkeit unserer politischen Akteure bei den Bürgerinnen und Bürgern nicht fördern wird.

(Vereinzelter Beifall)

Noch eines: Wir brauchen schnell ‑ Walter hat es gesagt ‑ eine handlungsfähige Berliner Verwaltung. Nur so können wir die Ängstlichen und Enttäuschten wieder mit auf den Weg nehmen. Wir müssen in dieser Wahlperiode die Bezirks‑ und Verwaltungsreform zustande bringen, die die sinnlose Doppelarbeit auf Bezirks- ­und Senatsebene und auch die enormen Verwaltungskosten abbaut. Wir müssen in erster Linie dabei eine Verwaltung schaffen, die in der Lage ist, die Sorgen unserer Bürgerinnen und Bürger unbürokratisch und möglichst wohnortnah bei ihrem Handeln mit einzubeziehen. Das Gerangel um die Posten, das sich jetzt abspielt, schadet diesem Anliegen. Das sollte uns in den nächsten Tagen und Wochen bewusst sein.

(Beifall)

Die Vorschläge hierfür liegen auf dem Tisch. Es ist aus meiner Sicht weise, heute keine Abstimmung darüber herbeizuführen, sondern endlich einen Diskussionsprozess auf allen Ebenen unserer Partei zu entfalten und hierzu einen gesonderten Parteitag durchzuführen.

Eine abschließende Bemerkung: Nutzen wir die bevorstehenden innerparteilichen Wahlen auch, um klare Entscheidungen für eine überzeugende Führungsstruktur unserer Partei herbeizuführen. Gehen wir dann mit aller Kraft an den Aufbau unserer Parteiorganisation im Ostteil unserer Stadt. Lasst uns attraktive Regionalbüros gestalten. In diesem Zusammenhang erlaubt mir einen Hinweis ‑ das ist keine Kritik an den jetzigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, aber es wäre eine Diskussion wert, ob wir nicht künftig wieder die Geschäftsführer bei den jeweils anstehenden innerparteilichen Wahlen wählen sollten.

(Vereinzelter Beifall)

Ein bisschen mehr Bewegung auch im hauptamtlichen Bereich unserer Partei täte unserer Organisation sehr gut. Ich jedenfalls werde entsprechende Anträge mit unterstützen und einbringen.

Wir sollten aber auch schnell eine Abstimmung über unseren künftigen Spitzenkandidaten oder über unsere Spitzenkandidatin herbeiführen, um nicht die einzige Chance zu verbauen, die uns die Wahl am 24. Mai gegeben hat. In beiden Teilen der Stadt haben wir 31,8 % der Stimmen auf uns vereinigen können. Im Vergleich zu den anderen Parteien sind wir damit die Partei der Einheit. Wir können gerade im Hinblick auf den notwendigen Aufbau unserer Parteiorganisation in Ost‑Berlin eine moderne Großstadtpartei werden, in der ganzen Stadt eine moderne Großstadtpartei werden. Wir haben, so hat es Wolfgang Nagel neulich im Landesvorstand ausgeführt, damit auch die Chance, wieder zur Berlin‑Partei zu werden. Es wäre ein gutes, ein wichtiges Signal aus der Hauptstadt für das Zusammenwachsen unseres Landes. Die SPD, so wie es hier steht, ist die soziale Kraft für ganz Berlin. Darauf sollten wir uns vorbereiten, uns konzentrieren auf die nächsten Wahlen, die nicht weit vor uns liegen. ‑ Vielen Dank für eure Aufmerksamkeit!

(Beifall)

Präs. Siegrun   K l e m m e r   : Jetzt hat Norbert Meisner das Wort, um euch etwas zu einem Spendenaufruf zu sagen.

Dann weisen wir darauf hin, dass jetzt keine Initiativanträge mehr angenommen werden.

Dann möchte ich etwas zu den Rednerinnen und Rednern sagen, die sich als erste hier bei uns auf der Redeliste befinden. Wir geben damit eine Bitte von Wolfgang Thierse weiter, der erst um 17.30 Uhr hier sein kann, weil er einen wichtigen, langfristig vereinbarten Termin in Potsdam wahrnehmen muss. Wolfgang Thierse hat heute mit einigen Verantwortlichen aus dem Ostteil der Stadt verabredet, dass er zu dem hier schon angesprochen Problem Marlitt Köhnke gern Grundsätzliches und, wenn es geht, als erster sagen möchte. Daraus resultiert die Bitte, die wir gern weitergeben, dass die Rednerinnen und Redner, die jetzt als erste das Wort ergreifen werden, nach Möglichkeit dieses Thema zunächst einmal aussparen oder sich dann noch einmal melden, so dass wir zuerst zu den allgemeinen Ergebnissen und Interpretationen der Kommunalwahl kommen. Wenn es euch irgend möglich ist, dann bitten wir euch, diesem Wunsch nachzukommen.

(Vereinzelter Beifall)

Norbert   M e i s n e r   (Friedrichshain): Liebe Genossinnen und Genossen! Ich danke für die Gelegenheit, einen Spendenaufruf hier vertreten zu können. Ihr wisst, dass in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion, in Russland die Heilungsquote von Leukämie, vor allen bei Leukämie von Kindern, besonders gering ist. Während bei uns eine Heilungsquote von 75 % bis 80 % besteht, beträgt sie dort 5 % bis 10 %.

Es hat nun in den letzten Jahren immer mehr die Möglichkeit bestanden, Kinder aus Russland zu uns zu bringen und bei uns zu behandeln. Diese Behandlung ist aus vielen Gründen erstens sehr viel teurer und sehr viel schwieriger, weil natürlich die Betreuung durch die Eltern ermöglicht werden muss, weil die Eltern hier auch untergebracht werden müssen, weil die Methoden eben bei uns da sind und dadurch kein Vertrauen in die russische Medizin geschaffen wird.

Aus der Mitte des Vereins, dem eine Reihe von Genossinnen und Genossen und auch ich angehöre, dem Verein Kontakte e. V., einem Verein für Kontakte zu den Ländern der ehemaligen Sowjetunion, gibt es die Initiative, Behandlungsmöglichkeiten für die Kinder in ihrer Heimat, also in Russland, zu finden. Auch dort kosten die Medikamente, die für einen Heilungsfall verwandt werden, immer noch ungefähr 5 000 DM. Das ist aber nur ein Bruchteil dessen, was eine Behandlung im Westen augenblicklich kostet, nämlich 250 000 DM.

Ich bitte euch, für diese Heilungsmöglichkeit in Russland, die in Gemeinschaft zum FU Klinikum in Moskau geschaffen wird, zu spenden. Ich möchte euch gleichzeitig darauf hinweisen, dass in diesem Zusammenhang eine SPD‑Delegation nach Moskau fährt ‑ vom 9. bis zum 13. Juni ‑ und es noch drei freie Plätze gibt. Diejenigen, die Interesse an dieser Reise haben, bitte ich, sich beim Genossen Jungmann aus Pankow danach zu erkundigen. Ich bitte euch ‑ es werden einige Mitglieder durch eure Reihen gehen ‑, euer Scherflein dazu beizutragen, dass diese Heilungsmöglichkeit gegeben wird. ‑ Vielen Dank!

(Beifall)

Präs. Siegrun   K l e m m e r   : Vielen Dank, Norbert! ‑ Wir kommen zu

Punkt 3 der Tagesordnung

Aussprache

Als erster hat Gerd Schilling aus Weißensee das Wort ‑ bitte!

Gerd   S c h i l l i n g   (Weißensee): Liebe Genossinnen und Genossen, nur einige wenige Erfahrungen aus meiner zweijährigen Amtszeit als Bezirksbürgermeister in Weißensee und auch aus dem letzten Wahlkampf. Erstens: Die Berliner brauchen die SPD; sie brauchen die SPD als Partner des Vertrauens. Ich kann das deshalb sagen, weil immer wieder nach der SPD gefragt wurde.

Zweitens: Die Berliner brauchen jemanden, der zuhören kann ‑ vor allem dann, wenn es um Sorgen geht. Das kann, meine ich, nur die SPD sein.

Drittens: Die Berliner brauchen eine SPD, die sich um den Erhalt von Arbeitsplätzen kümmert, um neue Wohnungen, um neue Verkehrsanbindungen, um neue Geschäfte im Osten. Es macht Angst, wenn die Ausgaben zum Beispiel für den Zahnarzt, die Wäscherei, den Schuhmacher um das Doppelte steigen, aber gleichzeitig kein Lohnanstieg in Sicht ist. Deshalb ist die volle Anpassung der Gehälter Ost/West zum 1. Januar 1993, also in einem guten halben Jahr, dringend erforderlich.

(Beifall)

Viertens: Wir Sozialdemokraten müssen wieder vor Ort sein, und zwar wesentlich mehr als bisher. Eine gute Stütze war uns dabei in Weißensee die Arbeiterwohlfahrt, genauso gut aber war der Kontakt zu den Betriebsräten der noch verbliebenen Betriebe.

Wir müssen ‑ meine ich ‑ zu unseren Wurzeln zurück: zu denjenigen, die mit den Händen arbeiten, und denjenigen, die sozial benachteiligt sind und deshalb neue Hoffnung brauchen. Es gilt sicherlich als unumstritten: Im Osten Berlins ist die Not am größten. Deshalb möchte ich euch hier aus diesem Schickimicki‑Palast des reichen Westens herausholen und zum nächsten Landesparteitag nach Weißensee in die Halle einladen.

(Beifall)

Die Halle ist in ihrer jetzigen Funktion als Treffpunkt der Jugendlichen aus Ost und West ein gutes Beispiel erfolgreicher Weißenseer Kommunalpolitik. Ich lade euch also gern und herzlich ein. ‑ Danke schön!

(Beifall)

Präs. Siegrund   K l e m m e r   : Vielen Dank, Genosse Schilling! Ich denke, an dieser Stelle ist gerade nach Weißensee eine herzliche Gratulation angebracht; denn Weißensee ist der Bezirk ‑ und zwar im Vergleich zur ganzen Stadt ‑, der bei diesen Wahlen zugelegt hat. Deshalb noch einmal eine ganz herzliche Gratulation.

(Starker Beifall)

Das Wort hat Marianne Brinckmeier.

Marianne   B r i n c k m e i e r   (Neukölln): Liebe Genossinnen, liebe Genossen, zunächst möchte ich für mich ganz persönlich sagen, dass ich zu dem Ergebnis dieser Bezirkswahlen nicht sagen kann, dass ich nicht unzufrieden bin. Ich bin zutiefst unzufrieden, auch was unser eigenes Ergebnis anbelangt, und ich bin auch besorgt.

(Beifall)

Ich weiß auch nicht, ob man Entwarnung geben darf, was den Rechtsruck in Berlin anbelangt, zu unterschiedlich sind die Ergebnisse in den einzelnen Bezirken. In Berlin konnten die Republikaner immerhin ihren Wähleranteil zwischen Dezember 1990 und Mai 1992 von 62 000 auf 125 000 Wählerinnen‑ und Wählerstimmen verdoppeln. Sie sind in mindestens vier Bezirksämtern vertreten.

Im Gegensatz dazu ist das Wählervertrauen ‑ ‑ (keine Widergabe wegen technischer Probleme bei der Bandaufnahme möglich ‑ d. Red. ‑) ‑ ‑ tut ein übriges und hat natürlich auch dazu beigetragen, dass die Republikaner im östlichen Teil der Stadt nicht so stark geworden sind wie im westlichen Teil. Aber das darf uns nicht trösten, denn sonst hätten wir zweistellige Zahlen für die Republikaner.

Vor diesem Hintergrund der niedrigen Wählerbeteiligung teile ich die Einschätzung des Meinungsinstituts FORSA, die von einem Erdrutsch in der Berliner Parteienlandschaft gesprochen hat.

(Vereinzelter Beifall)

Ich meine, wir sollten uns hüten, das Resultat schön zu reden.

(Beifall)

Wenn man immer wieder darauf hinweist, dass dieser Wahlsonntag auch mit einem Maß an Bedeutung und Aussageerwartung befrachtet wurde, der ihm eigentlich nicht unbedingt zustand: So abwegig, finde ich, war diese Erwartung doch aber nicht; denn immerhin wurde hier im Zentrum des Einigungsprozesses abgestimmt, wo nach wie vor zwei deutsche Alltagswelten hart miteinander kollidieren.

Natürlich war das keine normale Kommunalwahl, und deshalb bin ich nicht bereit, Vergleichszahlen übriger Kommunalwahlen in Westdeutschland dafür heranzuziehen. Es war ein Prüfstein für die Bonner Politik und natürlich auch ein Prüfstein für die Arbeit der großen Koalition in Berlin. Zu Bonn will ich mich hier nicht äußern ‑ ich glaube aber, dass Kohl mehr als einen Denkzettel bekommen hat ‑, ich möchte vor unserer eigenen Haustür kehren.

(Vereinzelter Beifall)

Die Wähler können nur versöhnt werden, wenn unser Senat endlich energisch und erkennbar handelt, wenn beide Parteien ‑ und das gilt auch für uns ‑ nicht länger versuchen, kleine, taktische Vorteile, eigenes parteipolitisches Profil höher zu bewerten als dringend notwendige Entscheidungen für das Gesamtwohl der Stadt.

(Vereinzelter Beifall)

Wir müssen uns fragen, was von uns im Einigungsprozess erwartet wird. Schaffen wir wirklich die Angleichung der Lebensverhältnisse? Haben wir die Kraft, den Bürgerinnen und Bürgern vor allen Dingen im Westteil der Stadt zu sagen, dass für sie wohl kaum noch große Zuwachsraten in den nächsten Jahren zu erwarten sind? ‑ auch in dem Wissen darum, dass es sehr benachteiligte Bezirke im westlichen Teil der Stadt gibt. Ich komme aus Neukölln, und ich weiß, wovon ich rede. Ich glaube aber sehr wohl, dass die Mittel sehr viel stärker in den östlichen Teil transferiert werden müssen, damit unsere erklärte Aussage ‑ gleiche Lebensverhältnisse in Ost und West ‑ allmählich auch Realität wird.

Aber die Angst, zum Verlierer der deutschen Einheit zu werden, ist nicht nur im östlichen Teil der Stadt verbreitet, sie ist zunehmend auch im westlichen Teil der Stadt zu spüren. Ich finde auch, dass Eberhard Diepgen im stärkeren Sinne Verlierer dieser Wahl war, weil sein Name für eine originäre West‑Berliner Politik gestanden hat. Die CDU hat mit ihrem Wahlergebnis im Osten die Quittung dafür erhalten.

Uns gereicht es zweifellos zum Vorteil, dass wir in Ost und West ungefähr gleich stark, wenn auch auf einem sehr niedrigen Niveau sind. Das bedeutet für uns eine besondere Verantwortung in der großen Koalition. Wir müssen den Erwartungen, die man natürlich nach wie vor an die SPD auch im östlichen Teil dieser Stadt hat, gerecht werden.

Jetzt wollte ich zu den konkreten Vorschlägen kommen, die noch auf zwei Seiten meines Zettels stehen, aber ich bin abgeläutet worden. Vielleicht werde ich mich später noch einmal zur Debatte melden. ‑ Danke!

(Beifall)

Präs. Siegrun   K l e m m e r   : Das Wort hat Klaus von Lampe.

Klaus von   L a m p e   (Juso AG): Genossinnen und Genossen! Mit dem Wahlergebnis kann eigentlich nur zufrieden sein, wer mit Schlimmerem gerechnet hat. Nichts gegen Pessimisten, aber drängender denn je, meine ich, stellt sich für uns die Frage: Wie kann es der SPD gelingen, aus der Schwäche der CDU ‑ das ist das eigentlich positive Ergebnis der Wahl, vielleicht das einzige ‑ politisches Kapital zu schlagen, also mehr Menschen von der Wichtigkeit und Richtigkeit sozialdemokratischer Politik zu überzeugen?

Eines wissen wir heute: Mit und in dieser großen Koalition geht es nicht!

(Beifall)

Das sage ich nicht aus Ignoranz gegenüber dem bundespolitischen Trend gegen die großen Parteien, der auch in Baden‑Württemberg dazu geführt hat, dass die SPD, ohne in der großen Koalition zu sein, Wählerstimmen verloren hat, sondern weil die große Koalition hier in Berlin die idealtypische Verkörperung dessen ist, was die Krise der etablierten Politik ausmacht: die Ideenlosigkeit und Handlungsunfähigkeit angesichts riesengroßer Probleme, die nicht mit einfachen Rezepten zu lösen sind.

(Vereinzelter Beifall)

Die großen Parteien, CDU wie SPD, ziehen sich in eine von Wahl zu Wahl kleiner werdende Wagenburg zurück. Da passt es sehr gut in dieses Bild, dass neben der Austragung von begrenzten und begrenzbaren Konflikten in politischen Nebenbereichen dieser Stadt das einzig wirklich wichtige Projekt dieser großen Koalition das von Law‑and‑order‑Denken durchdrungene neue ASOG gewesen ist.

Ist es nicht so, dass die politische Zielsetzung der SPD in dieser großen Koalition bislang mehr oder weniger nur darauf reduziert ist, Regierungsfähigkeit zu zeigen? Regierungsfähigkeit eher in einem Sinn von Verwaltungsfähigkeit.

Die SPD muss in dieser durchaus historischen Situation ein Gefühl dafür entwickeln, dass sich große Handlungs‑ und Gestaltungsspielräume aufgetan haben, die es politisch auszufüllen gilt. Wir Jusos erwarten deshalb Konfliktfähigkeit nicht nur in Kleinigkeiten, sondern auch in Grundsatzfragen, und zwar nicht nur im Senat hinter verschlossenen Türen, nicht nur im Abgeordnetenhaus, sondern in der gesamten Stadt. Das bedeutet nicht nur die prägnante Darbietung dessen, was an Konzeptionen bereits vorhanden ist ‑ und das ist durchaus einiges ‑, sondern auch und vor allem eine Neubelebung der programmatischen Arbeit. Die SPD braucht sich dabei nicht mit der Perspektive einer 20‑ bis 30‑Prozent‑Partei abzufinden, wenn sie den Willen hat ‑ den muss sie aber erst noch wirklich beweisen ‑, der gesellschaftlichen Entwicklung wieder eine positive Vision voranzustellen. Ein solches Projekt muss grundsätzlich, und zwar am Berliner Programm der SPD ansetzen. Das wird nicht ‑ da stimme ich Walter Momper zu ‑ in der Isolation sozialdemokratischer Ortsvereine geschehen und auch nicht in der Zufälligkeit der Kooperation einer jetzt noch mehr oder weniger passiven Partei und einer sich überwiegend staatstragend gebenden Abgeordnetenhausfraktion.

Vielleicht das Hauptanliegen der Jusos ist: Die SPD muss zurück in die Reihe jener gesellschaftlichen Kräfte, die am Projekt einer besseren Gesellschaft arbeiten. Das bedeutet ganz konkret, die Abstinenz gegenüber Bündnis 90/Grüne, gegenüber Ökologie‑ und Bürgerrechtsgruppen in der alltäglichen Arbeit aufzugeben. Es geht einfach nicht, dass Verkehrskongresse mit Daimler‑Benz und ADAC organisiert und Bürgerinitiativen wie die Bürgerinitiative Westtangente in der verkehrspolitischen Diskussion links liegengelassen und allenfalls von oben herab belächelt werden. So baut man keine neuen Mehrheiten für eine neue Politik.

(Vereinzelter Beifall)

Wir Jusos sind es jedenfalls leid, wenn sich die Partei jetzt mit dem blauen Auge vom Wahlsonntag in den politischen Alltag zurückziehen will. Denn ‑ das kann man durchaus optimistisch festhalten ‑ für eine neue Wohnungs‑, eine neue Arbeitsmarkt‑ und eine Verkehrspolitik gibt es ‑ egal, wie man nun die Wählerschaft der PDS im einzelnen einschätzt ‑ in Berlin eine klare Mehrheit von zur Zeit 56 %. ‑ Vielen Dank!

(Beifall)

Präs. Siegrun   K l e m m e r   : Das Wort hat Brigitte Mießner!

Brigitte   M i e ß n e r   (Schöneberg): Liebe Genossinnen und Genossen! In Schöneberg ist alles ungefähr so geblieben, wie es war. Die SPD hat zwar geringfügig verloren. Das ist aber nicht so schlimm, die Mehrheit hat sie trotzdem, wenn auch weniger Bezirksverordnete; dafür ist die FDP wieder vertreten.

Also, für Schöneberg wäre eigentlich die Welt, so gesehen, in Ordnung. Ich muss mich aber meinen Vorrednern anschließen, dass sie für Gesamtberlin überhaupt nicht in Ordnung ist, sondern dass diese Wahl klar erwiesen hat, dass die Mehrheit der Berlinerinnen und Berliner die SPD nicht mehr für diese soziale Kraft hält ‑ jedenfalls nicht für die soziale Kraft, die sich wirklich für die ärmeren Schichten, für die nicht so gut verdienenden Leute, für die mit den nicht so großen Wohnungen oder Eigentumswohnungen einsetzt.

Erstens zu den Republikanern: Sicher soll man das nicht überbewerten, was hier geschehen ist, aber eines müssen wir uns klarmachen: Es ist das erste Mal seit 1949, dass in Berlin Republikaner als Staatsrepräsentanten auftreten werden. Diese Leute, die Stadträte werden, repräsentieren dieses neue Deutschland. Ihr müsst euch einmal klarmachen, was das heißt, auch gerade Jugendlichen gegenüber. Welche Stadtratsposten, welche Ressorts auch immer sie bekommen werden: Es ist so, dass diese Schönhuberschen Wölfe in diesem Moment einen demokratischen Pelz verpasst kriegen, ein demokratisches Fell, das sie verhüllt, und zwar in Berlin, von uns allen. Das ist eine ganz schlimme Geschichte. Ich glaube, dass auf der Ebene bisher überhaupt noch gar nicht darüber nachgedacht worden ist, was da für ein qualitativer Sprung passiert ist, sondern alle freuen sich darüber, dass sie im Osten nicht gleich von null auf 50 gekommen sind. Das ist doch unglaublich: von null auf fünf ist nun wirklich schon ziemlich viel.

Zur PDS: Sicherlich sind die Wählerinnen und Wähler der PDS nicht alle irgend welche DDR‑Nostalgiker und mit Sicherheit auch keine unbelehrbaren Stalinisten, sondern es sind offensichtlich Leute, die die SPD nicht für glaubwürdig halten.

(Vereinzelter Beifall)

Das sind offenbar nicht nur solche, die die PDS wählen, sondern es gibt sie auch in unseren eigenen Reihen. Wir haben es schon mehrfach gehört, dass die Glaubwürdigkeitslücke inzwischen ganz erheblich geworden ist.

Die SPD ist eben nicht glaubwürdig, die Regierungs‑SPD in Gesamtberlin, für jemanden der eine Wohnung sucht und dann vom sozialdemokratischen Bausenator solche wunderbaren Sprüche hört, er solle doch in Zukunft in Schlichtwohnungen oder vielleicht im sozialen Wohnungsbau leben, von einem sozialdemokratischen Bausenator, der in großen Berliner Boulevardzeitungen sein Eigenheim repräsentiert und stolz darauf hinweist, wie toll er lebt.

(Vereinzelter Beifall)

Diese Regierungskoalition ist nicht glaubwürdig für Frauen und Männer in der Stadt, die arbeitslos oder von Arbeitslosigkeit bedroht sind. Vielleicht habt ihr in der Presse gelesen, dass Berlin mit 11 % Arbeitslosigkeit im Westen und 14,9 % im Osten inzwischen einsam an der Spitze liegt ‑ jedenfalls in den ehemaligen Westländern. Die Verantwortung dafür ‑ da hilft uns gar nichts ‑ wird in dem Wahlkampf 1995 der zuständigen sozialdemokratischen Senatorin zugeschoben werden. Wenn da nicht etwas passiert, werden wir die Quittung kriegen. Das gilt insgesamt für die Wirtschaftspolitik, für die Fragen, was mit der Treuhandanstalt passiert, was die Treuhandanstalt alles macht. In der „Berliner Zeitung“ könnt ihr jeden Tag ein paar neue Skandale über die Treuhandanstalt lesen. Mitunter liest man auch etwas vom Senator, der sich dagegen wehrt, aber scheinbar ganz hilflos ist.

Unglaubwürdig ist die SPD weiter für Mütter, Väter, Kinder, für alle Leute, die im Erziehungsbereich arbeiten, die mitkriegen, was da passiert. Das reiht sich ein in eine Politik, die im Grunde genommen nur noch darin besteht, mit den viel schlimmeren Sparnotwendigkeiten und diesem riesigen Sparknüppel unablässig zu drohen, anstatt nun endlich einmal ‑ was hier schon mehrfach gesagt worden ist ‑ zu handeln ‑ handeln auch in dieser unsäglichen Olympia‑Bewerbung, die bisher ausschließlich Geld gekostet hat,

(Vereinzelter Beifall)

an der einige Leute eine ganze Menge Knete verdient haben. Das ist ihnen auch zu gönnen, aber nun hört doch endlich damit auf, bevor diese Peinlichkeit passiert und Berlin den Zuschlag doch nicht kriegt ‑ was sich schon fast abzeichnet.

Dieses unwürdige Gezerre um die Regierungssitzgeschichten: Was soll denn das? Aus welchem Grund ist es nicht möglich, dass dieser Senat endlich anfängt, sich auf einige wichtige Sachen zu konzentrieren?

Unglaubwürdig ist die SPD für die Wählerinnen und Wähler, die in dem Fall die PDS und in manchen anderen Fällen die Reps gewählt haben, natürlich vor allen Dingen, was die soziale Symmetrie des Teilens betrifft. Es ist wirklich eine Farce, was im Zusammenhang mit der Mehrwertsteuergeschichte gelaufen ist. Es ist eine Farce, was in diesem Land insgesamt läuft. Zum Teil sieht es leider so aus, dass unsere Bundesoberen auch nicht so viele gute Ideen haben und auch immer wieder nur darüber reden, dass doch ein großer Teil von den Schwachen aufgebracht werden müsste und gerade nicht von den Starken ‑ wo wir uns doch eigentlich hier alle darüber einig sind, dass die großen Starken mit den finanziell dicken Schulterpolstern beteiligt werden sollten.

Es ist das Gemeinwohl gewesen, in dessen Interesse ihr Regierungsgenossen in die große Koalition eingetreten seid. Jetzt tut doch, bitte schön, endlich einmal etwas für das Gemeinwohl. Bonn ist zum Glück niemals Weimar gewesen. Aber wenn Berlin nicht Weimar werden soll, dann müssen wir uns alle ganz schön anstrengen.

(Vereinzelter Beifall)

Präs. Siegrun   K l e m m e r   : Einen Hinweis an die hier Redenden: Wir tippen an die Glocke eine halbe Minute bevor eure Zeit abgelaufen ist, damit ihr Gelegenheit habt, einen eleganten Schluss auf die Reihe zu kriegen.

Als nächster hat Hans Nisble aus Wedding das Wort!

Hans   N i s b l e   (Wedding): Genossinnen und Genossen! Die Berliner SPD ist in der Tat gut beraten, eine saubere und ungeschminkte Wahlanalyse in allen Gremien der Partei vorzunehmen. Das gilt aus meiner Sicht auch für die Führung des Wahlkampfes. Wir haben kritisch nachzuvollziehen, dass wir es seit anderthalb Jahren geschafft haben, unsere Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner im Bereich der Innen‑ und Sicherheitspolitik auszusparen. Eine offene und ehrliche Diskussion über die möglichen Konsequenzen unserer weiteren Arbeit der Partei, aber auch der Arbeit der Landesregierung ist ohne Zweifel notwendig.

Die Devise nach dem vorliegenden Wahlergebnis kann für die SPD nicht lauten: Weiter so! Dies wäre ein verhängnisvoller Irrtum unserer Partei. Die Weddinger Sozialdemokraten werden sich jedem Versuch energisch widersetzen, das vorliegende Wahlergebnis zu beschönigen. Diese Feststellung gilt für das erschreckend hohe Abschneiden der Nachfolgeorganisation der SED im Ostteil der Stadt und für das hohe Wahlergebnis der Republikaner im Westteil. Ich teile nicht die Auffassung, der Rechtsruck konnte in Berlin aufgehalten oder gestoppt werden. In Wirklichkeit ‑ Marianne Brinckmeier hat dankenswerterweise darauf hingewiesen ‑ hat der Wahlsonntag der Berliner Parteienlandschaft Erdrutsche gebracht, die in diesem Ausmaß in der Wahlgeschichte nach Gründung der Bundesrepublik zu beobachten waren. Wo sonst verloren die Parteien wie jetzt in Berlin innerhalb von nur eineinhalb Jahren die Hälfte ihrer Wähler? Die CDU hat ‑ zieht man das Wahlergebnis vom 2. Dezember 1990 heran ‑ fast die Hälfte ihrer Stimmen verloren. 1990 haben 815 000 Berliner die CDU gewählt, am 24. Mai nur noch 417 000. Ähnlich drastisch ist das Ergebnis und der Wählerschwund für die Freien Demokraten: 1990 haben rd. 153 000 Berliner die FDP gewählt, jetzt, am 24. Mai, nur noch 73 000.

Unsere Partei ‑ die Berliner Sozialdemokraten ‑ hatte im Dezember 1990 ihr bisher schlechtestes Ergebnis erzielt, und trotzdem haben wir bis Mai 1992 nochmals mehr als 130 000 Wähler verloren. Die Berliner SPD hat jetzt nur noch eine Wählersubstanz von 482 000 Stimmen. Wir sind, wenn wir das Ergebnis schönreden wollen, wohl doch ganz schön bescheiden geworden.

Wie schmal die Vertrauensbasis für die beiden großen Parteien am 24. Mai geworden ist, zeigt dann auch deutlich, dass die Zahl der Nichtwähler von 38,8 % in Berlin insgesamt größer ist als die Zahl der SPD‑ und CDU‑Wähler zusammen.

Es gibt drei Gewinner: Gewinner dieser Wahl ist die Partei der Nichtwähler. Gewinner dieser Partei ist die PDS. Gewinner dieser Wahl sind die Republikaner. Ich denke, wir haben es nicht nur mit einem überwiegenden Parteienverdruss zu tun oder mit einer Politikmüdigkeit. Es liegt nicht nur an der mangelnden Motivierung oder fehlender Konturen, denn die Ohrfeige haben in der Tat die etablierten Parteien, also beide Großparteien, erhalten. Es muss uns nachdenklich stimmen, dass Grüne/AL und PDS immer noch einen Stimmenzuwachs erhalten haben.

Ich denke, die Sozialdemokratie hat nicht lange Zeit, über das Wahlergebnis zu lamentieren. Jetzt ist in der Partei insgesamt, auch auf Landesebene und in den Bezirken, Führungsverantwortung gefragt. Die Meinungsumfragen zeigen uns deutlich: Diese Koalition ist als Modell bei den Berlinern nicht beliebt. Das Problem ist nicht das Bündnis aus CDU und SPD allein, sondern negativ bewertet wird vielmehr die Arbeit des Senats insgesamt.

(Vereinzelter Beifall)

Wir müssen deutlich sehen: Wir haben einen Regierenden Bürgermeister, dessen Autorität von Tag zu Tag zerfällt. Wir haben insgesamt eine Landesregierung, die vom Wähler in ihrer Leistung negativ beurteilt wird. Wenn wir nicht in den Negativsog der CDU und des Regierenden Bürgermeisters mit hineingezogen werden wollen, muss es eine Korrektur der Senatsarbeit geben: Sie hat sich auf das Wesentliche zu beschränken, und sie muss deutlich machen, in welchem Zeitfaktor sie die Probleme für die Menschen in der Stadt lösen will.

Ich denke, auch bei uns muss bald Klarheit sein, wer die Nummer 1 der Berliner SPD ist und mit welcher Person ‑ Frau oder Mann ‑ wir 1995 für die Wahlen zum Abgeordnetenhaus antreten wollen. Was gut war für Björn Engholm, frühzeitig die Kanzlerkandidatur zu entscheiden, muss auch gut sein, frühzeitig zu entscheiden, wer für uns das Amt des Regierenden Bürgermeisters innehaben soll.

(Beifall)

Präs. Siegrun   K l e m m e r   : Das Wort hat Utta Stötzer aus Hohenschönhausen!

Utta   S t ö t z e r   (Hohenschönhausen): Genossinnen und Genossen! Die Wahlergebnisse in Hohenschönhausen sind sehr differenziert. Es gibt große Unterschiede zwischen der Altstadt und dem riesigen Neubaugebiet. Hohenschönhausen ist ein Bezirk mit vielen Altlasten, insbesondere auch was die Einwohnerstruktur betrifft, ist aber auch der Bezirk mit einem sehr hohen Anteil junger Menschen, der kinderreichste Bezirk der Stadt.

Es trifft also nicht zu, dass allein die Alten, alte SED‑Mitglieder, die PDS gewählt haben. Gerade dort, wo der Anteil junger Menschen besonders hoch ist, hat die PDS große Wähleranteile erreicht.

Nun ist die PDS eine Partei, die allein Ostinteressen vertritt, weil sie im Westen keine Wählerschaft hat. Probleme der Ost‑Berliner ‑ und da gibt es große ‑, für die wir, aber auch die PDS keine Lösungen haben, werden von der PDS dramatisiert und zur Verunsicherung benutzt. Die PDS ist eine Partei, die nicht auf Integration, sondern auf Trennung und Abgrenzung setzt, nicht nur DDR‑Nostalgie bietet, sondern soziale Ängste schürt. Und nun muss ich auch sagen, wir hatten im Ostteil der Stadt auch vieles im Sozialbereich, was gut gelöst und besser gelöst war als es jetzt ist. Die PDS ist eine Partei mit immer noch funktionierenden Strukturen, die sich wieder an die Spitze von Bürgerinitiativen setzt und diese maßgeblich beeinflusst. Ich nenne hier nur zwei: die Arbeitslosenverbände und die Mietervereine. Das muss uns nicht nur zu denken geben, sondern auch unsere Aktivitäten herausfordern. Nur ‑ und das ist ja bekannt: Wir sind in Hohenschönhausen etwa 130 Mitglieder und waren im Wahlkampf und überhaupt sehr aktiv ‑: Wir können das allein nicht bewältigen.

Dagegen vertreten wir Sozialdemokraten aber die Interessen der gesamten Stadt. Wir sind eine Partei der Integration, die es manchmal auch schwer hat, ausgewogen die doch oft noch unterschiedlichen Interessen zwischen Ost und West zu berücksichtigen. Ich will darüber keine Klage führen; es ist gut so. Ohne Verständnis der Probleme und Ängste, ohne ehrliche Darstellung und Bewältigung der Unterschiede können wir unserer Verantwortung in der Landesregierung nicht gerecht werden, wird uns auch der Einigungsprozess nicht gelingen. Das heißt für mich aber nicht, ständig die Lage im Ostteil zu beklagen. Aber das heißt auch nicht, Probleme zu verschweigen und wegzureden.

Wir Ossis müssen aber erst lernen, zu argumentieren und uns zu behaupten. Liebe Westgenossen ‑ entschuldigt diese Anrede ‑ , dabei müsst ihr uns helfen. Prüft doch einmal für euch, wieviel Zeit in Beratungen von Partei und Fraktion für Westprobleme verwendet werden, die doch vergleichbar mit unseren schwierigen Problemen ‑ verzeiht mir ‑ oft nicht essentiell sind. Lasst bitte mehr Raum und Gelegenheit für unsere Sorgen und Probleme.

Hohenschönhausen, weit vor den Toren Berlins: eine Betonsiedlung ohne notwendige Infrastruktur, mit wenig Grün, ohne ausreichende Spielplätze, es fehlen Schulen und Sportstätten. Allein in diesem Jahr werden zusätzlich 50 erste Klassen eingeschult. In Hohenschönhausen herrscht Schulraumnotstand. Es müssen zum Schuljahresbeginn 78 mobile Klassenzimmer aufgestellt werden. Schulergänzungsbauten sind in der Planung und Vorbereitung verzögert worden. Ich lade alle Genossen besonders aus dem Westteil der Stadt ein, mit der S‑Bahn in Richtung Wartenberg zu fahren. Dort werdet ihr sehen, wie an der Hauptfernbahntrasse Schulen als Schallschutz gebaut wurden, um die Wohngebäude von der Fernbahntrasse etwas abzusetzen. Wir setzen nun noch etwas drauf: In diese Anlage hinein werden nun unsere mobilen Klassenzimmer aufgestellt.

Mit den Sportanlagen ist es ähnlich. Die Schüler müssen ihre Sportübungen auf den Betonstraßen durchführen. Sportunterrichtsstunden wurden gestrichen. Es ist die Regel, dass vier Klassen gemeinsam Unterricht in einer Turnhalle durchführen müssen.

Nun kann aber mit den Planungen von Bauvorhaben erst begonnen werden, wenn die Grundstücksfrage geklärt ist. Wir haben in Hohenschönhausen zwar große Flurstücke des Landes Berlin, aber keine Grundstücke. Nun schreibt aber die Landeshaushaltsordnung bindend vor, dass erst Grundstücke da sein müssen, bevor geplant wird. Wir kommen also nicht in die Reihe, weil wir diese Grundstücke dort nicht haben.

Wir haben Industriegelände. Wir würden es ausdrücklich begrüßen, wenn in Hohenschönhausen Industrie angesiedelt werden würde; denn es werden dringend Arbeitsplätze gebraucht. Durch die Treuhandanstalt wurden diese Industrieanlagen verkauft, es wurden riesige Lagerhallen errichtet, und damit wurde die Chance vertan, dort Arbeitsplätze zu schaffen. Der Arbeitslosenanteil ist in den Neubaugebieten von Hohenschönhausen besonders hoch.

Ich wollte noch sagen, dass im Osten große Verbitterung darüber besteht, dass eigentlich fast alles, was aus dem Osten kommt, moralisch schlecht gemacht wird. Diskussionen, wonach der Fernsehturm oder der Palast der Republik abzureißen seien, verbittern die Leute im Osten. Sie sind der Meinung, durch den Westen soll dort alles plattgemacht werden. Wir als SPD können nicht glaubwürdig herüberbringen, was wir besonders für die Leute in den großen Neubausiedlungen im Ostteil der Stadt machen. ‑ Schade, die Zeit ist vorbei.

(Beifall)

Präs. Siegrun   K l e m m e r   : Ditmar Staffelt!

Ditmar   S t a f f e l t   (Tempelhof): Liebe Genossinnen und Genossen! Wenn wir einigermaßen objektiv und in dem sonst so hervorragend ausgeprägten Selbstbewusstsein als Sozialdemokraten an dieses Wahlergebnis herangehen, kann und darf es uns nicht befriedigen.

(Beifall)

Ich gehe nach wie vor davon aus, dass diese SPD sich nicht an der Dreißig‑Prozent‑, sondern an der Vierzig‑Prozent‑Marke misst. Es muss unser Bestreben sein, dieses Ziel zu entwickeln und darauf hinzuarbeiten.

(Vereinzelter Beifall)

Ich glaube, dass wir mindestens durch das Ergebnis in beiden Teilen der Stadt eine gute Grundlage haben, aufzubauen und ein solches Wahlergebnis für die Zukunft auch in den Bereich des Wahrscheinlichen kommen zu lassen.

Nur, wir müssen allesamt etwas dafür tun. Das beginnt damit, dass diese SPD nicht nur mit den althergebrachten Forderungen ‑ ich meine hier nicht die Grundwerte, sondern ich meine die ganz praktischen Forderungen ‑ in der Öffentlichkeit in Erscheinung treten darf, sondern sich selbst auch verstärkt Gedanken darüber machen muss, wie sie den Auftrag zu Gesamtberliner Denken und zu Gesamtberliner Politik besser realisieren kann, als das vielleicht bisher der Fall war. Wir müssen uns verstärkt auf diese inhaltliche Arbeit konzentrieren, denn niemand ‑ wirklich niemand ‑ hindert uns in der großen Koalition daran, unsere Vorschläge zu unterbreiten und sie der Bevölkerung öffentlich zu vermitteln.

(Vereinzelter Beifall)

Es ist also nicht nur das Problem der Senatorinnen und Senatoren, es ist auch nicht nur das Problem der schwierigen Gemengelage. Es ist auch ein Stück unser eigenes Problem, das wir uns verstärkt darum bemühen müssen, manche Ladenhüter über Bord zu werfen, den Kopf gemeinsam zu öffnen und zu neuen Ufern, auch was die praktische Politik in der Stadt betrifft, zu gehen.

Wir müssen darüber hinaus einen deutlichen Zahn zulegen, wenn denn diese große Koalition in der Arbeit des Senats und in der Arbeit der Fraktion überhaupt einen Sinn macht. Für mich bleibt völlig unbestritten ‑ und die Sozialdemokratie muss diese Position noch stärker einbringen als bisher ‑: Einen Einigungsprozess in sozialem Frieden kann es nur geben, wenn durch die Politik des Senats auch soziale Gerechtigkeit praktiziert wird. Das muss sich zum Beispiel in der Haushaltsberatung für 1993, was den Sozialbereich, den Jugendbereich, den Bereich der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, den Kulturbereich, was im übrigen auch die Bereiche, die zur existentiellen Sicherung der Menschen dienen, betrifft, deutlich spürbar werden.

Ich sage darüber hinaus, dass die CDU lernen muss, endlich ihren verhaltenen Kurs gegenüber der Bundesregierung aufzugeben. Es ist wohl so, dass Herr Diepgen in Bonn keinen Stich beim Kanzler sieht, das wissen wir inzwischen. Aber dann muss eben die Partei CDU gemeinsam mit der Partei SPD den Bürgerinnen und Bürgern dieser Stadt deutlich machen, wer die eigentliche Ursache für die Unfähigkeit, existentielle Fragen zu lösen, ist:

(Beifall)

Das ist die Bundesregierung, bestehend aus CDU/CSU und FDP. Ob das die Mietenfrage ist, die Gewerbemieten, das Treuhandgesetz, ob das die Pflegeversicherung und ob das die Umgangsweise mit den Menschen in Ost und West an dieser Nahtstelle ist: Es ist die Bundesregierung, die hier ohne Zweifel Verantwortung trägt.

Ich will darüber hinaus deutlich machen, dass es jetzt darauf ankommt ‑ das ist hier gesagt worden ‑, klare Prioritäten zu setzen. Wir müssen in der Senatspolitik auch die Kleinteiligkeit aufgeben. Es geht darum, den Menschen konkrete Szenarien vor Augen zu führen. Wir müssen ihnen, ohne in Ankündigungspolitik zu verfallen, sagen: Innerhalb der nächsten zwei Jahre habt ihr die und die Lasten, aber auch die und die Leistungen von diesem Senat zu erwarten. Das, glaube ich, fehlt einfach. Und das liegt natürlich ohne jeden Zweifel auch an diesem Regierenden Bürgermeister.

Ich will noch zwei andere Aspekte sagen ‑ die Zeit ist viel zu kurz ‑: Wir müssen uns auch bei allen existentiellen Nöten darum bemühen, eine gemeinsame Identität in dieser Stadt herauszubilden. Wir leben doch nach wie vor aneinander vorbei in Ost und in West. Es ist ein Auftrag dieses Wahlergebnisses, dass die SPD alle Phantasie an den Tag legt, um diese gemeinsame Identität für das neue gemeinsame Berlin herauszubilden.

Klarheit und Wahrheit: Es macht auch für die SPD keinen Sinn, etwa den Kurs zu fahren: Wir mogeln uns mal an der finanziellen Lage des Landes Berlin vorbei. Nein, wir müssen den Menschen in der Stadt klar sagen: Es wird ein harter Sparkurs erforderlich sein. Wir werden ihn so sozial wie nur irgend möglich gestalten, aber es wird Einschnitte geben. Nur der, der heute Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit an den Tag legt, kann auch erwarten, dass ihm 1995 Glauben geschenkt wird.

(Beifall)

Ich sage ein letztes Wort als Botschaft sozusagen an die Damen und Herren der CDU: Ich denke, die CDU muss bei der Diskussion, die derzeit in dieser Partei geführt wird, sehr darauf achten, dass sie nicht das instabile Element in dieser Koalition wird. Wir müssen gegenüber der CDU unsere Positionen klarmachen, aber wir müssen auch von der CDU abverlangen, dass sie ihren ideologischen Ballast endlich abwirft, der an so vielen Fragen wie in der Verkehrspolitik, wie in der Wirtschaftspolitik, wie in der Baupolitik zu einem Stillstand geführt hat und der dann im übrigen auch zu faulen Kompromissen führt, die von der Stadt und den Menschen in der Stadt nicht akzeptiert werden. Auch dieses klare Wort muss in dieser Koalition, wenn sie für die nächsten zwei Jahre einen Sinn machen soll, deutlich gesagt und klargestellt werden.

(Beifall)

Präs. Michael   E l z e   : Ich rufe jetzt auf die Genossin Ika Klar.

Ika   K l a r   (Wilmersdorf): Genossinnen und Genossen! Ich habe diesen großen Bogen nicht, den der Genosse Staffelt eben gemacht hat; ich möchte kleine Ansätze bringen aus dem Alltag einer Frau, eines Menschen, einer Sozialdemokratin, die eigentlich sehr stark auch im Osten arbeitet und immer wieder diesen Ton der Enttäuschung hört: Deine Partei, was macht Deine Partei?

Auch ich möchte mit einem Wort des Kabarettisten Dieter Hildebrandt beginnen, der vor längerer Zeit gesagt hat: Der Senat von Berlin ist zurückgetreten, und keiner hat’s gemerkt.

(Beifall)

Die Absage ‑ ich will nicht mehr so dramatisch werden, es ist genug gesagt worden ‑ der Wähler, Wählerinnen, Nichtwähler und Nichtwählerinnen an die beiden großen Volksparteien am vergangenen Sonntag hat eigentlich nur diesen Satz bestätigt.

Das Ergebnis hat außerdem bestätigt, wie sehr Regieren und Verhalten der Landesregierung, auch der Fraktionen, den Bürgern Missachtung vermittelt haben, den Eindruck, da sind Technokraten, die vielleicht verwalten, aber die nichts herüberbringen. Ich enttäusche vielleicht jetzt einige, aber das ist der Eindruck.

Artikel 21 Grundgesetz schreibt den Parteien ausdrücklich zu, an der Willensbildung des Volkes mitzuwirken. Ich fordere jetzt die Sozialdemokraten von Berlin auf, endlich die Meinungsführungsschaft in der Stadt wieder zu übernehmen in der allgemeinen Orientierungslosigkeit, die durch den rasanten Wandel der Gesellschaft ‑ worauf auch Walter hingewiesen hat ‑ wirklich den Menschen viel zumutet. In dieser Orientierungslosigkeit muss es Möglichkeiten geben, Orientierung zu liefern. Das ist nicht erst seit Sonntag oder seit dem vergangenen Jahr die Forderung, sondern das wurde schon früher immer wieder gesagt: Die SPD muss die Meinungsführungsschaft übernehmen ‑ und zwar nicht im Sinn von einer Moral und auch nicht im Sinn von Populismus, sondern einfach im Sinn von Verantwortbarkeit, Ganzheitsdenken auf die Zukunft hin, Ehrlichkeit und Überzeugungskraft. Der Schlagabtausch, wenn er denn im Abgeordnetenhaus passiert, hilft sehr wenig zur Orientierung, zumal oft gar nichts entschieden wird.

Was die Menschen immer deutlicher wollen und fordern, sind Politiker und Politikerinnen, die neben der Sachkenntnis sehr starkes Engagement vermitteln, Eigeninitiative, Überzeugungskraft. Wie oft habe ich gehört: Sozis waren überhaupt gar nicht da, wenn sich irgendwo versammelt wurde; Sozis haben wir nicht gesehen! Ich denke, auch Kreativität ist wichtig und muss wieder gefordert werden, gekoppelt mit der sogenannten kommunikativen Kompetenz.

Nicht der glatte Profi ist gefordert, auch nicht die Funktionärin oder der Funktionär, die im Laienhaften steckenbleiben. Das sind Forderungen, die wir auch aus der Wirtschaft übernehmen können. Die Wirtschaft widmet sich längst schon der Aus‑ und Weiterbildung von Leuten, die nicht nur auf dem Gebiet der Juristerei oder der Betriebswirtschaft, sondern auf dem Gebiet der Kommunikation, des Managements tätig sind. Ich denke, dass unsere Leute da noch viel lernen könnten und sollten. Ich gebe dazu kurz drei Beispiele ‑ erstens: Beim Streik der Lehrer ging es doch nicht um die Lehrer, sondern es ging um die Jugend.

(Vereinzelter Beifall)

Ich darf sagen: Ich bin enttäuscht über den Beschluss, den der Senat gefasst hat. Es ist unmöglich, im Kinder‑ und Jugendbereich finanzielle Maßnahmen zu übernehmen und durchzuführen. Das hat unglaubliche Folgen sowohl für das Demokratieverständnis der späteren Jugend als auch für die Gewaltbereitschaft der Jugend. Und es hat noch unglaublich viele andere Folgen. Da hätte ich mir von der SPD ‑ auch bei Koalitionstreue ‑ einige öffentliche Bemerkungen und Informationen gewünscht, damit die Leute wissen, wo die SPD, trotz Treue zur Koalition, eigentlich steht.

Zweiter Punkt: Es ist mir unerklärlich, warum sich die SPD zu Marlene Dietrichs Heimkehr überhaupt nicht geäußert hat.

(Beifall)

Das hat nichts mit Koalition zu tun, sondern das hat etwas mit der Tradition zu tun mit diesem Weltstar. Wir haben uns nicht wie eine weltstädtische Partei benommen, sondern wir ein Provinztheater.

(Beifall)

An der Grabstätte lag ein Kranz mit der Aufschrift: Du warst das andere Deutschland. ‑ Wer, wenn nicht die Sozis, haben die Möglichkeit, über das andere Deutschland, dem sie teilweise auch selbst angehört haben, Auskunft zu geben und die Meinung in der Öffentlichkeit zu bilden? Wir sind doch nicht alle Evelyn Künneke. Was soll denn der Blödsinn?

(Beifall)

Damit bin ich am Ende; das letzte ist: Wir haben eine Veranstaltung im Schöneberger Rathaus für Leute nur aus dem Osten im Alter von 25 bis 52 Jahre gehabt. Wir haben alle Parteien gehabt. Der Stuhl der SPD blieb von Anfang bis Ende leer. Und wieder hieß es: Deine Partei! Wenn ein Fachexperte oder eine Expertin dagewesen wären, der oder die hätten die Leute umgedreht. So aber haben ‑ nicht die CDU, die war entsetzlich, katastrophal; die FDP war ganz schlimm ‑ die PDS und Bündnis 90 Punkte gemacht. Ich sage euch ‑ das sind natürlich Pannen; ich will auch keine Schuldzuweisungen machen ‑, das darf nicht mehr vorkommen, wenn wir besser werden und wieder Vertrauen gewinnen wollen! ‑ Ich danke euch!

(Starker Beifall)

Präs. Michael   E l z e   : Als nächster Redner Dieter Butz, Weißensee!

Dieter   B u t z   (Weißensee): Genossen, eben wurde mir aus dem Herzen gesprochen.

Zurück zu Ditmar Staffelt: Wir müssen nachweisen, beweisen, dass die CDU das instabile Element der Koalition ist. ‑ Wo war diese Stimme vor der Wahl? Sie fehlte im Osten eindeutig. Das Gewäsch, das Geschwätz, das Zanken hin und her, das Nichtentscheiden war zum Beispiel eine der Ursachen dafür, dass viele entscheidende Wähler in ganz Berlin, auch in den östlichen Bezirken, nicht zur Wahl gegangen sind. Wenn ich dann von Walter Momper höre, „das überraschend gute Abschneiden der PDS“ ‑ ich sage es noch einmal: Hier wird etwas glorifiziert, was wir im Osten wussten. Tag und Nacht sind wir im Einsatz gewesen. Nun wollen wir uns nicht in Weißensee ausruhen: Wir haben eine andere Struktur, kein Neubauviertel, aber wir standen jedem einzelnen Bürger Auge in Auge gegenüber. Auch auf den PDS‑Veranstaltungen haben wir uns gestellt, die Diskussionen dort gewonnen. Nichts Gleichartiges habe ich in dieser Zeit aus dem Abgeordnetenhaus gehört, nichts vom Landesvorstand. Wischiwaschi, Friede, Freude, Eierkuchen: Das war die Politik vor der Wahl.

(Beifall)

Jetzt haben wir ein Ergebnis vorliegen. Wir sind stolz darauf, dass wir die 31 % gehalten haben. Wir sind die Berliner Partei.

Die Partei der Nichtwähler gilt es zu gewinnen und zu überzeugen. Die Lage im Tunnel, wie wir so schön sagen: Das Ende des Tunnels, das Licht ist zu sehen. Ich sage nochmals: Wenn wir uns nicht an die arbeitenden Menschen direkt wenden ‑ mein Bürgermeister sagte das vorhin ‑, und zwar an die, die mit den Händen und an die, die mit dem Kopf arbeiten,  wenn wir im Osten den Aufschwung weiter sabotieren, zulassen, dass vom Senat Gewerbemieten, Mieten für kommunale Einrichtungen hochgejagt werden ‑ ‑ Stellt euch vor: Wir unterstützen als Fraktion in der BVV die Überführung des ersten Kindergartens in freie Trägerschaft mit einer Steigerung von 400 DM auf 8 000 DM. Wer soll denn das noch bezahlen bei den paar Kindern? Dahinter steht dann sozialdemokratische Politik.

Ich meine also: Wir sollten uns auf den Parteitagen nicht ausschließlich damit beschäftigen, den Teilerfolg zu glorifizieren, sondern die Ursachen dafür und dort zu suchen, in unseren Reihen. Wenn wir eine Einheit sind, dann denkt daran: Wir brauchen eine breitere Basis. Ich appelliere deshalb: weniger riesige Diskussionen! Ich denke noch an unseren letzten Parteitag hier. Voller Frust habe ich damals beschlossen, nie wieder für einen Parteitag unserer Berliner SPD zu kandidieren. Wenn ich daran denke, dass wir hier Stunden verwendet haben zur Diskussion über einen Antrag, ob wir etwas aufweichen, ob wir vielleicht unsere Kreise verbreitern: Wir brauchen jede einzelne Stimme! Netterweise wurde das heute früh im Referat von Walter Momper gesagt: Aktivisten, die mit uns gehen wollen, die sich noch nicht trauen, die brauchen wir.

Ich sage noch einmal: Sozialdemokraten in Regierungsverantwortung im Land Berlin und im Abgeordnetenhaus! Eure Stimme wird etwas lauter zu hören sein müssen, ansonsten fehlen uns nachher noch mehr Wähler. ‑ Danke!

(Beifall)

Präs. Michael   E l z e   : Jetzt Bettina Michalski!

Bettina   M i c h a l s k i   (Kreuzberg): Ich möchte mich zum einen bei der Genossin aus Hohenschönhausen für ihren Beitrag bedanken, weil ich den sehr konkret fand. Ich konnte damit eine ganze Menge anfangen, habe vielleicht auch einige Sachen über Hohenschönhausen gelernt und kann mir das Wahlergebnis, was den Bezirk betrifft, von einem anderen Hintergrund aus angucken. Ich fand das sehr gut, nochmals danke!

Dann zum Wahlergebnis im allgemeinen: Ich möchte euch Zahlen vorlesen, wie sie in den gängigen Auswertungen nicht stehen. Ich fange einmal hinten an, bei den kleinen Parteien. Die FDP erhielt stadtweit 2,8 %, die Reps 5 %, Bündnis 90 5,2 %, da nur im Osten, die AL 8,1 %, die PDS 11,3 %, die CDU 16,5 %, die SPD 19,08 %. Das ist, ihr werdet es unschwer erraten können ‑ die Zahlen überschlagen, zum Teil zwei Stellen hinter dem Komma ‑, das Wahlergebnis, wenn man es auf alle Wählerinnen und Wähler umrechnet; denn bekanntlich haben wir einen erklecklichen Anteil an Nichtwählerinnen und Nichtwählern gehabt. Ein solches Ergebnis mal so eben en passant im einleitenden Beitrag zu kommentieren, halte ich schon für ziemlich gewagt. Denn ich finde, ein solches Ergebnis, dass es die große Koalition offenbar nicht schafft, zumindest mehr Stimmen zu versammeln als die Nichtwählerinnen und Nichtwähler, ist eine schallende Ohrfeige, größer kann sie kaum ausfallen. Ich weiß nicht, was man noch erwarten will.

Wir werden von einer Minderheit regiert, und die Mehrheit schweigt; sie hat auch nichts zu sagen. Das ist meines Erachtens keine psychische Macke. Sie fühlen sich nicht nur nicht vertreten, sie denken nicht nur, wir werden da irgendwie ständig übergangen, sondern sie werden es zum großen Teil wirklich. Es ist nicht nur ihr Gefühl; es geht nicht darum, ihnen ein besseres Gefühl zu verschaffen, sondern es geht darum, sie real zu vertreten.

Wenn z. B. gefragt wird ‑ wie eben von Ika Klar ‑: Wo ist denn eure Partei?, so ist diese Frage nicht ganz unberechtigt. Anders herum gesagt: Dann sollte man eben z. B. auch in die Mietervereine hineingehen. Wenn man sagt, andere Parteien sitzen dick darin, dann sollte man vielleicht selbst hineingehen und als Sozialdemokratin/Sozialdemokrat dort sich hinstellen und deutlich machen, dass man die Interessen derjenigen, in dem Fall z. B. der Mieterinnen und Mieter, vertritt, sich nicht beschweren, dass das andere machen und sich weinerlich in die Ecke stellen.

Ein kleines Beispiel aus Kreuzberg, da hatte diese KPDRZ kandidiert ‑ da steht nicht etwa „K“ für kommunistisch, sondern das heißt „Kreuzberger patriotische Demokraten realistisches Zentrum“. Dieses  Namenskonglomerat ist eigentlich genauso wie das ganze Programm. Es gab z. B. die Forderung: Rauchverbot in Einbahnstraßen, eine weitere Forderung war das Verbot des Tragens von runden Brillen für Sozialdemokraten. Man könnte eigentlich sagen, das ist eine Partei für Nichtwählerinnen und Nichtwähler. Sie hat aber immerhin in zwei Stimmbezirken ‑ wohlgemerkt nicht Wahlkreisen, sondern Stimmbezirken ‑ etwas über 15 %, glaube ich, gekriegt. Auch das ist immerhin ein kleines Schlaglicht. Man sollte es nicht überbewerten, aber es ist ein kleines Schlaglicht, was diese objektive Nichtvertretung von Menschen für Auswirkungen hat. Dann suchen die sich nämlich irgend welchen anderen Wege, und dieser Weg der KPDRZ ist mit Sicherheit noch der harmloseste bei den letzten Wahlen.

Ich finde auch, dass Nichtwählen keine modische Attitüde ist, wie es Walter vorhin gesagt hat. Nichtwähler zu politischen Idioten zu stempeln, statt sich an die eigene Nase zu fassen, halte ich einfach für ein bisschen dünn.

Genauso seltsam finde ich die Auswertung bezüglich der Reps: 8,3 % als Normallfall der Demokratie zu erklären, finde ich ‑ in den Reihen der SPD ‑ geradezu abenteuerlich und auch sehr fahrlässig. Wenn man sich das Programm anguckt ‑ ich weiß, das machen die Leute, die das Kreuzchen da machen, nicht ‑, ist das schlicht und ergreifend eine rassistische Partei, eine frauenfeindliche Partei, eine gewerkschaftsfeindliche Partei. Da haben wir wirklich allen Anlass, ein bisschen mehr zu machen als zu sagen, der Rechtsruck ist gestoppt, und da brauchen wir uns eigentlich keine Sorgen mehr zu machen. Ich denke, wir haben allen Anlass, uns da Sorgen zu machen.

(Vereinzelter Beifall)

Eine ganze Reihe von Punkten sind dazu schon gesagt worden, darum kann ich auf die Redebeiträge vor allem der Frauen dazu verweisen. Es ist auf die Glaubwürdigkeitslücke verwiesen worden auch bezüglich unserer Partei, und es ist verwiesen worden auf die Ängste und enttäuschten Hoffnungen, und zwar in Ost und West. Auch im Westen müssen wir sehen ‑ es geht zum ersten Mal, seit mehreren Jahrzehnten, kann man sagen, für viele im Westen bergab ‑, wie wenig Handlungsmöglichkeiten die Menschen hier haben ‑ sowohl in den Parteien, da können wir auf unseren eigenen Laden gucken, als auch z. B. über die Gewerkschaften, das haben die letzten Tarifverhandlungen gezeigt. Ich denke, da haben wir wirklich genug vor uns, nun wieder glaubwürdig zu werden, und zwar nicht nur durch Imagepflege, sondern durch ganz reale Politik.

(Vereinzelter Beifall)

Präs. Michael   E l z e   : Nunmehr ist der Kollege Thomas Krüger aus Lichtenberg an der Reihe!

Thomas   K r ü g e r   (Lichtenberg): Genossinnen und Genossen! Ich denke, dass es überhaupt nichts hilft: Dieses Wahlergebnis ist alles andere als ein Erfolg für die SPD. Die SPD hat nicht gewonnen. Im Verhältnis zum Desaster 1990 haben wir nur anderthalb Punkte zulegen können. Das ist vielleicht weniger desaströs, aber es ist immer noch desaströs. Das Ergebnis spiegelt ein tiefes Gefälle in dieser Stadt wider, und es nimmt unsere Partei deshalb in die Pflicht. Man kriegt dieses Gefälle nur weg, wenn man sich diesem Gefälle stellt. Die Partei selbst hat ein Gefälle: Im Westteil der Stadt gibt es zehnmal so viele Mitglieder als im Ostteil der Stadt. Die Debatten haben ein Gefälle in dieser Stadt: Die Lebensläufe sind unterschiedlich, deshalb gehen die Debatten auch in unterschiedliche Richtungen. Und auch der Haushalt hat trotz großer Bemühungen immer noch ein Gefälle.

Die SPD ‑ hat Walter Momper gesagt ‑ ist zwar die Berlin‑Partei, ich sage aber, sie muss es erst noch werden.

(Vereinzelter Beifall)

Ich denke, das erfolgt nur, wenn wir uns als Partei über die politische Situation in dieser Stadt klarwerden. Wir haben es mit zwei konservativen Parteien zu tun: der konservativen CDU im Westteil der Stadt und der konservativen PDS im Ostteil der Stadt. Die CDU ist mit den 14 % im Ostteil der Stadt nicht   d i e   konservative Kraft, das ist die PDS.

Die Sozialdemokraten müssen auf dem Berlin‑Bild einer offenen Stadt bestehen. In der letzten Senatssitzung ist dieses durch den Koalitionspartner für mich in empfindlicher Weise gestört worden. Wir hatten zwei Punkte: Das eine war die Frage, ob Homosexuelle im Rahmen des Sexualkundeunterrichts in Berliner Schulen, wenn die Lehrer und die Eltern dies wünschen, auftreten dürfen. Es wurde an dieser Position herumgemosert in einer Art und Weise, die vormodern ist                             (Vereinzelter Beifall)

Das zweite: Wir haben anderthalb Stunden über die Frage geredet, wie mit den Hütchenspielern umzugehen ist und nur eine halbe Stunde über die Ergebnisse der Föderalismuskommission, die dazu führt, dass viele tausend Arbeitsplätze in Berlin wegfallen werden. Das geht so nicht weiter!

(Vereinzelter Beifall)

Wir Sozialdemokraten müssen in der öffentlichen Debatte deutlicher machen als bisher, dass wir auf einer offenen Stadt bestehen, auf einer Stadt, die Reformen braucht, und auf einer Stadt, die eine öffentliche Auseinandersetzung um diese Offenheit bestehen muss.

Die PDS ‑ habe ich schon gesagt ‑ ist für meine Begriffe eine konservative Partei. Ihre Hauptwählerschaft besteht aus einem Sockel aus dem Bereich der Wissenschaft, der Apparate, aber ‑ Utta hat völlig recht ‑ auch aus Protestwählern. Sie ist deshalb nicht nur zu vergleichen mit dem Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten, der einige Zeit in der alten Bundesrepublik existiert hat und dann vom Erdboden verschwand, sondern hier gibt es Signale an die großen Parteien in dieser Stadt. Diese Signale besagen, dass wir mindestens 30 % der Wähler im Ostteil der Stadt offenbar bisher noch nicht erreicht haben ‑ als große Parteien.

(Beifall)

Dieses ist ein Signal, darauf muss man politisch reagieren, auch mit neuen innerparteilichen Strukturen in der öffentlichen Debatte. 30 %, das ist zuviel. Wir müssen darüber nachdenken, wie wir uns in unseren Diskussionen, in unseren Fachausschüssen diesen 30 % öffnen, nicht nur den Mitgliedern der PDS, sondern vor allen Dingen auch den Wählern.

Die SPD als Partei hat zur Wahl gestanden, muss zu dem Wahlergebnis stehen. Sie muss deshalb, denke ich, die Diskussion um dieses Wahlergebnis auch offensiv fortführen. ‑ Vielen Dank!

(Beifall)

Präs. Michael   E l z e   : Nunmehr hat Ingrid Holzhüter, Tempelhof, das Wort!

Ingrid   H o l z h ü t e r   (Tempelhof): Zuerst muss ich mich entschuldigen, wenn ich mich jetzt vielleicht in einigen Dingen wiederhole. Ich bin im Dienstleistungsgewerbe tätig, und da hat man Freitags nicht mittags Feierabend.

(Vereinzelter Beifall)

Wenn ich mir dieses Szenario ansehe, dann würde ich sagen: von leblos bis unlustig ‑ und so war es leider auch im Wahlkampf!

(Vereinzelter Beifall)

Wenn ein Patient zu einem Arzt geht und über Depressionen klagt, dann wird der Arzt ihm früher oder später sagen: Lernen Sie, sich selbst zu lieben, dann werden Sie auch die anderen lieben. ‑ Das ist das, was unserer Partei in letzter Zeit im Wesentlichen abgeht: Wir verschwenden unsere Kräfte damit, über unseren Zustand zu weinen, uns gegenseitig zu beschimpfen, dabei natürlich immer den anderen mehr als sich selbst, und dann am Ende sucht jeder auch die Schuld bei dem oder der anderen. Das langweilt und ärgert mich seit geraumer Zeit, und ich will euch das hier einfach noch einmal sagen, auch auf die Gefahr hin, dass ihr mich dann alle nicht mehr mögt. Es ist wirklich kein Zustand, dass sich hier jeder und jede hinter irgendwelchen anderen versteckt und dem immer die Schuld gibt an dem, was hätte sein können und was nicht ist. Das, wie gesagt, leblos und lustlos. Auch hier entdecke ich nicht die überschäumende Lebensfreude ‑ vielleicht nach dem Ergebnis verständlich ‑, aber der Kampfeswille sollte sich vielleicht doch etwas Deutlicher dartun.

Ich denke in dem Zusammenhang an mich selbst, wie viele Veranstaltungen ich besuche und wo die SPD im Wesentlichen unter sich ist: angefangen vom Senat bis ins Abgeordnetenhaus. Ich will hier die Kita‑Problematik ansprechen, in der wir wirklich eine Meinungsführungsrolle übernommen haben. Ich will hier sagen, dass in dieser Stadt die ABM mit Frauen besetzt sind, wie es nirgendwo in den neuen Bundesländern geschieht. Bei uns ist nicht die Frage, ob sich Frauen sterilisieren lassen, um einen Arbeitsplatz zu kriegen, sondern hier wird von der Politik versucht, die Frauen zu beteiligen. So etwas kann man ruhig einmal als Erfolg verkaufen und muss nicht immer nur weinen.

In dieser Stadt sind andere Koalitionen abgewählt worden als Rot‑Schwarz. Hier ist die SPD abgewählt worden, hier ist die SPD mit der FDP abgewählt worden, hier ist die CDU mit der FDP abgewählt worden, hier ist Rot‑Grün abgewählt worden. Bitte, tut nicht so, als ob die große Koalition nun an allem hier die Schuld trägt. Die Unzufriedenheit der Menschen hat viele Ursachen. Da sollte man es sich nicht so leicht machen und sie immer nur an dieser Stelle suchen.

Dass die Wahlen im Osten zu Teilen zu Gunsten der PDS ausgefallen sind, hat vielleicht auch noch einen anderen Hintergrund. Wir müssen endlich einmal anfangen anzuerkennen, dass die Menschen im anderen Teil unserer Stadt, im anderen Teil unseres Landes gearbeitet und Leistung erbracht haben. Das tut die SPD nicht genug. Ich denke, dass es die PDS im Wesentlichen ist, die den Leuten auch das Gefühl gibt, dass sie 40 Jahre nicht umsonst gelebt und gearbeitet haben. Vielleicht müssen wir uns auch da einmal überprüfen, nicht nur die der Witzemacher, sondern auch unsere eigene Haltung zu den Bürgerinnen und Bürgern aus dem anderen Teil dieser Stadt, aus dem anderen Teil dieses Landes. Vielleicht kann man über Identifikation auch Stimmen erlangen. ‑ Ich danke euch!

(Beifall)

Präs. Michael   E l z e   : Bevor ich dem nächsten Redner das Wort erteile, eine Durchsage: Bisher hat die Spendenaktion für die leukämiegeschädigten Kinder 1 987,87 DM erbracht.

(Vereinzelter Beifall)

Ich schlage vor, dass die Spendenaktion, weil auch nicht jeder im Raum war, noch nicht ganz beendet ist. Wer noch nicht die Gelegenheit hatte, zu spenden, kann das, bitte, hier vorn links, vom Präsidium aus, am Ausgang noch tun. Ich danke euch!

Nunmehr hat der Genosse Ralf Hillenberg aus Weißensee das Wort!

Ralf   H i l l e n b e r g   (Weißensee): Genossinnen und Genossen! Es trifft mich etwas unvorbereitet, dass ich jetzt schon an der Reihe bin. Eigentlich wollte ich euch nur sagen ‑ wer mich kennt, der weiß das ‑: Ich bin einer, der immer genau das sagt, was er denkt. Das ist nicht immer gerade sehr bequem, viele ärgern sich darüber, aber auch heute will ich mit Kritik nicht sparen.

Erster Punkt: Hier ist viel über die große Koalition gesprochen worden ‑ natürlich immer dagegen. Ich persönlich liebe die große Koalition auch nicht, aber ich möchte euch daran erinnern, wie die Wahl vor zwei Jahren ausgegangen ist. Was hatten wir eigentlich für eine Alternative, frage ich euch. Sollten wir mit der PDS zusammengehen? Sollten wir mit den Leuten zusammengehen und versuchen, hier etwas auf die Beine zu stellen? Sollten wir eine Minderheitsregierung dulden? Sollte das Politik sein, die praktisch, die zum Anfassen ist? Was glaubt ihr, was da passiert wäre? Da wäre auf der Strecke überhaupt nichts passiert!

Gut, es kommt nicht viel dabei heraus. Das sehe ich auch so, da bin ich auch unzufrieden. Wenn ich mir überlege, was wir auf die Beine stellen wollen: Tempo 30, höre ich jeden Tag, Busspuren, Brandenburger Tor auf, Brandenburger Tor zu. Das stinkt mich persönlich genauso an; ich bin damit nicht zufrieden, überhaupt nicht. Mir wäre viel lieber, wir würden über Arbeitsplätze sprechen, über den weiteren Ausbau von Arbeitsbeschaffungsmaßnahen, damit wir etwas in diese Richtung bewegen. Das ist zuwenig. Aber ich frage euch nochmals: Was haben wir hier in Berlin für eine politische Alternative nach diesem Wahlergebnis? Wir hätten Neuwahlen haben können; ich glaube nicht, dass das die Wähler wollten, denken wir an die Wahlbeteiligung bei der letzten Kommunalwahl. Wenn wir in einem Jahr wieder eine Wahl auf die Beine zu stellen versuchen, werden wir eine Backpfeife bekommen, an die wir alle noch lange denken werden.

Als zweiten Punkt möchte ich die Ehrlichkeit ansprechen. Was ist das für eine Ehrlichkeit, wo wir alle wissen, wir brauchen in dieser Stadt Wohnungen? Es gibt hier Wohungssuchende noch und nöcher, es werden immer mehr. Wir haben keine Wohnungen, der Wohnungsbau stagniert, es gibt im Augenblick Probleme. Dann gibt es die Bezirke, die sagen: Also, Wohnungen, vollkommen klar, die müssen wir bauen ‑ aber nicht in der John‑Locke‑Siedlung, nicht in Tempelhof. Wir hatten letztens im Petitionsausschuss den Herrn Krüger da, den Bürgermeister. Der sagte: Na klar, brauchen wir, sehen wir alles ein, aber nicht hier! Ich frage euch: Was ist denn das für eine Ehrlichkeit? Die SPD sitzt in den Bezirken, die SPD sitzt im Senat, und beide sprechen gegeneinander. Kann das denn sein? Das ist doch nicht in Ordnung.

Ich will euch mal etwas sagen: Wir in Weißensee ‑ ihr kennt das Wahlergebnis, ich bin und kann darauf auch stolz sein ‑ leben in einer Region, in der im Augenblick 10 000 Menschen wohnen. Das ist sehr, sehr wenig. Wir werden zur Jahrtausendwende dort 70 000 sein, und ich sage euch: Ich bin dafür, weil wir Wohnungssuchende haben, weil diese Leute eine Wohnung haben müssen und weil die Infrastruktur in dieser Region dermaßen unterentwickelt ist. Dass wir diese nicht zum Nulltarif kriegen können, ist vollkommen klar. Wir können nicht nur verlangen: Wir hätten gern ein Kino; wir hätten gern ein Theater; wir hätten gern die Kanalisation. Aber Wohnungen? Nein, lasst mal gut sein, so wie wir da wohnen, 10 000, schön im Grünen, schöne Einfamilienhäuser ‑ das kann nicht meine Politik sein! Ich bitte euch darum, auch in den Bezirken einmal darüber nachzudenken: Bauen, aber nicht vor meiner Haustür, ist meines Erachtens ein falsches Verhalten.

(Vereinzelter Beifall)

Drittens zur PDS: Das Wahlergebnis der PDS ist natürlich für mich auch erschreckend. Aber das Erschrecken ist das eine, und versuchen, Gründe zu finden, ist das andere. Ich war vor einem halben Jahr, als es darum ging, ob wir politische Rathäuser so wie vor zwei Jahren bilden sollten, ein vehementer Befürworter für die politischen Rathäuser in den Bezirken, weil ich gesehen habe, was da kommt. Die Meinung, die damals vorherrschte, na, die PDS wird sich von ganz allein abwirtschaften, hat sich eben nicht bewahrheitet. Nun werde ich euch auch einen Grund sagen, weshalb: Weil die Menschen im Ostteil dieser Stadt kein Vertrauen haben, weder zu der SPD noch zu der CDU, weil sie sich als Menschen zweiter Klasse behandelt fühlen. Sie sehen also eine große Alternative in der PDS, die immer wieder offen ihre Politik und ihre Interessen vertritt. Wir tun es nicht in dem Maß, wie das die PDS tut, und das ist unser entscheidender Fehler.

(Beifall)

Ich bringe euch ein praktisches Beispiel dafür, was mir neulich im Petitionsausschuss des Abgeordnetenhauses aufgekommen ist: Da schrieb jemand, er hätte eine Fachschulausbildung im Bauwesen und möchte jetzt ein Hochschulstudium absolvieren ‑ ich erzähle das eigentlich mehr für die Westler, denn im Osten dürfte das bekannt sein ‑, und er hat damit nicht die Hochschulreife für ein konstruktives Ingenieurbaustudium. Als Fachschulingenieur hat er sie eben nicht. Ich persönlich habe nur das reine Abitur gemacht, hatte also von Grundlagen im Bauwesen überhaupt keine Ahnung und konnte studieren, was ich wollte. Es ist doch wirklich schizophren: In der ehemaligen DDR konnten diese Leute studieren und waren in der Regel ‑ da spreche ich aus Erfahrung ‑ auch besser als die reinen Abiturienten, weil sie praktische Erfahrungen hatten, und nach der neuen Gesetzgebung geht das nicht. Da muss man etwas tun. Wenn derjenige, nach dieser Ablehnung, PDS wählt, kann ich ihn verstehen. Wir müssen etwas auf die Beine bringen. Wir müssen versuchen, das Gute, was gewesen ist in der DDR, uns zu eigen zu machen und versuchen, es den Bürgern rüberzubringen.

Noch etwas: Ehrlichkeit, auch wenn sie wehtut, ist mein oberstes Ziel. Die 39,3 % in Weißensee sind der beste Beweis dafür. ‑ Ich danke euch!

(Beifall)

Präs. Michael   E l z e   : Nunmehr hat der Genosse Christian Handke das Wort!

Christian   H a n k e   (Wedding): Liebe Genossinnen und Genossen! Lieber Walter! Ich empfand es heute so, dass deine Rede, die du gehalten hast, merkwürdig farblos war und auch merkwürdig wenig Selbstkritisches aufzuzeigen hatte.

(Beifall)

Das verwundert mich deshalb, weil all die Reden, die ich vorher von dir auf den Landesparteitagen gehört habe, eine andere Tendenz hatten, auch viel kämpferischer waren als die Rede heute. Ich komme nicht umhin, für mich das Resümee zu ziehen, dass das keine Rede des Berliner Parteivorsitzenden war, sondern das war eine, die die große Koalition rechtfertigen sollte, und zwar rechtfertigen sollte, indem sie Schaden abwendet von der SPD und ‑ so habe ich das empfunden ‑ von der CDU, indem als der große Verlierer dieser Berliner Kommunalwahl nicht wir, nicht die Berliner CDU, sondern Bundeskanzler Kohl hingestellt wurde.

Ich denke, dass wir ‑ bevor wir diesen globalen Schritt machen ‑ erst einmal einen Blick auf uns werfen sollten. Das heißt für mich folgendes, nämlich die Aussage, dass das Wahlergebnis und die Wahlbeteiligung für uns überhaupt nicht zufriedenstellend sein können, sondern dass sie ‑ absolut gesehen ‑ katastrophal sind. Sie sollten für uns ein Zeichen sein, dass irgendetwas in dem Verhältnis der Bürger zu den großen Volksparteien nicht stimmt. Ich benutze bewusst nicht den Begriff „etablierte Parteien“, weil das immer den Geruch hat, als ob die Republikaner wirklich etwas Neues, Fortschrittliches wären. Das sind sie natürlich nicht; sie sind etablierter als wir. Dass an dem Verhältnis Parteien, Volksparteien, und Bürger etwas nicht stimmt, heißt, dass die Kommunikation ‑ das Gespräch, der Dialog zwischen beiden ‑ an irgendeiner Stelle nicht funktioniert. Das ist eine Sache, die wir ernsthafter und tiefgehender überlegen sollten.

Dass die Bezirkspolitik nicht das Thema dieser Wahl war, ist schon von Vorrednern und Vorrednerinnen festgestellt worden. Ich muss es trotzdem noch einmal anführen, denn die meisten Bezirkswahlprogramme waren sehr gut, und auch personell haben wir in vielen Bezirken viel bessere Alternativen als die anderen Parteien aufstellen können. Es war also eine Wahl nicht nur über Kohl, sondern auch über die Landespolitik.

An der Stelle ‑ aus Bezirkssicht ‑ komme ich nicht umhin zu sagen, dass die Politik des Landesverbandes und seine Öffentlichkeitsarbeit in den letzten Jahren mangelhaft war ‑ bei all den kleineren Aktionen, die wir hatten. Sie war deshalb mangelhaft, weil sich die Unterstützung für die Bezirke nur auf den eigentlichen Kommunalwahlkampf begrenzte und uns hier auch nur ein sehr begrenztes Instrumentarium zur Verfügung stellte, um Wahlkampf zu machen. Sie war deshalb auch ungenügend, weil es eben nicht reicht, nur in einer kurzen Phase Sympathiewahlkampf zu machen, sondern man muss über längere Zeit präsent sein, Öffentlichkeitsarbeit machen in der Hinsicht, dass man versucht, mit den Bürgern über eigene politische Vorstellungen zu diskutieren.

Die Komplexität der Probleme, die wir in Berlin haben, Walter, ist auch in deinem Referat zutreffend angesprochen worden. Nur, wir müssen eben feststellen, dass wir offensichtlich den Bürgern keine Lösung für die Probleme vermitteln können, die alle, in den unterschiedlichsten Arten und Weisen, erfahren. Dass diese Wahlen ein Ausdruck für eine soziale Krise sind, ist völlig zutreffend. Das bedeutet für uns und muss die Konsequenz haben, dass die SPD stärker als bisher auch Lösungsansätze aufzeigt. Ich sage: Entweder schafft es unsere Partei in dieser großen Koalition, endlich zu Entscheidungen zu kommen und Politik wirklich zu gestalten und nicht nur zu verwalten, oder ‑ ich setze eine Frist von einem Jahr ‑ wir müssen in einem Jahr entscheiden: Wir gehen aus dieser großen Koalition heraus, um endlich wieder eine richtige Oppositionsrolle zu spielen. Die Oppositionsrolle muss in Berlin gespielt werden, wenn der Senat nicht in der Lage ist, Entscheidungen zu treffen.

Die oberste Leitlinie für die nächsten zwei, drei Jahre muss sein, wieder das Gespräch mit dem Bürger zu finden, unsere Politik zu vermitteln und die Sorgen der Menschen aufzunehmen. Wir sollten uns an die Kampagnefähigkeit, die unsere Partei im Vorlauf zu 1989 hatte, erinnern und das, was Wolfgang Nagel damals gemacht hat, übernehmen und wieder initiieren, um unsere politischen Inhalte an die Bürger zu bringen.

(Beifall ‑ Zuruf: Bravo!)

Präs. Michael   E l z e   : Der nächste Redner ist der Genosse Heiko Mau.

Heiko   M a u   (Wilmersdorf): Genossinnen und Genossen! Ich will versuchen, diesem Wahlergebnis auch einen anderen Aspekt abzugewinnen, weil es mich zum Teil gestört hat, wie hier dieses Wahlergebnis als Einzelfall oder als eine Art „Sonderfall Berlin“ dargestellt wurde. Ich denke, an ein Wahlergebnis, wie wir es in Berlin bei diesen Wahlen erhalten haben, werden wir uns gewöhnen müssen. Ein solches Wahlergebnis ist Ausdruck einer Entwicklung, die diese Gesellschaft gemacht hat, die sie natürlich in Berlin durch die überwundene Teilung bzw. durch das Zusammenwachsen Berlins beschleunigt macht. Wir müssen endlich zur Kenntnis nehmen, dass die Zeiten vorbei sind, in denen die großen Parteien ‑ CDU und SPD etwa als selbsternannte Volksparteien ‑ ca. 80 % der Wahlbevölkerung einbinden konnten. Es hat keinen Sinn, so wie Walter es am Schluss seiner Rede gemacht hat, hier eine 50er‑Jahre‑Nostalgie zu beschwören.

Ich denke, dass wir zur Kenntnis nehmen müssen, dass sich diese Gesellschaft verändert hat. Das hat etwas mit Individualisierung und mit dem Wegbrechen sozialer Milieus zu tun, und das wirkt sich natürlich auch auf die politische Landschaft aus. Es wird in Zukunft mehr kleine Parteien geben, sie werden auch eine wichtige Rolle in unserem politischen System spielen, und das müssen wir endlich zur Kenntnis nehmen.

In so einer Situation steht die SPD dann allerdings am Scheideweg, und das ist genau das, worum es eigentlich auf diesem Parteitag und worum es in der Diskussion in der Partei auch bundesweit gehen müsste: Wir stehen vor der Wahl, ob wir uns entscheiden dafür, wirklich unsere unsere Politikinhalte und unsere Strategien ernst zu nehmen und uns Bündnispartnerinnen und Bündnispartner zu suchen, innerhalb und außerhalb der Parlamente, in denen wir sozialdemokratische Politik, mit denen wir eine linke Reformpolitik in dieser Gesellschaft durchsetzen wollen, oder ob wir ‑ und das ist die Entscheidung, die in Berlin vor einem Jahr so gefallen ist und die Entscheidung, die sich in einigen Bezirken, das höre ich zumindest heraus, auch wieder ein bisschen abzeichnet und mit der auch auf Bundesebene spekuliert wird ‑, uns darauf einlassen, uns darauf zu verlassen, dass etwa 60 % immer CDU und SPD wählen, dass wir uns da auf die Koalition mit der CDU einlassen ‑ was zwar mit unseren politischen Inhalten nichts zu tun hat, was aber zumindest für die Pfründesicherung und auch für eine gewisse Stabilität, wie es einige hier gewöhnt sind, durchaus von Vorteil sein kann.

Wenn wir uns dafür entscheiden, bedeutet das, dass Wahlen in Zukunft kaum noch eine Rolle spielen werden. Große Koalitionen bewirken nämlich auch, dass im Grunde genommen die Wahlergebnisse irrelevant sind. Es ist irrelevant, ob die eine Partei fünf Prozent verliert oder gewinnt, das wirkt sich an der Stelle nicht auf die Regierungsbildung aus, sondern lediglich auf die Frage, wer bekommt einen Senator oder einen Stadtrat mehr oder weniger.

Genossinnen und Genossen! Wir müssen dahin zurückkommen, unsere Politik ernst zu nehmen und uns Bündnispartner und Bündnispartnerinnen für unsere Politik zu suchen und nicht, wie es zur Zeit in Berlin in der großen Koalition abläuft, im Grunde genommen vor sich hin zu filzen und politisch überhaupt nichts zu bewirken. Zu der Wirkungskraft der großen Koalition verweise ich nur auf die „Berliner Stimme“, die heute hier verteilt wurde, auf den Comic von der Genossin Inge. Ich denke, dem ist kaum noch etwas hinzuzufügen.

Ich plädiere für einen Einstieg in den Ausstieg aus der großen Koalition: Lasst uns unsere Politik ernst nehmen, und lasst uns rausgehen aus dieser Koalition, um in dieser Stadt endlich wieder Politik zu machen!

(Beifall)

Präs. Michael   E l z e   : Nunmehr hat der Genosse Udo Eisner aus Friedrichshain das Wort!

Udo   E i s n e r   (Friedrichshain): Liebe Genossinnen und Genossen! Es fällt einem wirklich schwer, den Gedankenkurven unseres Vorsitzenden zu folgen. Die stärkste politische Kraft in dieser Stadt wurde von 19,5 % der wahlberechtigten Bürger gewählt ‑ man stelle sich vor: 19,5 %! Wir erinnern uns an Zeiten, da wurde die SPD von 30 % und 40 % der wahlberechtigten Bürger gewählt. Die stärkste politische Kraft sind die Nichtwähler. Die Parteiverdrossenheit ist hausgemacht und hat ihre Ursache in dem Bild, das wir nach außen abgeben.

Der Satz, wir müssten die Probleme der Bürger, die die Radikalen wählen, aufnehmen und verstehen, geistert schon seit einigen Jahren durch die Parteitagsreden. Konsequenzen wurden nicht gezogen. Nur darauf zu verweisen, dass in Bonn die Verursacher sitzen, ist gefährlich. Alle Parteigrößen, alle demokratischen Parteien verweisen bei Verlusten immer auf die andere Ebene und nicht auf sich selbst. Sie beschäftigen sich weiter mit sich selbst, und sie beschäftigen sich mit ihren inneren Problemen. Halten wir die Wähler für unmündig, und interpretieren wir die Ergebnisse immer weiter im Hinblick auf die anderen, oder versuchen wir, die Probleme in unserem eigenen Haus zu suchen? Die Wähler konnten sehr wohl zwischen Bundestagswahl und Kommunalwahl unterscheiden: siehe Wahlbeteiligung. Fragen wir uns, wie wir beim Wähler erscheinen: Meint der Wähler, es gebe bei uns Eifersüchteleien, Selbstdarstellungssucht und Postenjägerei? Oder hat der Wähler das Gefühl, zu wenig ernst genommen zu werden? Sind wir nur noch die Partei des öffentlichen Dienstes und dienen zur Verteilung von Posten, oder kümmern wir uns wirklich um die Probleme im Kiez?

Es gilt, die Partei ‑ wie oft von der Basis gefordert ‑ zu organisieren und nicht zu steuern. Konrad Elmer hat dazu vor Monaten Vorschläge unterbreitet, die meines Wissens bis dato nicht ernsthaft diskutiert wurden.

Wenn wir schon nach Bonn schauen, dann möchte ich euch bitten, ganz sensibel mit den dortigen Signalen umzugehen. Sie stehen nach meiner Meinung auf große Koalition, zwar noch nicht auf grün, aber auf gelb. Man ziert sich noch und zappelt, aber, wie ich befürchte, ist die große Koalition für den Herbst schon programmiert.

Nun noch einen Satz zum MfS. Ich wundere mich über die Selbstdisziplin, die wir geübt haben, als der Hinweis kam: Wartet, bitte schön, bis unser Genosse Thierse dieses Thema aufgreift. Ach, du liebe SPD, wir üben uns schon wieder in Selbstdisziplin, trauen uns nicht, unsere Meinung dann zu sagen, wenn wir meinen, es ist richtig. Ich möchte mich auch zu dem Thema melden und die ganze Verstrickung, die darin steckt, noch mal beleuchten.

Lieber Walter, ich habe den dialektischen Trick im Falle Marlitt Köhnke auf Rechtsstaatlichkeit durchschaut und halte ihn für übel. Im Falle IM und MfS gilt nicht der Grundsatz: Wenn es nicht rauskommt, dass ich Täter war, bin ich keiner.

(Vereinzelter Beifall)

Jeder, der in die SPD eingetreten ist, hatte sich zu erklären, dass er nicht in der SED war und nicht für das MfS gearbeitet hat. Es war im Fall Marlitt Köhnke noch schlimmer: Das war nicht nur Wählertäuschung, es war Täuschung der eigenen Genossen!

(Beifall)

Marlitt Köhnke habe ich als äußerst selbstbewusste Frau kennengelernt. Ich nehme es ihr nicht ab, dass sie sich nicht getraut und vieles vergessen habe. Sprecht mit den Bürgern, was sie dazu meinen. Viele sagen: Bei den nächsten Wahlen wähle ich euch nicht mehr; ich wähle PDS, da weiß man, was man hat, bei euch nicht.

(Vereinzelter Beifall)

Noch eines: Der Bürgermeister eines Bezirks ist gleichzeitig Leiter der Abteilung Personal und Verwaltung. Welch eine Konstellation: Ein IM entscheidet über die politische Sauberkeit im Bezirksamt!

(Beifall)

Jeder Mitarbeiter im öffentlichen Dienst musste eine Ehrenerklärung unterschreiben. In allen Bereichen des öffentlichen Dienstes und der Eigenbetriebe wurden die IM entfernt. Was für den kleinsten Postschaffner, Pförtner und Straßenfeger gilt, gilt auch für Bürgermeister!

Präs. Michael   E l z e   : Lieber Genosse Eisner, komme jetzt bitte zum Schluss, du hast deine Redezeit weit überschritten.

Udo   E i s n e r   (Friedrichshain): ‑ Ich bin gleich fertig.

Ich fordere alle Kreisverbände auf: Legt es offen, wenn IMs in euren Reihen sind! Ich hoffe, dass sich die Kreisverbände, die es betrifft, die Jacke anziehen. Eine Zeitbombe reicht! Wenn wir in dieser Partei das leidige Thema MfS endlich loswerden wollen ‑ und das gehört auch zum Ausmisten ‑, dann bitte ich, meinem Vorschlag zu folgen: Alle Amtsträger, West wie Ost, werden auf ihre Tätigkeit für das MfS überprüft! ‑ Bis zur nächsten Wahl sind zwei Jahre Zeit. ‑ Danke schön!

(Beifall)

Präs. Michael   E l z e   : Erstens, macht es uns vom Präsidium, bitte, nicht so schwer. Wir müssen versuchen, dass jeder seine Redezeit einhält, denn sonst beschwören wir eine uferlose Debatte herauf.

Das zweite ist: Wir haben uns am Anfang darauf verständigt, dass wir diese Problematik, die angesprochen worden ist, erst einmal aus der Debatte herauslassen. Wenn jemand dagegen gewesen wäre, hätte er dazu etwas sagen können.

Drittens ist sich das Präsidium nach wie vor einig darüber, dass wir erst einmal die Wortmeldungen, die sich allgemein mit den Kommunalwahlen, mit der Debatte beschäftigen, beenden und dann den Problemfall aufgreifen. Ich hoffe, dass ihr auch damit einverstanden seid und bitte, dass die jetzt noch vorhandenen vier Wortmeldungen abgewickelt werden und dass wir dann in die von euch gespannt erwartete Debatte eingreifen. Oder seid ihr nicht damit einverstanden?

(Zurufe: Nein!)

Damit wir eine ruhige Debatte fortführen können, will ich noch einmal sagen: Ich habe vier Wortmeldungen: von Evelyn Neumann, Manfred Meißner, Carl Chung und von Wolfgang Nagel. Nun lasst doch diese jetzt, bitte, noch das Wort ergreifen, und dann können wir in die andere Problematik einsteigen. Jetzt kommt noch Klaus‑Uwe Benneter vom Landesvorstand mit einer Wortmeldung. ‑ Ich rufe jetzt auf: Evelyn Neumann.

Evelyn   N e u m a n n   (Tempelhof): Liebe Genossinnen und Genossen! Ich bin nicht bereit, mich auf Dauer auf 30 % einzustellen!

(Beifall)

Ich bin in diese Partei eingetreten, um in und mit der Partei Politik zu machen, um mich nicht auf Dauer auf Kompromisse, teilweise fauler Art, einzustellen. Aus diesem Grund können wir auch nicht auf Dauer auf 30 % hinarbeiten. Denn 30 % heißt eben, wir können nicht allein die Regierung stellen, das geht nicht. Hier sind teilweise die Forderungen gestellt worden: einmal, machen wir 30 %, das reicht; gleichzeitig wollen wir keine große Koalition. Wie soll das in der Praxis aussehen? Ich strebe weiterhin an, dass wir die Politik bestimmen können, und dazu müssen wir als erstes mindestens 40 % anstreben. Wir wollen langsam, Schritt für Schritt, ‑ ‑

(Zuruf von Walter Momper)

‑ Gut, Genosse Momper will gleich 50 %.

Ich finde als Nahziel 40 %, wie es Ditmar Staffelt gesagt hat, realistisch, und wir müssen das auch wollen! Alles andere heißt, dass wir wirklich zur Restpartei verkommen und auf Dauer immer nur gucken, mit wem wir zusammengehen ‑ mal CDU oder noch zwei kleine Parteien. Da bleibt nicht so viel übrig. Mit der PDS wollen wir nicht ‑ zu Recht ‑, mit den Reps wollen wir nicht ‑ zu Recht ‑, und so ganz glücklich sind wir mit der CDU auch nicht. Mit der FDP und 30 % reicht es aber nicht. Wo wollen wir dann eigentlich hin? Ich möchte wieder in die Regierung mit dieser Partei, und zwar möglichst ohne die CDU!

(Beifall ‑ Zuruf: Bravo!)

Präs. Michael   E l z e   : Nunmehr Manfred Meißner, Wedding!

Manfred   M e i ß n e r   (Wedding): Liebe Genossinnen und Genossen! „Mit einem blauen Auge davongekommen“, war die erste Bemerkung, die wir von einem Landesvorstandsmitglied gehört haben. Das nächste war: „Mit dem Ergebnis bin ich nicht unzufrieden.“ ‑ dies sagt der Landesvorsitzende.

Wir sollten langsam mit der Statistikkosmetik aufhören!

(Vereinzelter Beifall)

Wir sollten eindeutig eingestehen, dass wir Wahlen erheblich verloren haben ‑ nicht nur die letzten Wahlen, sondern die letzten Wahlen der letzten Jahre. Wenn ich höre, ich bin mit dem Ergebnis nicht unzufrieden, dann macht mich das ganz tief betroffen. Als Sozialdemokrat, der erlebt hat, dass diese Partei alleine regieren konnte, trauere ich dieser Vergangenheit echt nach, und ich hoffe, dass das wieder Zukunft werden wird ‑ nicht die Trauer, sondern das Alleinregieren. Aber bis dahin wird es noch ein langer Weg sein.

Es gibt eine schlechte Stimmung in der Stadt. Die Bezirkswahlen ‑ das ist immer wieder gesagt worden ‑ waren nicht nur allein Aufhänger, sondern es sind andere Kriterien herangezogen worden, die das Abstimmungsverhalten der Wähler beeinflusst haben. Wie schwer ist es dem Wähler denn von unserer Partei gemacht worden, sich auf die Bezirkswahlen zu konzentrieren? Acht Wochen vor den Bezirkswahlen ist immer noch darüber diskutiert worden, dass wir eigentlich gar keine Bezirke mehr brauchen. Dann muss man sich nicht wundern, dass Wähler so entscheiden und dass Wähler von der Wahlurne fernbleiben. Denn für was sollen sie denn wählen, wenn es nachher abgeschafft wird.

Genossinnen und Genossen! Die Politik muss wieder glaubwürdig gestaltet und die Kompetenzen müssen so verteilt werden, dass sie wieder dahin kommen, wo sie hingehören. Entscheidungen müssen da getroffen werden, wo wir die Verantwortung haben. Dieses Hickhack zum Beispiel um das Brandenburger Tor ist schon angesprochen worden; ich kann noch hinzufügen: Bauschuttanlage. Das alles sind Sachen, die so kurz vor der Wahl mit dazu beigetragen haben, dass die Politikverdrossenheit in dieser Stadt noch gesteigert wurde. All dies sind Dinge, die wir uns nicht leisten können.

Wir haben gehört, dass die CDU eine vernichtende Wahlniederlage bekommen hat. Aber wir sind mit auf dem Weg bei der CDU. Das heißt, wir befinden uns ebenfalls auf dem Weg nach unten. Wir dürfen uns nicht beklagen, dass wir der kleinere Koalitionspartner sind, sondern wir sollten echte Alternativen aufzeigen. Wir sollten den Mut fassen und nicht der kleine Koalitionspartner sein, sondern der große Oppositionsführer.

(Vereinzelter Beifall)

Präs. Michael   E l z e   : Als nächsten rufe ich Carl Chung auf.

Carl   C h u n g   (Charlottenburg): Nun werde ich abgewickelt, dann ist die Debatte auch gleich abgewickelt, und als letzter wird dann noch Wolfgang abgewickelt.

Ich versuche mal, einen Einstieg in meinen Redebeitrag zu finden, obwohl es nach dieser langen Zeit schwierig ist. Wir haben verloren ‑ darüber bin ich betroffen. Die Lage ist ernst, wir müssen sie ernst nehmen. Es gibt viel zu tun: Wir müssen etwas tun, Lösungen finden, einen Zahn zulegen, ehrlich und glaubwürdig sein und 50 % anstreben. Wenn ihr bis jetzt meinen Redebeitrag langweilig fandet, dann muss ich sagen, ich fand ihn auch langweilig. Spaß gemacht haben mir bis jetzt zwei Redebeiträge auf diesem Parteitag: der eine war von Thomas Krüger, der andere von Ingrid unter dem Motto: „Raus aus dem Selbstmitleid!“. Ich denke schon, dass wir wirklich viel zu überlegen haben, viel zu überlegen, wie wir ein neues Profil finden können. Ich denke aber nicht, dass es damit anfängt, auf der einen Seite zu verharmlosen, auf der anderen Seite nur zu beklagen.

Ich denke auch, dass es Ansätze zu einem Profil gibt, über die es sich zu reden lohnt. Es lohnt sich darüber zu reden, dass wir einen anderen Ansatz als die meisten anderen Parteien in der Asylpolitik haben und dass wir dazu auch einen Präsidiumsbeschluss haben. Ich denke, dass wir klarmachen können, dass das keine passive Haltung ist, sondern die aktive Gestaltung der Realität eines Einwanderungslandes, wenn wir es uns denn vornehmen, dieses gestalten zu wollen. Ich denke, dass wir im Bereich der Wohnungsbaupolitik, im Bereich der Eigenbetriebe und im Bereich der Mieten einen Ansatz finden können, wenn wir irgendwann einmal den Mut finden, zu sagen, dass es mit dem Markt allein eben nicht geht. Wir müssen den Mut finden, zu sagen, dass die öffentliche Armut, die Armut der öffentlichen Kassen kein gottgegebenes Gesetz ist, sondern dass es im Augenblick auch ein Teil einer gigantischen Umverteilung ist. Dann können wir auch zu Sparhaushalten kommen und den Maßstab der sozialen Gerechtigkeit anlegen. Aber wir müssen dabei auch sagen, was in diesem Land vorgeht, eine finanzielle Umverteilung von unten nach oben und was wir dagegen tun wollen. Dazu haben wir bis jetzt ‑ an einigen Teilen, wo wir es hätten tun können ‑ nicht viel getan. Ich denke daran, wie bei der Lehrerarbeitszeit gehandelt wurde. Ich denke daran, wie wir die Mehrwertsteuererhöhung als kleinen Fauxpas unseres Koalitionspartners haben durchgehen lassen.

Bei all dem, was wir aber an Inhalten vorantreiben können oder nicht vorantreiben können, denke ich, dass es mit dieser Stimmung, die hier im Augenblick herüberkommt, mehr oder weniger business as usual ‑ die einen klagen über die Ergebnisse der großen Koalition, die sie vorausgesagt haben, die anderen verteidigen die Ergebnisse der großen Koalition ‑, nicht weitergeht. Ich denke nicht, dass jetzt die Frage ist, wie wir mit der großen Koalition umgehen sollten, sondern erst einmal, wie wir in der großen Koalition unser Profil zeigen: mit einem bisschen mehr Selbstbewusstsein als Sozialdemokraten. Wenn das dann nicht klappt, dann allerdings, raus. Aber bis dahin müssen wir überhaupt erst einmal bewiesen haben, dass wir unsere Ansätze auch zu einem Konzept entwickeln können.

(Vereinzelter Beifall)

Präs. Michael   E l z e   : Numehr Genosse Wolfgang Nagel.

Wolfgang   N a g e l   (Wedding): Genossinnen und Genossen! Ich habe im Mai 1989 für die Baupolitik und ihre Glaubwürdigkeit einen folgenschweren Anfangsfehler begangen: Ich habe im Mai 1989 in einer großen Siedlung im Charlottenburger Norden den Leuten versprochen, dass man dort zusätzliche Wohnungen durch Dachgeschoßaufbauten würde schaffen können ‑ allerdings nur mit ihrer Zustimmung. Ich habe dieses Versprechen gebrochen; ich habe dieses Versprechen brechen müssen. Ich habe dieses Versprechen brechen müssen, weil ich damals, als ich es nannte und abgegeben habe, noch der Meinung war, dass man in einer Situation, in der wir noch unter relativ normalen Zuständen gelebt haben, würde auch Politik machen können, indem man versucht, die Leute an einer Stelle einzubeziehen, auch dann, wenn sich die politischen Umstände ändern und wenn eigentlich eine andere Politik gefordert ist. Ich habe erst sehr viel später unter dem Druck von dem, was Wohnungsnot und Wohnungsbedarf in dieser Stadt ist, diese Zusage zurückgezogen und habe seitdem die Programme des Dachgeschoßaufbaus dort weiterbetrieben.

Ich möchte euch sagen, weshalb ich dies hier offensiv vertrete. Ich sage es deshalb, weil es einen Unterschied gibt ‑ und da beziehe ich mich auf das, was Ditmar Staffelt hier auch mit dem Aufgeben von liebgewordenen Vorstellungen und Antworten angesprochen hat ‑ zwischen Bürgernähe und den Leuten zum Munde reden. Denn was haben wir denn seit 1975 gemacht ‑ und das sage ich bewusst für den Westteil der Stadt ‑? 1975 ist die CDU in dieser Stadt Volkspartei geworden, sie ist nämlich die stärkste Partei geworden. Sie ist es 1975 gewesen, 1979, 1981 und 1985. 1979 hat die SPD 0,1 % hinzugewonnen, aber die CDU ist stärkste Partei geblieben. Ich sage das deswegen, weil wir schon seit 1975 im Westteil der Stadt nicht mehr die Berlin‑Partei waren und wir diese Herausforderung immer damit beantwortet haben, dass wir den Leuten versprochen haben und versprochen haben und versprochen haben. Nur merken die Leute immer häufiger, dass wir uns „versprochen“ haben.

Ich sage das auch deswegen, weil die Umstände, unter denen wir künftig Politik machen werden, solche sind, die uns seit 1989, seit der Öffnung der Mauer, ins Haus stehen, und die die nächsten 10 bis 15 Jahre auch bestehen werden; denn die Leute sind doch im Westen und Osten, auch von uns ‑ ich mache eine Ausnahme: bis auf Oskar Lafontaine ‑, beschissen worden, auf deutsch gesagt. Zunächst hat man den Menschen im Osten gesagt: Mit der West‑Mark kommt der Wohlstand, das wird ganz schnell gehen, und in zwei, drei Jahren sind wir über den Berg. Jeder von uns weiß ‑ nicht nur die, die im Senat sind, auch die in den BVVs ‑, dass dieses eine Lüge ist. Und deshalb bin ich immer dann in diesem Wahlkampf in Ost‑Berlin mit Beifall belohnt worden, wenn ich den Leuten gesagt habe: Liebe Freunde hier im Ostteil der Stadt, es wird 10 bis 15 Jahre dauern, ehe wir Grund unter den Füßen haben. ‑ Nur mit dieser Art von Ehrlichkeit werden wir im Ostteil letzten Endes auf die Füße kommen.

(Beifall)

Der zweite Punkt: Gleichzeitig hat man denen im Westen versprochen, all das werde nicht auf ihrem Rücken ausgetragen. ‑ Die Idylle West‑Berlins, in der wir im Schatten der Mauer Tomaten pflanzen konnten, in der das Geld aus Bonn kam, wir es nicht selbst erwirtschaften mussten, auch Steuererhöhungen ‑ hat er in Bonn gesagt ‑ wird es nicht geben, auch das wird weiter beibehalten. Und es wird ebenfalls die nächsten 10 bis 15 Jahre und vielleicht noch länger der Fall sein, dass wir die Menschen auch im Westteil der Stadt daran gewöhnen müssen, dass in der Tat Einheit Teilen und dass dieses Entbehrung bedeutet. Landowsky hat gesagt, wir müssen die Verostung des Westens verhindern. Ich sage euch: Wenn wir auf dem eingeschlagenen Weg der Wahrheit und Klarheit nicht fortfahren ‑ demnächst wird das bei den Haushaltsberatungen für 1993 so losgehen ‑, wenn wir den Menschen nicht klar sagen, zehn Jahre und länger wird hier hart gearbeitet werden müssen an den Verbesserungen im Hinblick auf soziale Gerechtigkeit, dann wird allerdings das eintreten, was sich jetzt bei den Wahlen seit 1975 im Westteil der Stadt angedeutet hat und 1991 bzw. 1992 im Ostteil der Stadt, dann wird man uns einfach bestrafen ‑ nicht etwa, weil wir eine unpopuläre Politik machen, sondern weil man uns das nicht glaubt, was wir sagen. Und das machen wir in Bonn schließlich auch nicht anders. Als Bausenator sage ich euch eines, an einem ganz sensiblen Punkt. Wir fordern hier mit heiligen Schwüren: die Mietpreisbindung zurück nach Berlin! Ich sage euch an dieser Stelle ganz eindeutig: Nicht ein einziger Bonner Genosse krümmt den Finger für unsere Forderung!

Solange immer wieder deutlich wird, dass es auf sozialdemokratischer Seite eine Diskrepanz gibt, fordern, fordern, fordern, das Geld fließt aus der Steckdose, aber woher es kommen soll, das sagen wir nicht, solange werden wir auch nicht glaubwürdig werden. Wir müssen sehen, dass wir auch mit Wortmitteln auf die Füße kommen, dass wir nicht nur unseren Finger in Richtung Bonn strecken ‑ denn Richtung Bonn bedeutet in vielen Fällen nicht nur der dicke Kohl, das bedeutet in sehr vielen Fällen auch unsere eigene bundesdeutsche Partei, unsere Bundestagsfraktion.

(Vereinzelter Beifall)

Damit ist kein Vorwurf verbunden. Ich glaube, dass die Zeiten einfach härter werden, härter werden allerdings auch in den Verteilungskämpfen, und da schließe ich mich Carl Chung an: Bei diesen Verteilungskämpfen kommt es darauf an, die soziale Gewichtung so deutlich sichtbar zu machen, dass auf der einen Seite die Glaubwürdigkeit bestehen bleibt, auf der anderen Seite aber auch nicht mehr versprochen wird als wir tatsächlich halten können. Und auch auf diesem Parteitag sind manche Wortbeiträge gewesen, die wieder das Blaue vom Himmel versprechen. ‑ Vielen Dank!

(Beifall)

Präs. Michael   E l z e   : Nunmehr hat Klaus‑Uwe Benneter das Wort!

Klaus‑Uwe   B e n n e t e r   (Zehlendorf): Genossinnen und Genossen! Wolfgang Nagel, da hast eben selbst ein markantes Beispiel genannt, wo ich denke, dass wir in der Zukunft doch aus diesem Wahlergebnis lernen müssen, dass wir uns gerade so nicht verhalten können. Natürlich hast du recht, dass wir bittere Wahrheiten auch im Westen werden verkünden müssen, dass wir auch im Westen werden darauf hinweisen müssen, dass noch ganz andere Verteilungskämpfe stattfinden werden. Aber gerade wenn du in der Paul‑Hertz‑Siedlung den Leuten dort versprichst, dass du sie an den Entscheidungen, die sie unmittelbar betreffen, beteiligen wirst, dann ist dies ein Versprechen, das ein Sozialdemokrat auch einzuhalten hat, gerade wenn er dann in der Situation ist, wo er dieses Versprechen einlösen kann.

(Starker Beifall)

Eines will ich dir klar sagen, Wolfgang Nagel, was die liebgewordenen Vorstellungen angeht: Die Bürgerbeteiligung ist nicht irgendeine liebgewordene Vorstellung, sondern das ist etwas, was elementar zu unserer Politik gehören muss

(Vereinzelter Beifall)

und was uns auch gerade dieses Wahlergebnis sagt, dass wir hier die Bürger nicht nur irgendwo der Form nach zu beteiligen haben, sondern wirklich ernst nehmen müssen. Das ist doch genau das Problem, das wir in der Paul‑Hertz‑Siedlung haben, wenn wir ihnen dort sagen, wir werden sie beteiligen, wir werden das nicht über ihre Köpfe hinweg machen, wir werden nicht auf ihren Köpfen, ohne sie befragt zu haben, bauen. Und dann, sobald du Bausenator bist, setzt du das anders durch. Das hat auch nichts mit der Wohnungsnot zu tun. Entweder du bist in der Lage, den Leuten in der Paul‑Hertz‑Siedlung zu sagen, warum du die Wohnungsnot just gerade in diesem Viertel und nicht in Zehlendorf, auf Freiflächen, oder in anderen Stadtteilen bereinigen willst ‑ ‑              (Vereinzelter Beifall ‑ Unruhe)

Da ist doch genau der Punkt, an dem man konkret ansetzen kann, was für Ergebnisse diese Wahlen doch für uns haben müssen. Ich kann mich doch nicht als Bausenator hier hinstellen und sagen: Wir müssen nun … Ehrlichkeit usw. Gerade an solch einem Punkt, mache ich es genau anders herum. ‑ Insofern, Wolfgang, bin ich dir ganz dankbar, dass du mir hier Gelegenheit gegeben hast, das gleich noch mal ‑ aus meiner Sicht jedenfalls ‑ geradezurücken.

Ich wollte aber noch einen anderen Gedanken hereinbringen, weil ich die ganze Diskussion sehr aufmerksam verfolgt habe und eigentlich immer den Eindruck hatte, dass kaum einer in der Lage war und ist, die neuen Notwendigkeiten relativ klar zu benennen. Zur Situation, wie man mit den Nichtwählern und mit den Protestwählern umgeht: Auch ich habe da keine Patentrezepte, denke aber, wenn wir Orientierungen liefern müssen ‑ und dies hat wohl das Wahlergebnis auch ergeben, dass dies unbedingt notwendig ist ‑, dann können wir solche Orientierungen auf Dauer nicht im Rahmen einer großen Koalition liefern, in der es uns nicht gelingt, unsere eigene Identität und unsere eigenen Vorstellungen nach draußen klar rüberzubringen.

(Vereinzelter Beifall)

Wenn wir derzeit arithmetisch oder aus sonstigen Gründen keine andere Möglichkeit sehen, als in einer großen Koalition Politik zu machen, dann muss unser Ziel in der nächsten Phase sein ‑ und die nächsten Wahlen stehen schon in drei Jahren an ‑ , hier auch innerhalb dieser großen Koalition stärker zu polarisieren und deutlich zu machen, dass z. B. der Schwachsinn, durch das Brandenburger Tor zu fahren, nicht auf sozialdemokratischen Verkehrsvorstellungen fußt ‑

(Beifall)

ein einsamer Bausenator vielleicht, aber jedenfalls dass das nicht die sozialdemokratischen Verkehrsvorstellungen sind, das zum zentralen Thema zu machen.

Noch etwas zum Schluss ‑ bei allem Wehklagen und bei allem Wundenlecken, was nach diesen Wahlen sicherlich auch angesagt ist ‑: Ich bin es irgendwo leid, mich immer als jemand beschimpfen zu lassen, der sich in einer Partei engagiert, der Politik macht und der Politik gestalten will. Ich denke, auch wir Sozialdemokraten sollten einmal offensiver werden, auch nach draußen offensiv verteidigen, warum wir es für sinnvoll halten, Politik zu machen und nicht noch die Parteiverdrossenheit dadurch unterstützen, dass wir selbst im Büßerhemd herumlaufen. Das sollten wir auch aus diesem Wahlergebnis lernen. ‑ Danke schön!

(Beifall)

Präs. Michael   E l z e   : Danke schön, Klaus‑Uwe! ‑ Jetzt zum Schluss Walter Momper, und danach haben wir die Generalaussprache über die Kommunalwahlen erst einmal beendet.

Walter   M o m p e r   : Liebe Genossinnen und Genossen, ich bin ‑ so weit ich das konnte ‑ den meisten Redebeiträgen aufmerksam gefolgt. Nachdem ich mir das angehört habe, muss ich sagen: 80 000 Wohnungen in fünf Jahren, nämlich in einer Legislaturperiode zu bauen, ist nicht allein das Problem einer ungeliebten großen Koalition oder etwa das Problem von Wolfgang Nagel allein, sondern es ist unser aller Problem!

(Beifall)

Wir alle müssen die Flächen dafür bereitstellen, jeder Bezirk muss dafür Flächen zur Verfügung stellen und auch sonst versuchen, sich kooperationswillig zu zeigen.

Wenn wir in einer so zentralen Frage ‑ man könnte jetzt auch über andere sprechen, zwei habe ich erst in meiner Rede genannt ‑ es in fünf Jahren nicht schaffen, in dem Punkt in den Augen der Wählerinnen und Wähler erfolgreich zu sein, dann werden wir dafür eine Quittung bekommen. Noch sind wir nach allen Umfragen in diesem Feld wirklich weit vorn, denn die Menschen trauen uns das zu. Ich kenne den Skeptizismus in unseren eigenen Reihen mehr als genug und könnte lange Geschichten darüber erzählen, dass den Wählern an solchen Punkten angeblich zuviel versprochen worden sei. Ich kann nur sagen, wenn es notwendig ist ‑ und 80 000 Wohnungen sind das mindeste, was in dieser Stadt zum derzeitigen Zeitpunkt schon fehlt ‑, dann allerdings hätte ich es heute hier auch erwartet, dass, über Wolfgang Nagel hinaus ‑ der eine oder andere hat es angedeutet ‑, eine Kraftanstrengung in so einer Frage wirklich ins Auge gefasst wird. Ich habe das bei den meisten Rednern ‑ Entschuldigung! ‑ wirklich vermisst.

Dann, liebe Genossinnen und Genossen, wenn es an die Konsequenzen geht ‑ einige haben sich hier an der großen Koalition, andere haben sich an mir abgearbeitet ‑: Die Nostalgie nach 1963 mit über 60 % hilft leider deshalb nicht viel weiter, weil sich die gesellschaftlichen Verhältnisse in dieser Stadt so fundamental verändert haben ‑ bis zum 9. November 1989, aber danach noch einmal in ganz erheblicher Art und Weise. Da will ich mal sagen: Es gibt einige Hinweise dafür, dass wir in dieser Stadt eine Volkspartei ‑ wenn man das bei 40 % ansiedelt ‑ schon seit 1981 nicht mehr sind ‑ wenn man das dort ansiedelt. Es gibt einiges, was dafür spricht, dass das Zeitalter der Volksparteien vorbei sei. Ich weiß das nicht; da bin ich auch unsicher, auch sozusagen über den wissenschaftlichen Befund. Aber es gibt kein anderes europäisches Land ‑ es sei denn, die haben andere Wahlrechte ‑, in dem die Konzeption der deutschen Volkspartei ‑ CDU und dann später auch SPD, nach Godesberg ‑ wirklich realisiert ist. Anderenorts ist die Segmentierung, die Aufsplitterung, im sozialdemokratischen Bereich auf bis zu drei Parteien verteilt, und alle zusammen sind dann noch kleiner als die deutsche Sozialdemokratie im Land Berlin nach diesen letzten Wahlen. Ich weiß nicht, ob die Zeit der Volksparteien vorbei ist, wenn sie aber vorbei ist ‑ und da hätte ich mir heute einige Aspekte der Diskussion und eure Sicht dazu gewünscht ‑, dann hat das ganz tiefgreifende Wirkungen auch für den Landesverband Berlin der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands; denn es ist etwas ganz anderes, ob man ‑ mit dem Ziel 50 % der Gesellschaft ‑ versucht, möglichst alle zu integrieren oder ob man wirklich nur noch für so an die 30 % der Wähler da ist. Das hat große Konsequenzen bis hin zu der Frage, welche Koalition man dann in Zukunft überhaupt nur noch anstreben kann. Ich habe das auch schon gesagt: Das sind doch die tiefergehenden Ursachen, die sich hinter dieser Segmentierung verbergen.

Dann will ich sagen: Liebe Genossinnen und Genossen, ein solches Maß ‑ durch alle Sozialumfragen wisst ihr das ‑ an Individualisierung wie in dieser Gesellschaft, ein Sozialdarwinismus, der eine derartige Entsolidarisierung selbst innerhalb der Facharbeiterschaft zur Folge hat, wie wir das heute haben, haben wir in fast 40 Jahren Nachkriegsgeschichte ‑ jedenfalls in der Bundesrepublik Deutschland (West) ‑ nicht erlebt, und darunter leiden ja nicht nur politische Parteien. Ich sage das einfach deshalb, weil wir uns auch nicht zu viele Probleme allein zuziehen sollten und sie dann meinetwegen als Berliner Koalitionsprobleme oder West‑Berliner ‑ oder weiß ich was ‑ Bauchschmerzen begreifen. Nein, unter der Individualisierung leiden auch Gewerkschaften und leiden auch Vereine.

Dann hätte ich mir auch gewünscht, dass ihr etwas zu neuen Formen und gegebenenfalls zu neuen Inhalten sagtet. Ich hätte gern gehört ‑ weil einige das auch vorher diskutiert haben ‑, wie es mit der Abteilungsarbeit steht. Komme ich zu manchen hin, dann höre ich immer noch: aber wir, schöne kleine Abteilung, acht Mann am Abend in der Kneipe. Ich weiß, in meiner eigenen Abteilung ist das auch immer ganz nett. Und auch zu neuen Formen der Parteiarbeit: Es gibt ja viel Erfahrung in den Kreisen damit. Es gibt ‑ Hans‑Jürgen Müller sehe ich gerade ‑ bei den Selbständigen beispielsweise eine gut gelungene Kampagne, die unmittelbar bei einem Bevölkerungskreis ansetzt, der normalerweise nicht so von vornherein zu unserem Klientel gehört, bei dem aber durch die Aktivitäten der AGS ein Stand erreicht und ein drängendes Problem aufgegriffen worden ist, was in der Politik auch wirklich Musik macht.

Meine Überzeugung ist ‑ und ihr werdet mir das Schlusswort noch bis zum Ende gewähren ‑, dass in verschiedenen Formen die gute alte, soziale Frage ‑ das, mit dem die Sozialdemokratie groß geworden ist, was sie stark gemacht hat, was wir manchmal vielleicht ein bisschen aus den Augen verloren haben und wo wir manche moderne Erscheinungsform, und wenn es beim Mittelstand wegen der Gewerbemieten ist, nicht erkannt haben ‑ in der Variante: zu hohe Mieten, kein Arbeitsplatz, ABM, Sozialhilfe, marginalisierte Menschen, Gewerbemieter, die von hohen Gewerbemieten bedroht sind, und vieles andere mehr, immer noch eine Rolle spielt. Deshalb kann ich nur sagen: Dazu hätte ich mir heute auch einige kreative Beiträge gewünscht: Arbeitsplätze Ost, West oder Mieten und Wohnen, wie begrenzt man da den Anstieg?

Da will ich noch einmal auf einen Punkt kommen, nur dass wir uns in der Realität nicht verheben: Ein brandenburgischer Minister, der der Sozialdemokratischen Partei angehört, hat mir gesagt: Was wollt ihr Berliner denn mit euren scheinbaren Schulden? Verkauft doch euren ganzen sozialen Wohnungsbau, und zwar vor der Hochzeit mit Brandenburg, dann seid ihr alle eure Schulden los. Ihr seid sowieso mit dem ganzen Neubauwohnungsbestand in West‑Berlin privilegiert, und im Ostteil der Stadt habt ihr dann so viel, wie ihr für die Aussteuerung des Wohnungsmarktes braucht. Ich halte den Vorschlag nicht für gut. Aber man muss mal sehen ‑ in Ergänzung dessen, was Wolfgang Nagel eben gesagt hat ‑, was sozusagen hinter der Berliner Landesgrenze von manchen, die gleichwohl gute Sozialdemokraten sind, manchmal nicht ganz fair in der Argumentation, aber immerhin, gedacht wird. Ich teile diese Auffassung nicht, aber ich sage eines zur Erhöhung dieser Fehlbelegungsabgabe oder auch zur generellen Mieterhöhung zur Finanzierung des Landeshaushalts: Ich verweise auf das, was ich zu den Beiträgen gesagt habe, die alle Bevölkerungskreise zu leisten haben, wenn es darum geht, den Landeshaushalt zu sanieren.

(Zuruf: Grundsteuern höher!)

‑ Ja, Grundsteuern auch! Wenn das in unserer Kompetenz wäre, würden wir das auch machen. ‑ Also, alle Steuern; es wird sowieso alles über die Preise abgewälzt. Das ist leider so und ändert auch nichts an dem Sachverhalt.

Liebe Genossinnen und Genossen! Ich möchte euch bitten und auffordern, an den Punkten, die wir auch im Wahlkampf gefahren haben, festzuhalten, unsere Parteistrukturen so zu reformieren, dass wir ‑ mit mehr Offenheit für die Menschen draußen und unter Einbeziehung der Menschen, die ja bereit sind, mitzumachen ‑ für unser Programm kämpfen, für mehr soziale Gerechtigkeit und dafür, was der Slogan im Wahlkampf gewesen ist: Berlin muss bezahlbar bleiben! Dann, meine ich, sind wir in der sozialen Frage auf dem richtigen Weg. ‑ Schönen Dank für die Diskussion!

(Beifall)

Präs. Michael   E l z e   : Damit haben wir den ersten Teil der Aussprache, die Generaldebatte über das Ergebnis der Kommunalwahlen, beendet und kommen nun zum zweiten Teil, zu der bereits am Anfang vom Präsidium angekündigten Debatte über die Genossin Marlitt Köhnke. Nun haben wir hinsichtlich der Reihenfolge erst die Genossin Marlitt Köhnke, dann den Genossen Wolfgang Thierse und dann diejenigen, die sich dazu gemeldet haben.

Das Präsidium ist sich darüber einig und geht davon aus, dass wir es bei der Genossin Marlitt Köhnke und beim Wolfgang mit der Redezeit nicht so genau nehmen. Das heißt auf der anderen Seite aber nicht, dass hier nun unheimlich lange gesprochen werden soll. ‑ Ich gebe jetzt der Genossin Köhnke das Wort!

Marlitt   K ö h n k e   (Hellersdorf): Liebe Genossinnen und Genossen! Ich möchte erst einmal dem Präsidium danken, dass ich hier außerhalb der Redeordnung reden darf; ich werde mich auch nicht allzulang aufhalten. Ich werde eine kurze Stellungnahme abgeben und das sagen, auf das hier sicherlich so viele Genossinnen und Genossen aus dem Osten warten.

Bei vielen Gesprächen, die ich inzwischen mit den Genossen geführt habe, kam das Gespräch dann immer auf einen Punkt: Nicht der Umstand, dass ich vor 20 Jahren als Schülerin eine Verpflichtungserklärung unterschrieben habe und mich dann aus dieser schlimmen Verstrickung einige Jahre später befreien konnte, ist das enttäuschende Moment, sondern dass ich über dieses Verhängnis nicht viel früher gesprochen habe.

Auf die Frage, warum, werde ich hier vielleicht nicht für alle eine glaubhafte Antwort geben können. Bevor ich dies überhaupt versuche, muss ich am Ende der Geschichte anfangen: Gestern vor einer Woche konnte ich in der Gauck‑Behörde meine Personenakte einsehen. Als ich dorthin fuhr, fühlte ich mich schlecht und depressiv, wie schon die ganzen letzten Wochen seit der Bericht angekommen war. Die Frage war für mich: Was war damals geschehen? Wie konnte ich Dinge tun, derer ich mich so sehr schämte, dass ich von Sprachlosigkeit befallen war und an die ich mich nicht mehr bis ins Einzelne erinnern konnte? Ich konnte mich zwar noch an einzelne Sachen erinnern: an Treffs in einer Gaststätte, an Diskussionen, an Fragen, die ich nicht beantworten konnte oder wollte. Ich hatte auch noch die Erinnerung daran, für kleine Geldbeträge eine Unterschrift geleistet zu haben ‑ aber mit welchen Namen? Dann war die Sache vorbei. Der Mann, an dessen Namen ich mich nicht mehr erinnern kann, sagte, dass es keinen Sinn mehr hätte, meine Perspektive für die Zukunft wäre unklar. Und ich war froh, aus dieser Sache herauszukommen; denn ich hatte inzwischen geheiratet, und es war für mich unerträglich, meinen Ehemann zu belügen.

Aus meiner Akte konnte ich dann folgendes entnehmen: Ich fand dort eine handschriftliche Kopie meines Deutschaufsatzes, die Darstellung meiner Entwicklung, aus der 10. Klasse. Dieser Aufsatz war offensichtlich vom Direktor der Schule durchgelesen worden, und dieser gab der Stasi den Hinweis, mich und vielleicht auch andere Schüler zu einem Gespräch einzuladen. Laut Akten geschah dies am 17. 9. 1969, zu Beginn der 11. Schulklasse.

Im November 1970, einen Tag vor meinem 18. Geburtstag, habe ich eine Verpflichtungserklärung unterschrieben, die mir diktiert wurde, denn sie liegt handschriftlich vor, in Gänze, und ich kann mir das nicht ausgedacht haben. Aus dem Protokoll geht hervor, dass ich auf die Frage, ob ich mir bewusst sei, was ich da tue, geantwortet habe, dass dies eine gesellschaftliche Tätigkeit für mich sei wie jede andere auch, nur diene sie dem besonderen Schutz des sozialistischen Staates. Auf meine Frage, warum ich diese Erklärung unterschreiben müsse, hatte man mir geantwortet, dies sei ein Beweis, dass man Vertrauen zueinander haben könnte. So kam es zur Unterschrift einer Verpflichtungserklärung ‑ ich war ein IM geworden.

Ich konnte mich so viele Jahre später nicht mehr an den Inhalt dessen erinnern, was ich dort geschrieben habe. Selbst der Vorgang war mir nicht im Gedächtnis, und ich weiß heute noch nicht, ob es in der Schule stattgefunden hat oder woanders.

Nach meinem Studium ‑ ich hatte mit Hilfe der Mutter einer Studienfreundin eine Arbeit am Zentralinstitut für Wirtschaftswissenschaften der Akademie gefunden ‑ war die Atmosphäre an diesem Institut sehr erdrückend und dogmatisch; es war eigentlich ein Parteiinstitut. Dort fand sich eine Gruppe junger Wissenschaftlicher Assistenten zusammen, und unter dem Schutzschild einer FDJ‑Seminargruppe betrieben wir historische Studien zur Geschichte der wirtschaftlichen Entwicklung der Sowjetunion: nicht die Geschichte der KPdSU, wie man sie in den Lehrbüchern finden konnte, sondern wir wollten wissen, was sich in der Sowjetunion nach der Revolution 1917 bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs unter Stalin wirklich abgespielt hatte.

Eines Tages wurde ein Kollege von uns abgeholt. Andere kamen von Verhören der Stasi völlig entnervt zu uns in die Wohnung nach Hause. Es stellte sich heraus, dass sich innerhalb der SED eine kleine Gruppe zusammengefunden hatte, die als Oppositionsgruppe in der BRD Schriften veröffentlichte. Alle Mitarbeiter, die im Umfeld dieser Gruppe arbeiteten, wurden damals von der Stasi überwacht. Ich war niemals Mitglied der SED, aber ich habe damals gelernt, dass nicht alle SED‑Mitglieder gleich waren. Ich hatte damals auch große Angst, dass die Stasi wieder vor meiner Tür stehen und mich befragen würde. Sie sind nicht mehr gekommen.

Von meinen damaligen Freunden habe ich kürzlich erfahren, dass ich in den Stasi‑Akten des Mathematikers Dr. Thomas Klein, der für anderthalb Jahre ins Zuchthaus Bautzen kam, erfasst bin als jemand, der der Opposition nahesteht und sich mit den Oppositionellen solidarisch verhält. Daraufhin wurde mein befristeter Arbeitsvertrag an der Akademie nicht verlängert, und es wurde mir empfohlen, dass ich mich erst einmal in der Praxis bewähren sollte. So habe ich 1979 im VEB‑Ausbau, Mitte, einem Baubetrieb in der Rungestraße, einen neuen beruflichen Einstieg finden müssen.

Als im August 1989 die Auswanderungswellen begannen und die SDP gegründet wurde, stand für mich fest, dass ich mich nach den Jahren politischer Abstinenz an den Veränderungen in der DDR beteiligen wollte. Ich ging in die Gethsemane‑Kirche und holte mir eine Kontaktadresse in Pankow, weil ich damals dort arbeitete. Im Oktober 1989 bezahlte ich bei Torsten Hilse, heute Mitglied des Abgeordnetenhauses, meinen ersten Parteibeitrag. Damals fragte er mich, ob ich Mitglied der SED sei oder Kontakte zur Stasi habe. Ich habe das verneint. Ich war auch lange Zeit der Meinung, dass ich meine Schuld abgearbeitet hätte. Aber eine Wiedergutmachung einer Schuld ersetzt eben nicht ein offizielles Schuldeingeständnis.

Der Gewissenskonflikt kam in mir hoch, als das Thema IM immer häufiger und eigentlich permanentes Thema in den Medien wurde. Der Fall Karolewski ‑ der Baustadtrat aus Pankow, der zurückgetreten ist ‑ war dann der Punkt, an dem mir mein Gewissen keine Ruhe mehr gelassen hat.

Da bisher niemand vom SPD‑Kreisverband Hellersdorf überprüft wurde, habe ich darauf gedrängt, als Spitzenkandidatin vorab überprüft zu werden. Dazu musste extra ein Beschluss des Kreisvorstandes gefasst werden, und auch das hat eine gewisse Zeit gedauert. Ich wollte selbst endlich wissen: Was ist damals gewesen? In welche Kategorie bin ich einzuordnen? Ich wollte auf keinen Fall das Amt der Bezirksbürgermeisterin wieder übernehmen, bevor hier nicht der Gauck‑Bericht auf dem Tisch liegt.

Wie gesagt: Erst vorige Woche Donnerstag konnte ich meine Akten einsehen, und es war ein einhelliger Beschluss des Kreisvorstandes, dass sich der Kreisverband Hellersdorf dazu positionieren sollte, bevor wir an die Presse gehen. Das ist diese Woche Dienstag geschehen. Wir haben viereinhalb Stunden lang diskutiert. Es war eine menschliche Diskussion; ich habe sehr viel Verständnis gefunden. Und egal, was auch passiert: Dieser Kreisverband ist mein Kreisverband und dort werde ich weiterhin tätig bleiben. Es war keine Hatz, es war kein Hass. Bei der Abstimmung hat man mir erneut das Vertrauen ausgesprochen, was ich niemals für möglich gehalten hätte. Denn dass man nicht redet, hat auch etwas mit der Angst davor zu tun, dass man wieder ausgegrenzt wird.

Ich möchte hier noch sagen, dass ich meine Spitzenkandidatur an den Kreisverband Hellersdorf zurückgeben werde.

(Beifall)

Präs. Michael   E l z e   : Nunmehr hat der Genosse Wolfgang Thierse das Wort!

Wolfgang   T h i e r s e   : Liebe Genossinnen und Genossen! Zu dem Freundlichen und Unfreundlichen, was man zu dem Wahlergebnis vom Sonntag bezogen auf die SPD sagen kann, gehört auch, dass sie nach dem Wahlergebnis wirklich keine Gesamtberliner Partei ist. Sie muss es werden, und wie das geschieht, das erleben wir heute, dass ein Parteitag mit einem solchen Thema „belästigt“ wird. Auch dies gehört zur Mühe, eine Gesamtberliner Partei zu werden.

(Beifall)

Liebe Genossinnen und Genossen, liebe Marlitt ‑ ich rede zögernd ‑, es gibt, fühle ich, fürchte ich, keine zugleich menschlich faire und ganz gerechte Lösung, die zugleich auch eine politisch korrekte und tragbare Lösung unter den gegenwärtigen Bedingungen wäre. Immer noch nämlich fehlt der Raum und haben wir nicht die Zeit für ruhig differenzierende Betrachtung und Diskussion unserer DDR‑Vergangenheit und unserer Biographien, von denen die Stasi‑Vergangenheit wahrlich nur ein Teil ist.

Ach, wie wäre das gewesen? Welche Chance zu selbstbewusst differenziertem, selbstkritischem Umgang mit unserer Vergangenheit wäre das gewesen, wenn wir, die Sozialdemokraten, und die Öffentlichkeit lange vor der Wahl hätten miteinander diskutieren können ‑ zum Beispiel über Marlitt Köhnke als einem durchschnittlichen Fall von biographischer Verstrickung, über den zu erheben und scharf zu urteilen ich mich nicht in der Lage sehe.

(Starker Beifall)

Denn, was ist da gewesen? Marlitt hat es gerade noch einmal gesagt: eine jugendliche Unterschrift aus einer ursprünglichen Identifikation. Wer will das wem vorwerfen, diese Identifikation? Dann kleine Hilfs‑ und Informationsdienste für die Stasi, entsprechend kleine Dotationen. Nach vier Jahren Ende der IM‑Tätigkeit, wie es heißt, wegen Inaktivität. Also, das verstehen wir doch noch richtig: wegen Absetzen und Abwehranstrengungen. Und dann das, was ich für ziemlich menschlich halte: einfaches Vergessen, Verdrängen auch, und dann die Angst vor Selbstenthüllung. Ist die Atmosphäre in diesem Land denn wirklich so, dass sie den Mut belohnt, Chancen zur Selbsterklärung gewährt, zur Öffnung zu behutsamem, menschlichem Umgang?

(Starker Beifall)

Und ‑ frage ich mich, frage ich euch ‑ ist sie in der SPD so, ist sie in unseren Ortsverbänden so, dass jemand eine Chance hat, sich zu erklären? Ich bin sehr vorsichtig. Deshalb der späte Schritt in die Partei und in die Öffentlichkeit. Zu spät, gewiss, und deshalb unausweichlich mit dem Geschmack der Täuschung der Partei, des Vertrauensbruchs der politischen Freunde verbunden.

Es ist halt so, ihr habt das verabschiedet: „Verfahren und Kriterien zum Umgang mit Informationen der Gauck‑Behörde“. Da heißt es:

Die Verdeckung der Zusammenarbeit mit dem MfS, selbst wenn sie nur sehr geringfügig war und entlastende Argumente angeführt werden können, kann auf seiten der Mitglieder der Partei oder der Öffentlichkeit das Vertrauen in die politische Integrität eines Betroffenen nachhaltig stören  oder gar zerstören. Dieser Zusammenhang kann nicht ignoriert werden.

(Vereinzelter Beifall)

Aber jetzt sind wir in einem Konflikt. Marlitt hat das Vertrauen der Mehrheit der Hellersdorfer Sozialdemokraten bekommen ‑ ich höre das mit großem Respekt. Und sie hat das Vertrauen anderer Ost‑Berliner Sozialdemokraten verloren, jedenfalls ist es erschüttert worden.

Und die Öffentlichkeit? Die (Ver)öffentlichkeit jedenfalls hat die Jagd eröffnet. Ach, wie wäre das gewesen, wenn es anders gekommen wäre? Marlitt, du hättest mich an deiner Seite gehabt, schon aus Konsequenz gegenüber meinen eigenen Redensarten. Es geht mir um die Verteidigung der Geschädigten, der Gebrochenen, der grauen, der durchschnittlichen DDR‑Biographien, um den Unterschied zwischen dem Urteil über das gescheiterte ökonomische und politische System und die Biographien, die in ihm gelebt wurden, gelebt werden mussten ‑ aber doch nicht unterschiedslos. An den Unterscheidungen ist dann doch wieder alles gelegen.

Um der Unübersichtlichkeit von Verdächtigungen, Vorurteilen und flotten Urteilen, von alten und neuen Konflikten einigermaßen Herr zu werden, haben wir uns 1990 in der Volkskammer, im Bundestag im Zusammenhang mit dem Stasi‑Unterlagengesetz und hier der SPD‑Landesverband mit den vorhin zitierten Verfahren und Kriterien einige Maßstäbe, einige Kriterien aufgeschrieben, und nach diesen Kriterien sind sozialdemokratische Bürgermeister verfahren, sie haben danach gehandelt, sie haben Entscheidungen getroffen über andere ‑ also, haben wir die Entscheidungsgründe auch auf uns selbst anzuwenden.

(Beifall)

Das ist meine Bitte: Wir haben uns denselben Maßstäben zu unterwerfen, die wir an andere anlegen ‑ nicht mehr, aber auch nicht weniger. Deshalb denke ich, im demokratischen Verfahren sind Personalentscheidungen zu treffen. Marlitt Köhnke hat eine Entscheidung getroffen. Wir hier aber sollten sagen können: Wir lassen Marlitt nicht fallen ‑ als Mensch nicht,

(Starker Beifall)

aber auch als Sozialdemokratin nicht.

(Beifall)

Ich danke dir, Marlitt, ich danke dir für diese Entscheidung!

Aber uns sage ich: Die Arbeit an der Vergangenheit beginnt erst, und sie wird viel mühevoller sein als täglich in den Zeitungen steht und als wir wahrhaben wollten. Denn das, was von uns abverlangt wird, ist ziemlich unerträglich: Wir müssen allen Verdächtigten und Betroffenen eine Chance geben, sich erklären und verständlich machen zu können und dann mit uns zu leben und arbeiten zu können. Ich wünsche uns sehr, dass wir Sozialdemokraten uns nicht an den flotten Urteilen beteiligen, so sehr wir auch zu Konsequenzen gezwungen werden, weil auch wir manchen Druck nicht aushalten können ‑ das ist meine Bitte.

(Starker Beifall)

Präs. Michael   E l z e   : Herzlichen Dank, Wolfgang Thierse, für diese bewegenden Worte! ‑ Nunmehr hat sich Hans Nisble erst einmal zur Geschäftsordnung gemeldet!

Hans   N i s b l e   (Wedding): Genossinnen und Genossen! Ich denke, dass wir alle sehr tief bewegt waren über das, was Marlitt Köhnke uns hier vermittelt hat, ihre persönliche Erklärung. Der Beifall hat es gezeigt, dass uns die Worte von Wolfgang Thierse alle miteinander nicht nur bewegt, sondern wohl auch die Meinung des ganzen Parteitags richtig getroffen haben.

Ich denke, wir Sozialdemokraten im westlichen Teil der Stadt sollten ohnehin nicht den Finger erheben. Wir sind Gott sei Dank nie in diese Situation gekommen.

(Starker Beifall)

Respekt und Anerkennung, und das, was Wolfgang Thierse gesagt hat, Solidarität zeigen, und zwar jetzt sofort.

Ich stelle den Antrag auf Übergang zur Tagesordnung; das darf nicht weiter zerredet werden.

(Starker Beifall)

Präs. Michael   E l z e   : Spricht jemand gegen diesen Antrag? Das ist nicht der Fall. ‑ Dann ist das so beschlossen, dass wir nunmehr Punkt 3 der Tagesordnung beenden.

Ich rufe auf

Punkt 4 der Tagesordnung

Anträge

Bevor Kurt Neumann versucht, uns die Antragslage darzustellen, rufe ich aber Jürgen Kopschinski von der Mandatsprüfungskommission auf, der uns jetzt sagen wird, wie viele Genossinnen und Genossen hier anwesend sind.

Jürgen   K o p s c h i n s k i   (Mandatsprüfungskommission): Liebe Genossinnen und Genossen! Nach unseren Unterlagen haben von 311 gewählten Delegierten 210 den Weg heute hierher gefunden. Es kann aber sein, dass durch den doch recht frühen Anfangstermin und das frühe Einziehen der Listen an den Empfangsschaltern vielleicht der eine oder andere sich nicht in der Liste eingetragen hat bzw. noch nicht im Tagungsbüro, im Raum 26, war, um dort noch als anwesend eingetragen zu werden. Bitte, überprüft das noch im Laufe des Parteitags. Ich will die Sitzung nicht unnötig verlängern und sagen, dass von 311 Delegierten 210 anwesend waren, abgemeldet haben sich zwei, es müssten also noch 208 da sein. 65 Delegierte sind entschuldigt, demzufolge fehlen 36 unentschuldigt.

Präs. Ursula   L e y k   : Schönen Dank! ‑ Für die Antragskommission Kurt Neumann, bitte!

Kurt   N e u m a n n   (Antragskommission): Liebe Genossinnen und Genossen! Zu diesem Landesparteitag liegen insofern verschiedene Anträge vor, als wir den großen Batzen der Anträge als Überweisungen oder Vertagungen vom letzten Parteitag haben.

Es gibt einige wenige, ordentlich gestellte Anträge zu diesem Parteitag und eine kleinere Anzahl von Initiativanträgen, die wir behandeln müssen. Ich denke, dass es keinen Sinn hat, eine große, allgemeine Darstellung zu geben, insbesondere da sich das Interesse am Fortgang des Parteitags mir vor Augen sehr deutlich abspielt. Deshalb sollten wir sofort in die einzelnen Anträge hineingehen und mit der gebotenen Zügigkeit die Anträge behandeln, die keine so große Bedeutung für die politische Aussage dieser Partei haben, so dass wir auf die wichtigen, kontroversen und bedeutsamen Anträge, die auch Öffentlichkeitswirksamkeit haben, dann etwas mehr Zeit verwenden können.

Ich würde vorschlagen, dass wir nach dem Antragsbuch vorgehen, wo die Anträge abgedruckt sind, und dass wir danach die Initiativanträge nach laufender Nummerierung behandeln.

Präs. Ursula   L e y k   : Erhebt sich dagegen Widerspruch? Das ist nicht der Fall! ‑ Kurt!

Kurt   N e u m a n n   (Antragskommission): Ich bitte euch, Seite 1 des Antragsbuchs aufzuschlagen: Antrag 1/I/92 (Mitte), ihr seht die geänderte Fassung der Antragskommission. Wir schlagen vor, den Antrag in dieser Fassung anzunehmen.

Präs. Ursula   L e y k   : Gibt es Wortmeldungen dazu? ‑ Das ist nicht der Fall. Dann bitte ich diejenigen um ihr Kartenzeichen, die dem ihre Zustimmung geben möchten. ‑ Gegenprobe! ‑ Stimmenthaltungen? ‑ Das erste war eindeutig die Mehrheit, der Antrag ist angenommen.

Kurt   N e u m a n n   (Antragskommission): Antrag 20/III/91 (Neukölln), dort hatten wir in Vorbereitung des vorigen Parteitags die Beschlussempfehlung Annahme. Wir haben jetzt zur Kenntnis bekommen, dass sich dieser Antrag durch positive Entscheidung erledigt habe. Wir bitten, entsprechend zu befinden: Erledigt!

Präs. Ursula   L e y k   : Gibt es dazu Wortmeldungen? ‑ Hermann Borghorst! ‑ Ich bitte diejenigen, die sich bei der Antragsberatung zu Wort melden, sich vielleicht schon vorn aufzuhalten ‑ ihr wisst, wann ihr reden wollt ‑ bzw. etwas schneller zum Rednerpult zu kommen.

Hermann   B o r g h o r s t   (Neukölln): Liebe Genossinnen und Genossen! Ich bitte darum, dass über diesen Antrag heute abgestimmt wird, weil wir gern eine grundsätzliche Entscheidung für die Freihaltung der Friedhöfe in der Innenstadt haben wollen. Es ist zwar gegenwärtig ein konkreter Fall mit Wolfgang Nagel geklärt, dass ein Friedhof nicht bebaut werden sollte, aber wir haben mehrere Friedhöfe an der Hermannstraße, in der Neuköllner Innenstadt, und für uns ist dies eine Grundsatzfrage. Wir haben außerordentlich hoch verdichtetes Gebiet in der Innenstadt, und dieses bisschen Grün, das wir mit den Friedhöfen haben, wollen wir unbedingt erhalten. Deshalb ist die Sache nicht erledigt, sondern ich möchte gern, dass der Parteitag heute einen Grundsatzbeschluss für die Neuköllner Altstadt fasst.

(Vereinzelter Beifall)

Präs. Ursula   L e y k   : Gibt es weitere Wortmeldungen? ‑ Otto!

Otto   E d e l   (Schöneberg): Liebe Genossinnen und Genossen! Ich möchte gegen das Votum von Hermann Borghorst sprechen, diesen Antrag doch abstimmen zu lassen. Denn es kann ja wohl nicht sein, dass wir eine in der Stadt noch bevorstehende, außerordentlich schwierige Debatte über die neue Flächennutzung in Gesamtberlin an einem Punkt auf dem heutigen Parteitag für uns ‑ für die Sozialdemokraten ‑ und dann wahrscheinlich auch ‑ so meinst du das ja auch ‑ für die SPD‑Fraktion im Abgeordnetenhaus letztendlich abstimmen. Es wird in jedem Bezirk, in jedem der 23 Berliner Bezirke heftige Auseinandersetzungen über die einzelnen Fragen von Flächennutzungen geben. Der Kreis Neukölln will aber heute eine grundsätzliche Entscheidung über Friedhöfe in der Innenstadt haben, und das kann ich so nicht akzeptieren. Dann haben alle anderen Kreise auch das Recht, ihre Grundsatzfragen heute entschieden zu bekommen, und das kann wohl nicht Sinn dieser Debatte sein.

(Vereinzelter Beifall)

Präs. Ursula   L e y k   : Weitere Wortmeldungen? ‑ Heinz Buschkowsky.

Heinz   B u s c h k o w s k y   (Neukölln): Genossinnen und Genossen! Otto, ich bin über deine Aussage etwas überrascht, das kann es doch wohl nicht sein. In der Neuköllner Innenstadt leben 150 000 Menschen ohne eine einzige Grünfläche. Die Kirche kommt, weil sie Finanzprobleme hat und will sie bebauen, und zu aller Überraschung macht da auch noch die Senatsbauverwaltung mit. Das ist doch wohl ein Punkt, an dem man deutlich sagen muss: Nein, hier ist Schluss! Das ist doch keine Einzelfrage.

(Beifall)

Der Parteitag müsste eigentlich mit dieser Situation überhaupt nicht befasst werden, wenn hier der gesunde Menschenverstand schon längst gegriffen hätte. Ich kann alle nur einladen, sich die Innenstadt Neuköllns ‑ größer als ganz Kreuzberg ‑ ein einziges Mal anzusehen. Ich bitte euch, nehmt euch einen Stadtplan von Neukölln und seht hinein: Den einzigen grünen Fleck, den es dort gibt, sind die Kirchhöfe an der Hermannstraße, und das kann doch wohl nicht wahr sein, dass da auch noch zugebaut wird. Genossinnen und Genossen, dann müsst ihr euch über die Stimmergebnisse in der Neuköllner Innenstadt überhaupt nicht mehr wundern, wenn wir zu solchen Entscheidungen nicht mehr in der Lage sind.

(Beifall)

Präs. Ursula   L e y k   : Danke, Heinz! ‑ Gibt es weitere Wortmeldungen? ‑ Das ist nicht der Fall. Hermann Borghorst hat den Antrag auf Abstimmung gestellt. Ich lasse jetzt darüber abstimmen, ob der Antrag hier heute abgestimmt werden soll. Die Antragskommission hat gesagt, er soll als erledigt betrachtet werden, ihr habt Antrag auf Abstimmung gestellt.

Weil ihr alle so erstaunt guckt, erkläre ich es noch einmal. Ich lasse jetzt darüber abstimmen, ob hier heute dieser Antrag abgestimmt werden soll. Alternative ist: als erledigt erklärt. Ich bitte jetzt um das Kartenzeichen, wer über diesen Antrag hier heute abstimmen will. ‑ Gegenprobe! ‑ Das erste war eindeutig die Mehrheit.

Dann lasse ich über den Antrag abstimmen. Wer diesem seine Zustimmung geben möchte, den bitte ich um das Kartenzeichen! ‑ Gegenprobe! ‑ Stimmenthaltungen? ‑ Bei ganz wenigen Gegenstimmen und ganz wenigen Stimmenthaltungen so beschlossen!

(Beifall)

Kurt!

Kurt   N e u m a n n   (Antragskommission): Zum Antrag 21/III/91 (Neukölln) gibt es Änderungen, die schriftlich abgezogen werden sollen. Wenn ich das richtig sehe, liegt das noch nicht vor. Wir stellen deshalb den Antrag zurück.

Antrag 22/III/91 (Wilmersdorf): Die Antragskommission empfiehlt Überweisung an den zuständigen Fachausschuss.

Präs. Ursula   L e y k   : Dazu liegt mir eine Wortmeldung vor ‑ Monika Thiemen!

Monika   T h i e m e n   (Wilmersdorf): Ich spreche für den Kreis Wilmersdorf gegen die Überweisung an den Fachausschuss VIII. Wir möchten eine Überweisung an die Abgeordnetenhausfraktion haben, und zwar mit folgender Begründung: Es geht um die E‑I‑Kitas, die langsam aus den Gewerberäumen rausgehen, weil sie die wegen der Mieten nicht mehr bezahlen können. Wir brauchen deshalb keine weitere Diskussion in der SPD, sondern wir brauchen eine Diskussion in der Fraktion des Abgeordnetenhauses, wie Abhilfe geschaffen werden kann, damit diese E‑I‑Kitas weiterhin bestehen bleiben. Deshalb meinen wir: keine Überweisung an den Fachausschuss, sondern Überweisung an die Abgeordnetenhausfraktion mit der Bitte, in diesem Sinn tätig zu werden.

(Vereinzelter Beifall)

Präs. Ursula   L e y k   : Danke, Genossin Thiemen! ‑ Das Wort hat Silvia Pickert!

Silvia   P i c k e r t   (Prenzlauer Berg): Ich kann den Kreis Wilmersdorf verstehen, dass das Abgeordnetenhaus tätig werden soll. Aber ich muss sagen, wir sind schon tätig und haben eine Bundesratsinitiative gestartet, um die Gewerbemieten zu kappen. Mehr können wir nicht tun, das ist Bundesgesetz. Dann müsstet ihr eventuell auch sagen, was ihr von uns erwartet ‑ ich spreche für die Abgeordnetenhausfraktion.

Kurt   N e u m a n n   (Antragskommission): Wenn ich das richtig gelesen habe, handelt der Antrag nicht so sehr von den Gewerbemieten, sondern von anderen Problemen. Ich denke, der Fachausschuss ist schon ein richtiges Gremium. Um das Ganze zu beschleunigen, ist es sicherlich auch sinnvoll, das der Fraktion zu überweisen. Ich denke, die Antragskommission insgesamt würde dem zustimmen, wenn wir an beide überweisen: an den Fachausschuss und an die Fraktion.

(Vereinzelter Beifall)

Präs. Ursula   L e y k   : Gibt es weitere Wortmeldungen zu diesem Antrag? ‑ Wer der Empfehlung der Antragskommission folgen will ‑ Überweisung an den Fachausschuss und die Fraktion ‑, den bitte ich um das Kartenzeichen! ‑ Gegenprobe! ‑ Stimmenthaltungen? ‑ Bei wenigen Gegenstimmen und wenigen Stimmenthaltungen so beschlossen! ‑ Kurt!

Kurt   N e u m a n n   (Antragskommission): Der Antrag 21/III/91 (Neukölln) liegt euch jetzt in veränderter Fassung vor. Es geht im Wesentlichen darum, dass die Grundsätze der behutsamen Stadterneuerung auch auf die großen Plattenbausiedlungen angewendet werden sollen. Das ist mit Konsequenz hier durchgeführt. Die Antragskommission hat sich das ohne weiteres zu eigen gemacht. Ich denke, der Parteitag sollte das ohne große Debatte auch können.

Präs. Ursula   L e y k   : Hierzu liegt eine Wortmeldung vor ‑ Monica Schümer‑Strucksberg.

Monica   S c h ü m e r ‑ S t r u c k s b e r g   (Wilmersdorf): Wenn denn dies so ist, brauche ich auch nicht mehr zu reden. Ich plädiere heftig dafür, dass ihr die Erweiterung der behutsamen Stadterneuerung auf die Großsiedlungen ausdehnt. Lest den Text, dann wisst ihr, was ich meine. Ich denke, ich sollte eure Zeit nicht weiter in Anspruch nehmen.

(Vereinzelter Beifall)

Präs. Ursula   L e y k   : Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Dann bitte ich diejenigen um das Kartenzeichen, die dem Antrag in der Fassung der Antragskommission zustimmen wollen! ‑ Gegenprobe! ‑ Stimmenthaltungen? ‑ Bei einer Stimmenthaltung, die die Einstimmigkeit nicht aufhebt, ist dieser Antrag einstimmig angenommen! ‑ Kurt!

Kurt   N e u m a n n   (Antragskommission): Antrag 23/III/91 (13. Abt./Tempelhof) hat sich durch Zeitablauf und andere Entscheidungen erledigt. Dies kann der Parteitag eigentlich nur so feststellen.

Präs. Ursula   L e y k   : Ist damit festgestellt!

Kurt   N e u m a n n   (Antragskommission): Zu Antrag 24/III/91 (5. Abt./Prenzlauer Berg) schlagen wir die nebenstehende Fassung der Antragskommission vor. Ich denke, dass dies Linie des Parteitags ist.

Präs. Ursula   L e y k   : Gibt es dazu Wortmeldungen? ‑ Dann bitte ich diejenigen um das Kartenzeichen, die dem zustimmen möchten! ‑ Gegenprobe! ‑ Stimmenthaltungen? ‑ Dann ist das so beschlossen!

Kurt   N e u m a n n   (Antragskommission): Die Antragskommission geht davon aus, dass durch Annahme dieses Antrags der Antrag 51/III/91 (Lichtenberg) seine Erledigung gefunden hat.

Präs. Ursula   L e y k   : Gibt es Widerspruch? ‑ Dann ist das so!

Kurt   N e u m a n n   (Antragskommission): Bei Antrag 52/III/91 (Lichtenberg) hatten wir ursprünglich für Annahme votiert. In der Zwischenzeit hat es eine Bundesratsinitiative seitens des Senats gegeben, so dass wir davon ausgehen, dass der Antrag erledigt ist.

Präs. Ursula   L e y k   : Gibt es da Widerspruch? ‑ Dann ist das so festgestellt!

Kurt   N e u m a n n   (Antragskommission): Hinsichtlich des Antrags 26/III/91 (5. Abt./Prenzlauer Berg) empfiehlt die Antragskommission Annahme.

Präs. Ursula   L e y k   : Gibt es dazu Wortmeldungen? ‑ Das ist nicht der Fall! Dann bitte ich diejenigen um das Kartenzeichen, die dem zustimmen möchten. ‑ Gegenprobe! ‑ Stimmenthaltungen? ‑ Einstimmige Beschlussfassung!

Kurt   N e u m a n n   (Antragskommission): Bei Antrag 27/III/91 (1. Abt./Tempelhof) hat sich die Situation auch geändert: Es gibt eine Rechtsverordnung des Senats, die bei der Stellplatzpflicht kleinere und mittlere Betriebe bevorzugt. Wir gehen davon aus, dass deshalb dieser Antrag für erledigt erklärt werden kann.

Präs. Ursula   L e y k   : Gibt es da Widerspruch? ‑ Dann ist das so festgestellt!

Kurt   N e u m a n n   (Antragskommission): Damit ist auch der Antrag 28/III/91 (3. Abt./Wilmersdorf) erledigt.

Präs. Ursula   L e y k   : Ich gehe davon aus, dass auch da kein Widerspruch erfolgt ‑ Dann ist das so festgestellt!

Kurt   N e u m a n n   (Antragskommission): Hinsichtlich des Antrags 2/I/92 (Mitte) empfehlen wir Annahme, damit diese Forderung in die Diskussion um die Gesamtproblematik des Vermögensgesetzes Eingang finden kann.

Präs. Ursula   L e y k   : Gibt es dazu Wortmeldungen? ‑ Das ist offensichtlich nicht der Fall. Dann bitte ich diejenigen um das Kartenzeichen, die dem zustimmen möchten! ‑ Gegenprobe! ‑ Stimmenthaltungen? ‑ Dann ist das einstimmig so beschlossen!

Kurt   N e u m a n n   (Antragskommission): Hinsichtlich des Antrags 3/I/92 (Abt. 6, Steglitz) haben wir uns nach einigem Hin und Her in der Diskussion für Annahme entschieden. Ich bitte, dies der allgemeinen Diskussion gern anheim zu geben. Die Frage ist, ob der Vergleich von Abgeordneten und Rentnern, da angemessen ist ‑ ich hatte Zweifel.

(Vereinzelter Beifall)

Was die Höhe der Diäten angeht, kann man bei der Angleichung an die Renten möglicherweise besser bei wegkommen, als das im Augenblick der Fall ist. Ich gehe jedenfalls davon aus, dass in Berlin die Diäten der Abgeordneten nicht so überhöht sind wie möglicherweise in anderen Bereichen. Eine Erhöhung, die irgendwo anknüpft, denke ich, sollten wir den Abgeordneten zugestehen. Allerdings wird man noch weiter diskutieren müssen, wie das geschehen kann. Also, die Antragskommission empfiehlt Annahme.

Präs. Ursula   L e y k   : Hierzu liegen zwei Wortmeldungen vor: zuerst Monika Thiemen, ihr folgt Jochen Bullke.

Monika   T h i e m e n   (Wilmersdorf): Liebe Genossinnen und Genossen! Ich spreche mich zurzeit gegen die Annahme dieses Antrags aus. Die Zielsetzung bzw. Richtung dieses Antrags ist mir nicht ganz klar. Soll hierdurch der Anstieg der Diäten gebremst werden? Oder soll in der Öffentlichkeit der so beklagten Selbstbedienung ein Ende gesetzt werden? Ich halte es nicht für richtig, die Diäten unserer Abgeordneten an die Rentenanpassungen zu koppeln. Es macht nämlich einen sehr großen Unterschied, ob ich eine Durchschnittsrente von 1 860 DM um 2,71 % zum 1. 7. 1992 erhöhe oder ob ich die Abgeordnetendiät, die 4 780 DM beträgt, anpasse und dazu auch noch die Kostenpauschale erhöhe.

Hinzu kommt, dass sich unsere Parlamentarier und Parlamentarierinnen in den letzten Jahren keine Diätenerhöhung bewilligt haben. Außerdem gibt es in Berlin eine unabhängige Kommission, die eine Empfehlung ausspricht, in welcher Höhe die Abgeordnetenhausdiäten erhöht werden können. Es bleibt dann im freien Ermessen der Abgeordneten, dieser Empfehlung zu folgen oder auch nicht. In diesem Jahr sind sie zum wiederholten Mal dieser Empfehlung nicht gefolgt.

Ich halte es für sehr wichtig, über die Entlohnung unserer Abgeordneten zu diskutieren, jedoch sollte die Diskussion zuerst darüber geführt werden, ob wir weiterhin Halbtagsparlamentarier oder zukünftig Volltagsparlamentarier haben wollen.

(Vereinzelter Beifall)

Im zweiten Schritt müssen wir dann diskutieren, wie wir eine leistungsgerechte Entlohnung unserer Parlamentarier gewährleisten können, und erst im dritten Schritt sollten wir uns Gedanken machen, in welcher Art und Weise wir laufend die Diäten unserer Abgeordneten an die allgemeine Einkommensentwicklung anpassen.

Ich möchte also nicht den dritten Schritt vor dem ersten tun und bitte daher um Überweisung dieses Antrags in den Landesvorstand mit der Bitte, uns eine entsprechende Regelung hier vorzulegen, damit wir darüber insgesamt diskutieren und abstimmen können. ‑ Danke!

(Beifall)

Präs. Ursula   L e y k   : Danke, Monika! ‑ Ihr folgt Jochen Bullke.

Jochen   B u l l k e   (Steglitz): Genossinnen und Genossen! Ich bin der Antragsteller, spreche also für den Kreis Steglitz und dort für die Abteilung 6. Das Stichwort ist eben schon genannt worden: Unter der Überschrift „verlorenes Vertrauen“ ist uns an den Info‑Ständen im vergangenen Wahlkampf ‑ und ich füge hinzu: auch in den Jahren zuvor ‑ aus unterschiedlichstem Anlass ‑ nicht nur aus Berliner Anlässen, ich erinnere an das Saarland und Hamburg ‑ immer wieder und vor allem von älteren Menschen entgegengehalten worden, dass Politik oder Politiker ‑ und da wurden auch wir in den Topf geworfen mit Politkern und politischen Menschen anderer Parteien ‑ ihr Handwerk als das verstehen, was eben meine Vorrednerin als eine Selbstbedienungsmentalität bezeichnet hat.

Und weil die Stichworte „mangende Glaubwürdigkeit“, „fehlende soziale Gerechtigkeit“ und „dringender Handlungsbedarf“ heute schon mehrmals gefallen sind: Wenn wir diesen Antrag positiv bescheiden ‑ und der heißt doch nur, dass die Erhöhungen nicht über dies hinausgehen sollen ‑, denke ich, fällt es uns in der Zukunft leicht, auf entsprechende Fragen durch besorgte Bürgerinnen und Bürger glaubhaft zu argumentieren. Ich bitte euch dringend um die Annahme des Antrags.

Präs. Ursula   L e y k   : Als nächster hat Ralf Hillenberg das Wort!

Ralf   H i l l e n b e r g   (Weißensee): Genossinnen und Genossen! Dieses Diätenthema tut mir schon seit geraumer Zeit weh. Wenn ich diesen Antrag sehe, bei dem man also Abgeordnete und Rentner versucht in einen Topf zu werfen, dann finde ich ihn, es tut mir leid, vom Inhalt her nicht besonders glücklich, um es etwas vornehm auszudrücken.

Wir regen uns über die Höhe der Diäten auf und auch viel mehr darüber, wie die Höhe eigentlich zustande kommt. Ich persönlich finde es unmöglich, dass wir selbst gezwungen sind, über unsere Einkünfte zu entscheiden. Das kann nicht der Sinn der Sache sein. Wenn wir aber über die Höhe der Diäten sprechen, habe ich dazu eine andere Meinung. Ich arbeite außerdem noch in der freien Wirtschaft ‑ damit spreche ich auch den zweiten Punkt an, nämlich Halbtagsbeschäftigung ‑ in einem relativ guten Job und verdiene dort weitaus mehr als ich das als Politiker tue. Wer redet hier eigentlich über Zahnärzte, die 300 000 DM im Jahr bekommen? Wer redet hier über Manager, über Leute, denen Zeitungen unterstehen? Wer redet eigentlich über diese Leute, die letztendlich zwar keine Steuergelder bekommen, aber von uns allen in irgendeiner Form bezahlt werden? Wer redet über die?

Wenn wir es weiterhin so machen, dass wir die Diäten beispielsweise zurückfahren: Wer, der ein vernünftiges Gehalt bekommt, kann es sich denn überhaupt noch leisten, Politiker zu werden? Das muss ich euch einmal fragen. Wer kann sich das denn leisten? Begeben wir uns nicht vielmehr in die Gefahr, dass wir eine Klientel ‑ so, wie es bei uns im Abgeordnetenhaus ist ‑ der Leute aus dem öffentlichen Dienst werden? Wie zum Beispiel der Lehrer: Warum ist denn ein überdurchschnittlicher Anteil Lehrer bei uns in der Fraktion? Ich will dabei diese Leute nicht angreifen, aber es muss doch darüber nachgedacht werden, weshalb das eigentlich so ist. Ich persönlich wäre eher dafür, dass wir versuchten, eine große, breite Masse, verschiedene Strukturen in diesem Parlament zu haben, um verschiedene Richtungen zu hören und nicht, dass die Diäten ein Ansporn wären für jemand, der wenig Geld bekommt, Politiker zu werden wegen des Geldes. Das wäre irgendwo ganz schlimm.

Ich spreche hier mit zwei verschiedenen Inhalten, wäre dafür, dass dieser Antrag in die Fraktion überwiesen wird, damit wir dort darüber reden können. Wir haben ja nun beschlossen, dieses Jahr die Diäten nicht zu erhöhen. Ich halte diesen Antrag ‑ nehmt es mir nicht übel ‑ für nicht besonders glücklich. Ich bitte, ihn deshalb abzulehnen, weil diese Koppelung nicht besonders schön ist.

(Vereinzelter Beifall)

Präs. Ursula   L e y k   : Ditmar Staffelt! Ditmar, bevor du das Wort ergreifst: Ich bitte die Genossinnen und Genossen, die sich im Gang unterhalten, das entweder in einer Lautstärke zu tun, so dass die anderen Genossinnen und Genossen, die mitarbeiten wollen, dem Geschehen folgen können, oder diese Gespräche draußen zu führen.

(Vereinzelter Beifall)

Ditmar   S t a f f e l t   (Tempelhof): Sehr gut! ‑ Ich will hier keine Diätendebatte vom Zaun brechen; denn wir wissen alle, dass solche Debatten oft sehr lang und sehr emotional geführt werden. Ich will, damit das auch alle noch einmal verinnerlichen, nur ganz aktuell darauf hinweisen, dass die SPD‑Fraktion des Abgeordnetenhauses das zweite Mal eine Null‑Runde beschlossen hat, und zwar sehr solidarisch in der Fraktion.

(Beifall)

Das sollte, bitte schön, auch einmal sehr offensiv an den Info‑Ständen und sonstwo vermittelt werden. Denn als Vertreter einer Berliner Fraktion habe ich, um es ganz offen zu sagen, keine Lust, mir ständig das Zugriffsverfahren anderer Parlamente wie in Hamburg oder gegebenenfalls auch in Brandenburg an die Backe kleben zu lassen.

(Vereinzelter Beifall)

Der zweite Punkt ist der, dass dieser Antrag sehr hübsch und sehr einfach ist. Leider ‑ und das ist auch das Problem der Diskussion auf der Straße ‑ ist das Problem sehr viel schwieriger. Wir dürfen uns eben im Moment nicht an eine ‑ sagen wir mal ‑ Tarifgruppe, Branche, an einen Tarifabschluss ankoppeln. Ebenso können wir uns nicht an Rentenerhöhungen ankoppeln, sondern es bedarf jeweils des Beschlusses des Abgeordnetenhauses, um eine Diätenerhöhung zu realisieren ‑ so die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Das können wir alle beklagen, aber ich meine, dass wir diesen Antrag hier nicht beschließen, sondern es vielmehr der parlamentarischen Enquete‑Kommission, die derzeit dabei ist, die Veränderungen des Berliner Parlaments ‑ darüber hinaus auch Verfassungsänderungen ‑ zu bearbeiten, zu überarbeiten und neu zu gestalten, überlassen sollten, zu welchem Ergebnis sie kommt. Deshalb wäre mein Petitum: diesen Vorschlag an die Fraktion überweisen, von mir aus auch an den Landesvorstand, und dann zu gegebener Zeit eine Entscheidung in der Sache herbeiführen.

Ich will nur als letztes sagen ‑ nichts gegen Rentner ‑: Ich hoffe, dass dieser Ankoppelungsvorschlag ‑ man hätte sich ja auch ÖTV‑ oder den Durchschnitt der Tarifabschlüsse vorstellen können ‑ nichts mit dem Eindruck über die Tätigkeit und die Aktivität der SPD‑Fraktion im Abgeordnetenhaus zu tun hat.

(Vereinzelter Beifall)

Präs. Ursula   L e y k   : Ditmar, wir gehen davon aus, dass, wenn schon, dann sehr rüstige Rentner gemeint sind. Zur Klarstellung: Du hast gesagt, Fraktion oder Landesvorstand; irgendwo müsstest du dich festlegen.

(Zuruf von Ditmar Staffelt)

Beides, okay!

Es ist also Überweisung an Fraktion und Landesvorstand beantragt worden. Ich lasse jetzt darüber abstimmen. Wer diesen Antrag an die Fraktion und den Landesvorstand überweisen möchte, den bitte ich um das Kartenzeichen! ‑ Gegenprobe! ‑ Stimmenthaltungen? ‑ Bei ganz wenigen Gegenstimmen so beschlossen! ‑ So, Kurt!

Kurt   N e u m a n n   (Antragskommission): Zu Antrag 13/I/92 (Abt. 1 a/b, Charlottenburg) empfiehlt die Antragskommission einmütig Annahme.

Präs. Ursula   L e y k   : Gibt es dazu Wortmeldungen? ‑ Das ist nicht der Fall! Dann bitte ich diejenigen um das Kartenzeichen, die dem zustimmen möchten. ‑ Gegenprobe! ‑ Stimmenthaltungen? ‑ Bei einigen Stimmenthaltungen einstimmige Beschlussfassung.

Kurt   N e u m a n n   (Antragskommission): Zu Antrag 9/III/91 (Wilmersdorf) empfiehlt die Antragskommission Überweisung an den Fachausschuss, und zwar deswegen, weil wir denken: Selbst wenn man der Auffassung ist, dass der Verfassungsschutz abzuschaffen sei, wird man dazu einige Worte mehr sagen müssen, als dass er abzuschaffen sei. Ob z. B. bestimmte Aufgaben nicht anderweitig erfüllt werden müssen, kann sachgerecht, dachten wir, nur der zuständige Fachausschuss erarbeiten, möglicherweise eine oder alternative Konzeptionen erarbeiten.

Präs. Ursula   L e y k   : Hierzu gibt es Wortmeldungen ‑ zuerst Carl Chung!

Carl   C h u n g   (Charlottenburg): Im Prinzip stimme ich dir und dem, was die Antragskommission befunden hat, zu. Nur kann ich mich daran erinnern, dass wir aus Charlottenburg auch schon einmal einen Antrag zum Verfassungsschutz gestellt haben, in dem etwas mehr und Umfassenderes stand, und der ist auch an den Fachausschuss überwiesen worden. Ich frage mich, was mit den ganzen Anträgen passiert ist, und würde um eine Rückmeldung aus dem Fachausschuss zumindest zum nächsten Parteitag bitten; ansonsten ist das nur irgendwie ein Wegtragen von Papier.

(Beifall)

Präs. Ursula   L e y k   : Carl, der Appell ist aufgenommen! ‑ Bettina Michalski hat das Wort!

Bettina   M i c h a l s k i   (Kreuzberg): Genau da knüpft meine Frage an: Gibt es irgendein formales Instrument ‑ im Verwaltungsdeutsch nennt man das, glaube ich, Wiedervorlage, abgekürzt WVl ‑, gibt es irgendeine Möglichkeit, dass wir sagen, wir wollen bis zum nächsten Parteitag einen ausformulierten Antrag hier vorgelegt bekommen, über den wir dann diskutieren und entscheiden können? Es geht nicht, dass wir unsere Entscheidungskompetenz irgendwo hindelegieren und dann in irgendwelchen Jahresberichten hören, wie das dann erledigt oder nicht erledigt wurde.

(Vereinzelter Beifall)

Präs. Ursula   L e y k   : Kurt Neumann!

Kurt   N e u m a n n   (Antragskommission): Das ist ja richtig, aber das bringt uns nicht dazu, dass wir hier sagen können, wir beschließen, dass der Verfassungsschutz abgeschafft wird. Wir brauchen eine Konzeption. Ich könnte mir vorstellen, dass die Kreise auch in den Fachausschüssen vertreten sind, denn groß genug sind sie, meiner Kenntnis nach. Dann muss über die eigenen Vertreter in den Fachausschüssen nachgefragt, nachgesetzt, und es muss gearbeitet werden. Aber so ein nackter Antrag ohne differenzierende Aussagen kann vom Landesparteitag nicht beschlossen werden, weil die Konsequenzen doch überhaupt nicht absehbar sind.

Ich bin sehr offen dafür, und ich sage meine persönliche Meinung jetzt auch einmal: Diejenigen, die den Verfassungsschutz aufrechterhalten wollen, tragen die Beweislast dafür, dass er notwendig ist und dass er demokratisch funktionieren kann. Aber schlicht die Abschaffung hier per Parteitagsbeschluss zu dekretieren, geht nicht; da muss auch von denen vorgearbeitet werden, die da sagen, dass sie das auch für richtig halten, dass ein Gesamtkonzept her muss. Dann lasst es uns machen, arbeitet mit in den Fachausschüssen, und dann lasst uns das Ergebnis sehen. Und auf dem Jahresparteitag muss berichtet werden, wie mit den Anträgen verfahren worden ist. Hier die Nachbesserungen machen, das werden wir wirklich nicht schaffen, insbesondere wenn ich mir die Besetzung anschaue.

Präs. Ursula   L e y k   : Kurt, unabhängig davon, denke ich, kann man bei der Überweisung das Petitum des Parteitags mitgeben, dass solche Arbeitsaufträge in angemessener Zeit erledigt werden. Ich glaube, darauf haben alle Antragsteller einen Anspruch, ich sage das pauschal.

Jetzt haben wir noch zwei Wortmeldungen: Ditmar Staffelt, ihm folgt Monica Schümer‑Strucksberg!

Ditmar   S t a f f e l t   (Tempelhof): Ich will das Verfahren hier nicht großartig aufhalten. Ich finde, Überweisung ist das Mindeste.

Ich bitte die Antragsteller, noch einmal sehr genau ‑ unabhängig von der rechtlichen Lage, die es in diesem Zusammenhang auch gibt ‑ zu überlegen, ob wir in einer Phase der Bedrohung durch den Rechtsradikalismus so ohne weiteres, mit einem Federstrich, eine Institution wie den Verfassungsschutz beseitigen sollten. Ich sage: Diese Demokratie muss wehrhaft auftreten, und dazu bedarf es auch eines solchen Verfassungsschutzes!

Zweifelsohne hat dieser Verfassungsschutz in den letzten Jahren leider Gottes viel zu wenig Sinnvolles produziert. Erich Pätzold hat mit der Reform des Verfassungsschutzes begonnen. Wir müssen ihn personell reduzieren. Wir müssen ihn mit anderen Aufgaben versehen. Wir müssen ihn sehr viel mehr darauf vorbereiten, die Aufgaben tatsächlich wahrzunehmen. Aber ihn zu beseitigen, würde bedeuten, dass wir uns eines wichtigen Instruments berauben, die Extremisten in diesem Land bekämpfen zu können. Und ich will den Rechtsextremismus bekämpft wissen, der im Übrigen im Moment die einzige Bedrohung ist; keine andere in dieser Form gibt es in der politischen Landschaft der Bundesrepublik Deutschland.

Deshalb sage ich, das Mindeste ist Überweisung, und dann lasst uns im Fachausschuss der Partei und auch im Arbeitskreis I der Fraktion weiter darüber reden, wie wir im einzelnen vorgehen, wie wir ihn gestalten und welche Aufgaben wir ihm tatsächlich zubilligen.

(Vereinzelter Beifall)

Präs. Ursula   L e y k   : Wenn ich das richtig mitbekommen habe, verzichtet Monica Schümer‑Strucksberg. ‑ Hans‑Georg Lorenz!

Hans‑Georg   L o r e n z   (Spandau): Genossinnen und Genossen! Ich bin nicht der Vorsitzende des Fachausschusses, sondern nur Mitglied in diesem Fachausschuss, und dieser Fachausschuss hat sich mit dem Thema Verfassungsschutz nun reichlich beschäftigt. Das tut auch die Abgeordnetenhausfraktion, die gerade jetzt ein neues Gesetz, eine Änderung des Gesetzes über das Landesamt für Verfassungsschutz, als Novelle einbringen wird.

Im Gegensatz zu dem, was viele gedacht haben, dass wir dieses Gesetz, das wir unter Erich Pätzold als das modernste und am wenigsten die Rechte der Bürger beschneidende Gesetz erarbeitet haben, jetzt vielleicht wieder zurückstufen würden ‑ so hatte es sich ein Teil der CDU vorgestellt ‑, werden wir dieses Gesetz in dem Sinn, wie wir es unter Erich Pätzold begonnen haben, fortsetzen: Der Verfassungsschutz wird weniger Rechte haben, als er jemals in der Geschichte dieser Stadt gehabt hat. Wir werden ihm nicht die Rechte geben, in die Privatsphäre der Bürger hineinzugehen, und wir werden ihm alle Instrumentarien dazu wegnehmen.

Aber ich sage auch: Es gibt einen Bundesverfassungsschutz; es gibt eine Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, die diese Institution vorsieht und die folglich auch in den Ländern ein Pendant hat. Selbst wenn man diesen Verfassungsschutz zu einem besseren Informationsamt macht ‑ was ich mir sehr gut vorstellen könnte ‑, zu einem Amt, das mit öffentlich zugänglichen Quellen auf wissenschaftlicher Basis Analysen für die Öffentlichkeit fertigt, selbst dann brauchen wir dieses Amt. Diese simple Abschaffung einer Institution wird nicht gehen. Deshalb finde ich, sollte man ‑ auch wenn man diesen Antrag jetzt überweist, wofür ich bin ‑ wissen, dass dieser Antrag, jedenfalls in dieser Form, überhaupt nicht in Betracht kommt.

Präs. Ursula   L e y k   : Gibt es weitere Wortmeldungen? ‑ Das ist nicht der Fall! Es ist von Ditmar Staffelt zusätzliche Überweisung an die Fraktion beantragt worden.

(Kurt Neumann (Antragskommission): Übernehmen wir!)

Wird übernommen! Dann darf ich diejenigen um das Kartenzeichen bitten, die dem ihre Zustimmung geben möchten, das heißt jetzt: Überweisung an den Fachausschuss und an die Fraktion. ‑ Gegenprobe! ‑ Stimmenthaltungen? ‑ Bei einigen Gegenstimmen und wenigen Enthaltungen so beschlossen!

Kurt   N e u m a n n   (Antragskommission): Zu Antrag 10/III/91 (Wilmersdorf) zwei Sätze. Der erste Satz bezieht sich auf den Haushalt 1992, das ist erledigt. Im zweiten Satz geht es darum, dass man vielleicht noch einmal mit der CDU redet ‑ wie erfolgversprechend das ist, ist zweifelhaft ‑, die Freiwillige Polizei‑Reserve abzuschaffen. In der Antragskommission war wenig Verständnis dafür ‑ das haben wir auch schon vor dem vorigen Parteitag beraten ‑, dass überall gespart werden soll und eine ebenso teure wie nutzlose Institution aufrechterhalten wird.

Präs. Ursula   L e y k   : Hierzu habe ich zwei Wortmeldungen: Andreas Pompetzki, ihm folgt Hans‑Georg Lorenz!

Andreas   P o m p e t z k i   (Wilmersdorf): Ich habe nur eine Frage an die Antragskommission. Im Vorfeld möchte ich klarstellen, dass ich bisher kein Verfechter der Freiwilligen Polizei‑Reserve war, aber dennoch solche Sätze wie „eine kostspielige und unnütze Organisation“ erst einmal, wenn sie nur so gesagt werden, in Frage stelle. Meine Frage: Stimmt es, dass zurzeit ein neues FPR‑Gesetz im Abgeordnetenhaus ist und bereits durch die I. Lesung gegangen ist, so dass, wenn wir jetzt diesen Antrag beschließen, eigentlich alles ad absurdum ist: entweder das, was wir hier beschließen oder das, was die Abgeordnetenhausfraktion beschließt?

Präs. Ursula   L e y k   : Danke! ‑ Hans‑Georg Lorenz wird das sicher gleich beantworten.

Hans‑Georg   L o r e n z   (Spandau): Wir werden noch vor der Sommerpause, wenn das richtig funktioniert, ein neues FPR‑Gesetz haben. Es ist richtig, dass die CDU jedenfalls diesen Punkt, den ich eher marginal finde, als einen ganz zentralen Punkt ihrer Koalitionsvereinbarung ansieht. Aus welchen Gründen auch immer, hängt sie sehr an dieser Institution und hat auch für dieses Zugeständnis unsererseits relativ hohe Preise bezahlt ‑ das wird jeder hier bestätigen, der an den Koalitionsverhandlungen im Bereich Inneres teilgenommen hat. Also, die CDU wird darauf bestehen; insofern ist diese Empfehlung mehr oder weniger abstrakt und wird jedenfalls keine konkrete Entsprechung in den Handlungen des Abgeordnetenhauses haben können. Denn ihr alle habt auch diese Koalitionsvereinbarung beschlossen, und man muss sich dann wohl doch an diesen Beschlüssen auch orientieren, wenn man gemeinsame Vereinbarungen damit verbunden hat.

Ich möchte im Übrigen noch eines sagen: Auch die SiP, also die Sozialdemokraten in der Polizei, auch andere überlegen sich, ob sie ein anderes Verhältnis zu dieser Institution gewinnen. Das liegt simpel daran, dass die Polizei große Nachwuchssorgen hat und auch so viele höhere Qualifikationen an die Polizisten gestellt werden müssen, dass wir diese Laufbahn der Polizei ändern werden. Wir werden eine zweigeteilte Laufbahn haben, und die Polizisten werden in den gehobenen Dienst als Eingangsstufe eintreten. Das bedeutet, dass die Polizei erheblich qualifizierter, allerdings auch, was den einzelnen Polizisten betrifft, erheblich teurer sein wird.

Wir werden uns dann überlegen müssen, ob es tatsächlich angeht, dass ein Polizist, der fast so gut bezahlt wird wie ein Lehrer ‑ ja, dann fast so gut bezahlt wird wie ein Lehrer ‑, an der Kreuzung steht und den Schülerlotsen dabei zusehen darf, wie sie ihre Mitschülerinnen und Mitschüler über die Kreuzung führen. Man wird sich auch überlegen müssen, ob man da nicht billigere Lösungen findet. Ich sage mal: Der Vermerk darauf, dass die Freiwillige Polizei‑Reserve, die das nun wirklich tun könnte, ein teureres Instrumentarium wäre, ist absolut falsch.

Ich sage ein zweites: Wenn wir hier kritiklos hinnehmen, wie immer weitere Teile der öffentlichen Sicherheit privaten Institutionen überantwortet werden ‑ und wir dies teilweise sogar mit hohen Summen bezahlen, wie beispielsweise den Schutz in S‑ und U‑Bahn, der von zweifelhaften Institutionen mit 20 Millionen DM öffentlicher Mittel durchgeführt wird, und zwar Jahr für Jahr ‑, wer dies klaglos hinnimmt, muss sich überlegen, ob wir es nicht vielleicht billiger, besser und vielleicht auch von der Öffentlichkeit kontrollierbarer ‑ denn die FPR ist wenigstens ein Instrumentarium, das von uns kontrolliert werden kann ‑ mit solchen Institutionen schaffen können, als dass wir das dubiosen Institutionen privater Sicherheit überantworten.

Ich sage: Mir wäre es lieber, wir würden diesen Antrag an den Fachausschuss übergeben, damit er uns ein Konzept zur Gestaltung der inneren Sicherheit insgesamt übergibt. Dann würden wir vielleicht auch zu einem Gesamtkonzept kommen, das hier in dieser Runde auch einmal verantwortlich diskutiert werden könnte, wie ich überhaupt der Meinung bin, dass wir demnächst einmal über die innere Sicherheit sprechen müssen; denn dass daran Wahlen gewonnen und verloren werden, davon kann unsere Koalitionspartei ein wirkliches Lied singen: jetzt nun auch wieder ein trauriges für sie ‑ nicht für uns ‑, aber für sie ein trauriges. Also, das ist ein gefährliches Thema, wir sollten es mit Verantwortungsbewusstsein diskutieren und hier auch verantwortungsbewusst beschließen.

(Vereinzelter Beifall)

Präs. Ursula   L e y k   : Danke, H.‑G.! ‑ Als nächster hat Kurt Neumann das Wort!

Kurt   N e u m a n n   (Antragskommission): Ich höre mit Interesse, dass es da eine parlamentarische Initiative gibt. Es wäre gut, wenn das besser in die Antragskommission hineinvermittelt wird.

(Vereinzelter Beifall)

Es ist nicht ganz einfach, das dann zu diskutieren. H.‑G., die Information, dass die Freiwillige Polizei‑Reserve teuer und unnütz ist, stammt von den Innenpolitikern, zu denen du auch gehört hast. Es mag sein, dass jetzt Änderungen geplant sind, aber ich würde um eines bitten, dass die Freiwillige Polizei‑Reserve nicht den Verkehr regelt, weil du sagtest, die Polizisten wären zu teuer für die Verkehrsregelung.

Dein ganzer Beitrag, H.‑G., zeigt mir, dass du mit der Schlussfolgerung recht hast: Wir müssen dies wohl an den Fachausschuss überweisen, wir müssen uns als Partei auch damit intensiv beschäftigen, womit ich meine, wir müssen nicht alle dem zustimmen, was du eben ausgeführt hast. Deswegen würde ich als Person sagen: nicht so befassen, wie wir es vorgeschlagen haben, sondern an den Fachausschuss überweisen, damit die Partei sich danach wieder intensiv damit beschäftigen kann.

(Vereinzelter Beifall)

Präs. Ursula   L e y k   : Bevor ich Ditmar Staffelt das Wort gebe, möchte ich eine Bitte aus dem Kreis der Delegierten weitergeben, doch, bitte, hier im Raum auf das Rauchen zu verzichten. ‑ Ditmar!

(Beifall)

Ditmar   S t a f f e l t   (Tempelhof): Genossinnen und Genossen! Die SPD‑Fraktion hat sich über die letzten Monate stramm ‑ obwohl in der Koalitionsvereinbarung die Weiterexistenz der Freiwilligen Polizei‑Reserve vereinbart war ‑ öffentlich gegen die Aufrechterhaltung der Freiwilligen Polizei‑Reserve ausgesprochen, weil dieser Landesparteitag es so beschlossen hatte. Ich sage für mich: Es bleibt dabei!

Nur, wir können uns als SPD‑Fraktion nicht auf Dauer verweigern, ein entsprechendes Gesetz über die Freiwillige Polizei‑Reserve zu verabschieden, und das wird in allernächster Zeit geschehen müssen. Deshalb verstehe ich den zweiten Absatz als Aufforderung, diesen Gedanken weiter zu betreiben, aber nicht als einen Auftrag zur Verhinderung der Verabschiedung des Gesetzes. Darum bitte ich euch, und dann haben wir uns recht verstanden.

Präs. Ursula   L e y k   : Es gibt keine weiteren Wortmeldungen. H.‑G. hat beantragt, an den Fachausschuss zu überweisen. Wer dem folgen möchte, den bitte ich um das Kartenzeichen! ‑ Gegenprobe! ‑ Das erste war die Mehrheit, damit ist an den Fachausschuss überwiesen!

Kurt   N e u m a n n   (Antragskommission): Antrag 11/III/91 (Steglitz) ist durch Zeitablauf und Praxis erledigt.

Präs. Ursula   L e y k   : Ist damit festgestellt!

Kurt   N e u m a n n   (Antragskommission): Antrag 12/III/91 (Kreuzberg) ist durch die eben erfolgte Beschlussfassung zu Antrag 10 erledigt.

Präs. Ursula   L e y k   : Dann ist das auch so festgestellt!

Kurt   N e u m a n n   (Antragskommission): Auch bei Antrag 63/III/91 (Abt. 2/Steglitz) ‑ es geht um den Bundesgrenzschutz ‑ waren wir der Auffassung, dass dieser an den Fachausschuss zu überweisen ist, damit hier genauere Konzeptionen erarbeitet werden können, die nach Vorliegen dann möglicherweise in Bundesratsinitiativen eingearbeitet werden könnten.

Präs. Ursula   L e y k   : Hierzu gibt es keine Wortmeldungen! Ich bitte diejenigen um das Kartenzeichen, die dem folgen wollen! ‑ Gegenprobe! ‑ Stimmenthaltungen? ‑ Wird an den Fachausschuss überwiesen! ‑ Kurt!

Kurt   N e u m a n n   (Antragskommission): Zu Antrag 4/I/92 (Abt. 4, Wilmersdorf) empfiehlt die Antragskommission Annahme.

Präs. Ursula   L e y k   : Gibt es dazu Wortmeldungen? ‑ Das ist nicht der Fall. Dann bitte ich diejenigen um das Kartenzeichen, die dem zustimmen möchten! ‑ Gegenprobe! ‑ Stimmenthaltungen? ‑ So beschlossen!

Kurt   N e u m a n n   (Antragskommission): Zu Antrag 31/III/91 (Wilmersdorf) empfiehlt die Antragskommission ebenfalls Annahme. Es hat im Vorfeld der Diskussion Hinweise gegeben, dass auch andere Menschen von Gewalt in öffentlichen Verkehrsmitteln bedroht sein könnten. Das hat uns aber nicht davon abgebracht, dieser richtigen Entscheidung unsere Zustimmung zu verweigern.

Präs. Ursula   L e y k   : Hierzu liegen bereits zwei Wortmeldungen vor: Carl Chung, Charlottenburg, im folgt Klaus‑Dieter Spiel, auch Charlottenburg.

Carl   C h u n g   (Charlottenburg): Ich kann verstehen, aus welchen Motiven dieser Antrag gestellt wird. Ich kann die Angst der Frauen verstehen. Ich glaube, ich kann das jetzt, seit einem oder zwei Jahren, besser verstehen, als ich das früher verstehen konnte. Ich glaube aber, dass ihr in Betracht ziehen solltet, wenn ihr über diesen Antrag abstimmt, nicht, wie Kurt gesagt hat, es ist eine Sache, diesen Antrag zu beschließen, eine andere, wer noch alles betroffen ist. Vorhin in der Generaldebatte wurde beklagt, dass Ost und West aneinander vorbei leben. Ich tue das, weil ich die Hälfte des U‑ und des S‑Bahnnetzes nicht benutze. Ich bin betroffen ‑ nicht als Ausländer, sondern weil ich einen koreanischen Vater habe; ganz einfach nennt man das am besten Rassismus. Die Bedrohung, die mir entgegenschlägt, hat nichts mit der Staatsangehörigkeit zu tun, sondern etwas mit dem Arier‑ oder Nichtarier‑Begriff in deutscher Tradition.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sicherheit in sozialdemokratischer Politik zu einer Frage von Gruppeninteressen werden kann, in der unterschiedlich Betroffene dann unterschiedlich behandelt werden. Ich denke, dass Sicherheit für uns eine gesellschaftliche Frage ist, eine Frage für alle.

Wir haben vorhin festgestellt ‑ in den Fragen Freiwillige Polizei‑Reserve, Verfassungsschutz und Bundesgrenzschutz ‑, dass wir in der Frage Sicherheit ‑ innere Sicherheit, öffentliche Sicherheit ‑ Diskussions‑ und Klärungsbedarf haben. Ich bitte, diese Diskussion zu führen, eine umfassende Diskussion zu führen, in der es auch um die öffentliche Sicherheit in den öffentlichen Verkehrsmitteln gehen muss. Ich denke da an Belebung, Beleuchtung und auch Bewachung in den verschiedenen Formen ‑ ich möchte jetzt die Diskussion von vorhin nicht wiederholen.

Ich glaube aber, das Wichtigste, um Sicherheit zu gewährleisten, ist Solidarität in der Gesellschaft zu mobilisieren und nicht gesellschaftliche Gruppen voneinander zu trennen. Ich möchte keinen Frauenwaggon und als nächste Antwort auf ein Sicherheitsproblem für jemand, der anders betroffen ist, den nächsten Waggon. Ich möchte nicht, dass ihr es euch in der Konsequenz ausmalt, was dabei für ein Zug herauskommt. Ich bitte euch nur, euch zu überlegen: Wenn es gelingt, einen sicheren Frauenwaggon zu machen ‑ einmal abgesehen von der Situation an den Bahnhöfen ‑, dann heißt das ja wohl, dass das Gewaltpotential, das da besteht, auf die übrigen Waggons verteilt wird, wenn das nicht gelingt, hat dieser Waggon keinen Sinn.

Ich bitte euch, diesen Antrag abzulehnen und eine intensive Diskussion über öffentliche Sicherheit zu führen.

(Beifall)

Präs. Ursula   L e y k   : Klaus‑Dieter Spiel!

Klaus‑Dieter   S p i e l   (Charlottenburg): Genossinnen und Genossen! Ich fand die Vorrede sehr gut. Sie war auch in meinem Stil gedacht, denn ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass man mit einer Sortierung von Menschen irgendwelche Sicherheitsmaßnahmen erreichen will. Außerdem müssten die Waggons erst einmal umgebaut werden. Was nutzt er der Frau, wenn während der Fahrt etwas passiert oder auf dem Bahnsteig, da ist sie auch nicht durch einen Waggon geschützt. Nehmen wir das Beispiel an, sie steigt in den ersten Waggon ein, dahinter rennt einer herein: Wer hindert ihn daran? Auf den Bahnhöfen ist ja nichts los. Entweder ist ein Schaffner zufällig da, oder auf bestimmten Linien, bei denen wir den Personalbedarf vollkommen einstellen wollen, ist gar keiner da. Das bringt also überhaupt nichts.

Wir müssen das Problem wesentlich anders angehen: Wir können nicht sagen, die Frauen nach vorne. Wenn sie jetzt Fahrräder haben, müsste noch extra ein Frauen‑Fahrrad‑Waggon geschaffen werden. Das ist also Quatsch. Wir beleidigen damit jede Frau und die Ernsthaftigkeit der Sicherheit unserer Frauen.

Wir müssen ernsthaft darüber diskutieren: Wie schaffen wir es, Ruhe in den Zügen   u n d   auf den Bahnhöfen zu bekommen? Denn die Unruhe kommt nicht daher, dass die Leute schon im Zug sitzen, sondern sie müssen durch den Bahnsteig durch. Und da passiert alles Mögliche. Wenn man sich das einmal ansieht und als umweltbewusster Bürger auch einmal mit den Verkehrsmitteln fährt und nicht nur mit dem Auto umherdüst, sieht man, was abends ab 10, 11 Uhr auf den Bahnhöfen los ist: Der Schaffner igelt sich in seinem Kabäuschen ein. Wenn man ihm sagt, guck mal, da und da ist das passiert, antwortet er: Oh, lass mich bloß in Ruhe; ich weiß nicht, was ich machen soll. Wenn das nicht bald aufhört, wird auch der Bürger und der Wähler nicht mehr verstehen, warum sie uns wählen sollen, weil wir es nicht mehr nötig haben, überhaupt zu diskutieren. Damit müssen wir in die Öffentlichkeit. Wir müssen zeigen, dass wir es wollen, dass U‑ und S‑Bahn sicherer werden. ‑ Danke!

Präs. Ursula   L e y k   : Siegrun Klemmer!

Siegrun   K l e m m e r   (Charlottenburg): Liebe Genossinnen und Genossen! Das ist zum Teil auch eine innercharlottenburger Diskussion. Wir haben einen solchen Antrag mehrfach vorliegen gehabt, und wir haben die gleiche Diskussion auf unseren Charlottenburger Kreisdelegiertenversammlungen geführt. Ich will gleich im Anschluss an das, was der Genosse eben zum Schluss gesagt hat, bemerken, dass wir nicht nur Bürger und Wähler haben, sondern wir haben natürlich auch die eine Hälfte der Menschheit und auch in Berlin, nämlich das sind Wählerinnen und Bürgerinnen.

(Vereinzelter Beifall)

Wenn du die befragst und hörst, wie die sich am Abend in der U‑Bahn, in der S‑Bahn fühlen, dann wirst du dabei für diesen Antrag auf großes Verständnis stoßen.

(Vereinzelter Beifall)

Lieber Carl Chung, wir sollten nicht in diesen ganz schlimmen Fehler verfallen und die eine Gruppe derjenigen, die sich im Moment unsicher fühlen, gegen die andere, die sich schon sehr lange unsicher fühlt, ausspielen. Hier werden nicht Menschen sortiert, sondern hier wird ein Problem angegangen. Wir Frauen merken: Immer, wenn ein solches Problem angegangen wird, dann kommen die Leute mit den Vorschlägen und meinen, dass solche Dinge technisch oder betriebsintern oder wie immer nicht umsetzbar wären, und dann kommt ganz schnell das beliebte Schlage‑tot‑Argument der Finanzen. Wenn es um die Sicherheit der Hälfte der Berliner Menschen geht, dann sollte dieses Argument überhaupt nicht zählen. Wir Frauen wollen eigentlich nicht mehr so lange warten, bis die Gesellschaft geändert ist und wir uns dann wieder frei in der U‑Bahn oder wo auch sonst immer bewegen können. Wir bitten euch, endlich damit ernst zu machen: Fangt an, und lasst uns in den ersten Wagen der Züge allein und unter uns sein, und dann werden wir sehen, ob sich das bewährt oder nicht.

(Beifall)

Präs. Ursula   L e y k   : Ingrid Holzhüter!

Ingrid   H o l z h ü t e r   (Tempelhof): Genossinnen und Genossen, ihr wisst, dass sich die Frauen in der SPD seit längerem mit diesem Thema befassen und dass es unter Rot‑Grün dazu Anträge gab, die sich nicht umgesetzt haben. Wir haben auch jetzt in der großen Koalition dazu wieder Anträge gemacht.

Ich muss sagen: Wir haben natürlich den leisen Verdacht, dass das Thema nicht ernst genommen wurde, solange Frauen sich unsicher fühlten. Mittlerweile fühlen sich Menschen generell unsicher, und da wird etwas für die Sicherheit getan: In der BVG bewegt sich in diesem Zusammenhang wirklich eine ganze Menge; es würde sicherlich jetzt zu weit führen, wenn ich die einzelnen Maßnahmen hier vorstelle. Es wird letztendlich allen zugutekommen, aber natürlich auch Frauen, dass bestimmte Sicherheitsmaßnahmen getroffen werden: Das geht von der Gestaltung der Bahnhofsvorplätze über die „Entrümpelung“ auf den Bahnhöfen über die Konstruktion, dass man eine Glasscheibe statt der Holzwand hinter dem Fahrpersonal einsetzen will, damit man sich auch durch Sichtkontakt deutlich machen kann, und viele Dinge mehr.

Wir haben beschlossen, dass die BVG eine Information gibt, die Frauen empfiehlt, in den ersten Wagen zu steigen, um sich dann eben auch durch dieses Fenster bemerkbar zu machen. Es werden auch Alarmknöpfe angebracht werden u. ä., weil die Sicherheit wirklich rundum ein Thema ist, dem wir uns nicht verschließen dürfen.

Wir haben aber auch davon gehört, dass eben nicht alle Frauen da einsteigen möchten. Manche möchten auch mit ihren Partnern zusammen sein. Deshalb die Empfehlung ‑ und die BVG hat uns zugesagt, dass dieses auch geschehen wird ‑, man wird informativ hinweisen, dass Frauen möglichst den ersten Wagen benutzen, aber natürlich meinetwegen auch Behinderte oder andere Menschen, die sich nicht ausreichend verteidigen können und Angst empfinden. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung, und deshalb denke ich, vielleicht können wir diesen Antrag ein bisschen abändern, indem wir die Empfehlung da rausmachen und vielleicht dann auch alle anderen mit auf die Reihe kriegen. Aber schädlich ist er auf gar keinen Fall, und wir können ihn, denke ich, auch so beschließen.

Präs. Ursula   L e y k   : Ingrid, wenn du einen Änderungsantrag hast, dann müsstest du uns den, bitte, schriftlich geben. ‑ Jetzt hat Carl Chung das Wort!

Carl   C h u n g   (Charlottenburg): Ich widerspreche dir ungern, Ingrid. Ich denke schon, dass es um eine grundsätzliche Richtung geht, wie man Sicherheit versteht. Siegrun, ich weiß, dass Frauen mehr Sicherheit in der U‑Bahn brauchen und das auch wollen. Mir liegt an der Sicherheit der Hälfte der Bevölkerung, aber mir liegt auch an meiner Sicherheit. Ich bitte, mit der gleichen Solidarität, mit der ich versuche, auch auf euch zuzugehen, ihr dann diese Solidarität nicht verweigert, wenn es um andere Gruppen geht.

(Vereinzelter Beifall)

Es geht nicht darum, dass ich Gruppen gegeneinander ausspielen will ‑ im Gegenteil: Solidarität beruht darauf, dass man gemeinsame Interessen hat ‑ gemeinsame Interessen, die die Homosexuellen haben, die vermehrten Überfällen ausgeliefert sind, die viele, die links aussehen, haben, auch Leute, die ausländisch aussehen, haben und eben auch Frauen haben. Es ist das gemeinsame Interesse an mehr Sicherheit in unserem Personennahverkehr. Solidarität ist gemeinsames Interesse, aus dem gemeinsames Handeln wächst und nicht Teilen. Ich möchte wirklich nicht verschiedene Gruppen mit ihren Sicherheitsinteressen gegeneinander ausspielen. Ich möchte, dass wir insgesamt Lösungen für alle finden.

Ich halte es auch für keine gute Lösung, wenn man jetzt alle besonders von Gewalt betroffenen Gruppen in einen Waggon tut, weil dann unterschiedliche Interessen durchaus aufeinanderprallen können. Dann weiß ich nämlich nicht, ob das, was die Frauen ursprünglich haben wollten, gewährleistet ist. Ich glaube, dass Sicherheit nicht dadurch entsteht, dass man Leute sortiert oder in unterschiedliche Waggons verteilt, sondern Sicherheit entsteht dann, wenn wir insgesamt mehr Solidarität erreichen, und das fängt mit uns an.

(Vereinzelter Beifall)

Präs. Ursula   L e y k   : Als nächste Eveline Neumann.

Eveline   N e u m a n n   (Tempelhof): Solidarität heißt Mitgefühl, heißt Unterstützung der Schwächeren. Die Schwächeren sind immer noch die Frauen in dieser Gesellschaft, wobei es übrigens auch ausländische Frauen, behinderte Frauen gibt. Also, all die Eigenschaften, die eben genannt wurden, treffen auch für Frauen zu. Aber insgesamt sind die Frauen nachweislich die Schwächeren in dieser Gesellschaft, und deswegen fordern wir eure Solidarität ein.

Dennoch, ich äußere mein Verständnis für die Männer, die hier vorn ihr Unverständnis geäußert haben: Ich habe ein großes Verständnis dafür, sie können es gar nicht verstehen. Sie haben nie in ihrem Leben erlebt, wie es ist, wenn man als Reflex immer schon mal guckt, ob an der nächsten Ecke, wenn man allein irgendwo im Dunkeln ist, dann nicht doch ein Mann auftaucht. Ein Mann heißt nämlich, potentielle Bedrohung für jede Frau, wenn sie allein ist.

(Unruhe und Widerspruch ‑ Vereinzelter Beifall)

Es ist so! Es ist klar, dass da einige lachen, sie haben es nie erlebt. Aber ich glaube, alle Frauen hier im Saal wissen, was es heißt, wissen, wie wir gucken oder Sachen auch einfach lassen. Viele Frauen kommen vielleicht auch nicht zu unseren politischen Versammlungen, weil sie sich nicht trauen ‑ etwas, was es für Männer nicht gibt, egal, ob sie Ausländer sind oder Deutsche.

Vielleicht kämpfen die Männer hier vorn auch darum, dass die Frauen sich nicht trauen, dass die Frauen nicht kommen, dass die Frauen gehemmt sind. Vielleicht bleiben dann den Männern bestimmte Posten weiterhin erhalten. Wenn Frauen ängstlich sind, sind Frauen auch gehemmt.

Außerdem ist dieses Modell nicht übertragbar. All die Vergleiche hinken. Wenn wir diesen Wagen einführen ‑ und sei es auch nur als Empfehlung, dass die Frauen erst einmal gemeinsam in den vorderen Waggon einsteigen ‑, dann fühle ich mich sicherer, denn ich bin noch nie von Frauen bedroht worden. Wenn wir einen ähnlichen Waggon einführen, und sagen, alle Ausländer raus ‑ was ich allerdings vor dem Hintergrund unserer deutsche Geschichte völlig unmöglich fände, aber wir können das ja einmal durchspielen, es ist hier so getan worden, als könnte man das übertragen ‑, dann hätte ich verschiedene Männer in einem Waggon, und ich weiß nicht, ob sie sich nicht dennoch bekämpfen würden. Denn Männer sind in dieser Gesellschaft einfach gewalttätiger als es Frauen sind, und dieses bitte ich zur Kenntnis zu nehmen und nicht zu ignorieren.

(Vereinzelter Beifall)

Präs. Ursula   L e y k   : Es liegen zur Zeit noch vier Wortmeldungen vor. Als nächster hat Bernd Krajan das Wort!

Bernd   K r a j a n   (Neukölln): Ich muss sagen, ich hatte als AfA‑Mitglied in Wilmersdorf die Gelegenheit, als der Antrag dort beraten worden ist, bei der Beratung mit anwesend zu sein. Ich hatte auch Gelegenheit, den Antrag mit meiner Frau ‑ sie ist auch Mitglied in dieser Partei ‑ in aller Ruhe zu Hause zu diskutieren. Ich muss dazu sagen, ich bin Familienvater, habe einen fünfzehnjährigen Sohn. Der Knabe ist jetzt 1,87 m groß, und wir hatten ein Problem, das letztendlich dazu führt, dass ich sagen muss: Von der Tendenz der Diskussion her möchte ich eigentlich nur den einen Genossen, der hierfür plädiert hat, dass man die sogenannten Schwachen und solidaritätsbedürftigen Gruppen nicht untereinander ausgrenzt, sondern dafür versucht, durch Überweisung des Antrags und ausführliche Diskussion eine sinnvolle Lösung innerhalb der öffentlichen Nahverkehrsmittel zu finden, im Prinzip unterstützen.

Den Antrag der Genossin auf den Frauenwagen möchte ich im Prinzip generell ablehnen, denn sie müsste mir erst einmal erklären, wo dann die Kinder hin sollen, die müssen dann nämlich auf dem Bahnhof stehenbleiben.

(Vereinzelter Beifall)

Sollen die vielleicht hinten aussteigen und Prügel beziehen? Diese Diskussion ist mir ein bisschen zu theoretisch, und wenn ich das dem Wähler auf der Straße erkläre, dann lacht der sich schief.

(Vereinzelter Beifall)

Präs. Ursula   L e y k   : Anna Damrat!

Anna   D a m r a t   (Wilmersdorf): Ich will das nicht noch lange ausweiten, aber ich weiß, dass sich viele Wählerinnen überhaupt nicht schieflachen, weil sie es nämlich alle schon einmal erlebt haben, wie es ist, einmal hinter sich zu gucken, vor sich zu gucken, gucken, wer ist eigentlich noch in der Bahn drin, ach nee, ist gar keiner drin, sind wenigstens einige Frauen drin. Ich könnte das Ganze noch anreichern durch einschlägige Beispiele aus S‑Bahnfahrten, die ich nächtens öfters erlebt habe. Deshalb ist der beste Schutz in der S‑ oder in der U‑Bahn oder wo auch immer ein vollbesetzter Waggon, ein sehr voll besetzter Waggon.

Der beste Schutz für Frauen ist nach wie vor auch ein voll mit Frauen besetzter U‑Bahnwaggon. Das heißt ja nicht, dass jede dorthin gehen muss. Ich weiß, es ist eine kurzgriffige Lösung, und ich weiß auch, dass es demnächst die durchgängigen U‑Bahnwaggons mit den Türen dazwischen geben wird. Das weiß ich alles, aber ich denke nach wie vor, aus den Erfahrungen, die ich hier wie anderenorts gemacht habe: Wo viele Frauen sind, wird man nicht angegrapscht, wird man nicht in irgendeiner Weise verfolgt, sondern es gibt in der Tat einen größeren Schutz. Ich bitte euch darum ‑ ohne dass Männer und Frauen, ohne dass ausländische Männer und Frauen aller Nationalitäten gegeneinander ausgespielt werden ‑, diesen Antrag mit zu unterstützen.

(Vereinzelter Beifall)

Präs. Ursula   L e y k   : Als nächster Reinhard Dobrinski!

Reinhard   D o b r i n s k i   (Mitte): Ich hatte gehofft, dass sich der Antrag mit dem ersten Wortbeitrag, nämlich diesen Antrag abzulehnen, erledigen würde.

Leider hat sich die Diskussion jetzt so entfaltet, dass man nicht umhin kommt, hier auch ein kleines östliches Element hineinzutragen. Ich verstehe nicht, wenn hier die Frauen allein um ihre Sicherheit bangen. Ich glaube, es geht hier um eine innere Krise ‑ und das muss man begreifen ‑, die nicht damit geklärt ist, dass in der U‑Bahn ein Frauenwagen angehängt und eine Glassichtscheibe eingesetzt wird. Geht man von der Anzahl der Opfer aus ‑ der Totgeschlagenen und der Verletzten ‑, dann muss man sogar von einem inneren Kriegszustand sprechen. Ich glaube, es wäre Aufgabe der SPD, sich diesem Thema extra einmal zu stellen, denn mit dem Antrag ‑ weder mit Pro noch mit Kontra ‑ ist heute nichts, aber auch gar nichts bewegt. Ich selbst stimme dafür, ihn abzulehnen. ‑ Danke!

(Vereinzelter Beifall)

Präs. Ursula   L e y k   : Bettina Michalski!

Bettina   M i c h a l s k i   (Kreuzberg): In einem stimme ich dir zu: Ich bin auch erstaunt, dass die Diskussion überhaupt so lange dauert, allerdings genau aus gegenteiligem Grund.

(Vereinzelter Beifall)

Ich bin entsetzt, dass so viele Gegenstimmen zu diesem Antrag kommen.

(Vereinzelter Beifall)

Erstens: Dieser Antrag sortiert keine Gruppen aus. Frauen sind in ihrem Verhalten, in dem ihnen aufgezwungenen Verhalten aussortiert: Nach einer bestimmten Uhrzeit, nach Einbruch der Dunkelheit ist jede Frau dazu gezwungen, zu überlegen: Wie komme ich nach Hause? Welche Verkehrsmittel benutze ich? Wechsele ich die Straßenseite, welche ist besser beleuchtet? Wo sind die Parks usw.? Gedanken, die sich kein einziger Mann ‑ es sei denn, er kann ein bisschen schlecht gehen, wie ich übrigens auch seit meiner Knieverletzung hier auf dem Parteitag ‑ normalerweise machen muss. Jede Frau ist dazu gezwungen, und darum hat, verdammt noch mal, jede Frau einen Anspruch darauf, in allen Lebensbereichen bestimmte Schutzzonen zu bekommen ‑ nicht weil sie klein, doof und schwach ist, sondern weil eben die Gewalt ihr gegenüber allgegenwärtig ist.

Zweitens: Ich habe einen Anspruch darauf, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen, an Kino, Feten usw., z. B. auch an Parteitagen, obwohl es manchmal eine sehr mühselige Pflicht ist. Aber auch nach so einem Parteitag muss ich mir überlegen: Wie komme ich heute eigentlich nach Hause?

Drittens: Auch links aussehende Männer, auch behinderte Männer, auch ausländische Männer haben mich schon angemacht, auch gegen solche Männer musste ich mich verwahren. Insofern bin ich natürlich dagegen, dass ein Waggon für alle möglichen, angeblich schwachen Gruppen eingerichtet wird, sondern es soll einen ersten Waggon für Frauen geben, und zwar für alle Frauen, natürlich auch für Frauen mit kleinen Kindern. Ich würde da nicht dafür plädieren, dass man die irgendwo anders dranhängt, das wäre Quatsch.

Viertens: Hier ist der Satz gefallen, von einer Genossin: Jeder Mann ist eine potentielle Bedrohung. In der Tat! Ab einer bestimmten Uhrzeit spätestens und in bestimmten Räumen unabhängig von der Tageszeit: Jeder Mann ist für eine Frau dann eine potentielle Bedrohung, weil sie ihn nicht kennt und nicht weiß, wie er reagiert. Manchmal sind übrigens auch, wie wir aus den Statistiken wissen, Männer, die wir kennen, eine Bedrohung, das merken wir vielleicht erst dann, wenn es zu spät ist. Wer über diesen Satz lacht ‑ wie es hier leider geschehen ist ‑, der sollte sich wirklich mal ein bisschen intensiver mit den Problemen der Frauen bezüglich der Gewalt, und zwar vor allen Dingen bezüglich der sexuellen Gewalt, auseinandersetzen.

Fünftens: Es ist eine kurzfristige Maßnahme, das ist richtig. Aber es ist auch eine Maßnahme, die kurzfristig greift. Darum bin ich der Meinung, dass man diesen Antrag so, wie er jetzt ist, beschließen und möglichst schnell dann mit der Umsetzung beginnen sollte.

Präs. Ursula   L e y k   : Kurt Neumann hat als nächster das Wort!

Kurt   N e u m a n n   (Antragskommission): Genossinnen und Genossen, ich finde auch, dass der Antrag die Diskussion nicht lohnt, aber das Abwehrverhalten einiger Geschlechtsgenossen hier ist interessant. Das ist für mich interessant.

(Vereinzelter Beifall)

Was hier diskutiert wird, ist eine Notkrücke, dadurch wird keine innere Sicherheit geschaffen, dadurch wird das Problem nicht bewältigt, das wissen wir doch alle. Damit wird auch ein männlicher Ausländer nicht geschützt. Aber, Genossen, wo schadet das denn? Ich sage bewusst: Genossen, wo schadet denn das? Warum seid ihr so aggressiv dagegen, so etwas zu machen?

Es gab Vorfälle auf U‑Bahnhöfen, die bekanntgeworden sind, bei denen Gewalttäter andere angegriffen haben. Da haben einige geholfen, und wenn ich das richtig sehe, sehr spektakulär; es waren Frauen, die Messer entwunden haben u. ä. mehr. Also, ich muss sagen, ich weiß nicht, ob dieser Antrag, wenn er praktiziert wird, sehr viel hilft. Er schadet sicherlich nicht, aber die Ignoranz und vor allem die aggressive Art und Weise, wie hier argumentiert worden ist, die muss eigentlich jeden dazu bringen, dem Antrag zuzustimmen.

(Beifall)

Präs. Ursula   L e y k   : Das Wort hat Monika Buttgereit!

Monika   B u t t g e r e i t   (Kreuzberg): Genossinnen und Genossen, ich stimme Kurt Neumann zu. Ich weiß, das Problem der Gewalt in der U‑Bahn, in der S‑Bahn ist mit diesem Antrag natürlich nicht zu lösen, aber ich denke, es ist ein wichtiges Signal, dass sich die SPD um die Probleme in den öffentlichen Verkehrsmitteln kümmert und einen ersten Schritt unternimmt, um diejenigen zu beschützen, die nach wie vor überwiegend von diesen Übergriffen betroffen sind.

Ich bin wirklich entsetzt, wie hier über Gewalt gegen Frauen diskutiert wird:

(Vereinzelter Beifall)

als hätten wir nicht seit Jahrzehnten diese Diskussion über Gewalt gegen Frauen, als hätten wir keine Frauenhäuser, die überquellen ‑ und dieses ist kein West‑Problem, sondern im Osten ist es genau das Gleiche:

(Vereinzelter Beifall)

Die Frauen wissen nicht mehr, wohin sie sollen, weil die Frauenhäuser aus allen Nähten platzen, weil sie überbelegt sind. Und wir stellen uns auf dem Landesparteitag hin und machen lächerliche Witze, wenn über Gewalt gegen Frauen diskutiert wird. Das kann doch wirklich nicht wahr sein ‑ in der SPD, die doch wohl auch den Anspruch erhebt, Frauenpolitik zu vertreten und Politik gerade für die Mehrheit der Bevölkerung ‑ und das sind nun einmal die Frauen ‑ machen will.

Ich muss sagen: Ich bin ziemlich fassungslos gegenüber der Unernsthaftigkeit, mit der diese Diskussion heute Abend hier geführt wird, und das hat mich auch dazu ermuntert, mich noch einmal zu melden, obwohl vieles von den Frauen hier schon gesagt worden ist.

Ich möchte eines noch anführen: Die ASF Berlin hat eine Umfrage zum Thema Hauptstadtfrauen gemacht. Eines der ganz zentralen Probleme, die in Tausenden von Antworten, die von den Frauen gekommen sind, war das Problem, dass sie sich abends nicht mehr auf die Straße trauen, wenn sie kein eigenes Auto haben und sich kein Taxi leisten können, weil sie sich in den öffentlichen Verkehrsmitteln total unsicher fühlen. Dieses Problem sollten wir nicht ignorieren, sondern wir sollten es angehen, und der vorliegende Antrag ist dazu ein erster Schritt.

Zu Carl Chung möchte ich sagen: Ich verstehe alle Männer, die sich in unserer Stadt bedroht fühlen, weil sie ausländisch aussehen, denn sie sind auch bedroht. Wenn es konkrete Vorschläge gibt, wie man auch diese Menschen besser schützen kann, bin ich jederzeit bereit, dieses hier zu diskutieren und auch zu unterstützen. Ich sehe aber nicht ein, weshalb man mit dieser Begründung einen sinnvollen Antrag zum Schutz von Frauen heute ablehnen sollte.

(Beifall)

Präs. Ursula   L e y k   : Heiko Mau, du hast das Wort!

Heiko   M a u   (Wilmersdorf): Mir widerstrebt es eigentlich auch, diese Diskussion zu verlängern. Gerade das, was viele Genossen an dieser Stelle gesagt haben, hat mich ziemlich bedrückt, und ich muss sagen: Ich finde diese Diskussion, wie sie hier in weiten Teilen gelaufen ist, wirklich beschämend und widersinnig. Ich finde es einfach beschämend, Carl, und irgendwie nicht nachvollziehbar, wenn du dich hierhin stellst und sagst: Die allgemeine Sicherheit in den Verkehrsmitteln ist ein großes Problem ‑ das ist völlig richtig ‑ , und es fühlen sich viele bedroht, nicht nur Frauen ‑ auch das ist völlig richtig. Wenn man sich aber hierhin stellt und sagt, solange wie meine Sicherheit nicht gewährleistet ist, solange stimme ich gegen jeden Antrag, der wenigstens ein bisschen Sicherheit wenigstens für Frauen an dieser Stelle gewährleisten kann, das halte ich für eine wirklich widersinnige Argumentation.

(Beifall)

Es geht hier gar nicht, wie der eine Genosse sagt, in erster Linie um Mord und Totschlag, um den Krieg, sondern es geht hier um die ganz kleine, alltägliche Bedrohung. Es geht hier um sexuelle Belästigung bis hin zur Vergewaltigung. Das sind die Sachen, die nun einmal im wesentlichen Frauen betreffen. Die Maßnahme, die in dem Antrag vorgeschlagen wird, ist sicherlich nur eine kleine Lösung, und es wird sich zeigen, ob sie hilft. Ich denke aber, sie ist ein Schritt in die richtige Richtung, und sie ist absolut notwendig.

Ich will mich an dieser Stelle nicht, wie Ingrid Holzhüter das gesagt hat, auf die BVG verlassen. Ich erlebe seit einem Jahr die Diskussion ganz hautnah am U‑Bahnhof Kurfürstenstraße, an dem es zwei Ausgänge gibt. Wer da einmal war, weiß sicherlich selbst, dass die Kurfürstenstraße vor allen Dingen nachts nicht unbedingt die netteste Gegend ist, in der man sich rumtreiben kann. Die BVG kriegt es seit einem Jahr nicht fertig, ihre Entscheidung, den einen Ausgang, der im Wesentlichen zu den Wohnhäusern führt, ab 22 Uhr dichtzumachen, rückgängig zu machen. Da frage ich mich, inwieweit sie es dann schaffen will, in der Tendenz tätig zu werden, wie Ingrid das hier vorgeschlagen hat.

Ich möchte euch bitten, macht die Sache nicht noch peinlicher als sie es ohnehin schon ist, lasst uns diesen Antrag hier beschließen.

(Beifall)

Präs. Ursula   L e y k   : Margarete Becker ‑ zur Geschäftsordnung!

Margarete   B e c k e r   (Schöneberg): Genossinnen und Genossen! Ich beantrage Schluss der Debatte, weil ‑ ‑

(Anhaltende, starke Unruhe ‑ Beifall)

Präs. Ursula   L e y k   : Ich habe es akustisch verstanden, aber wohl nicht alle: Margarete hat den Antrag auf Schluss der Debatte gestellt. Spricht jemand dagegen? ‑ Das ist nicht der Fall! Dann ist jetzt der Schluss der Debatte eingetreten, und wir kommen zur Abstimmung.

Wer dem Antrag seine Zustimmung geben möchte, den bitte ich um das Kartenzeichen! ‑ Gegenprobe! ‑ Enthaltungen? ‑ Gegen wenige Stimmen und einige Enthaltungen, so beschlossen!

(Vereinzelter Beifall)

Kurt   N e u m a n n   (Antragskommission): Antrag 32/III/91 (Neukölln) ‑ wegen der sehr speziellen Frage meinen wir, dass das zur Abgeordnetenhausfraktion überwiesen werden muss. Das gilt auch für Antrag 33/III/91 (Neukölln). Vielleicht kann man das zusammen behandeln.

Präs. Ursula   L e y k   : Ich habe zu beiden Anträgen keine Wortmeldung. ‑ Dann lasse ich zuerst über die Überweisung an die Abgeordnetenhausfraktion betr. Antrag 32/III/91 abstimmen. Wer dem seine Zustimmung geben möchte, den bitte ich um das Kartenzeichen! ‑ Gegenprobe! ‑ Stimmenthaltungen? ‑ So beschlossen!

Zu Antrag 33/III/91 wird ebenfalls Überweisung an die Abgeordnetenhausfraktion beantragt. Wer dem zustimmen möchte, den bitte ich auch um das Kartenzeichen! ‑ Gegenprobe! ‑ Stimmenthaltungen? ‑ Ebenfalls so beschlossen!

Kurt   N e u m a n n   (Antragskommission): Antrag 37/III/91 (5. Abt./Wilmersdorf) ist durch Zeitablauf überholt und damit erledigt.

Präs. Ursula   L e y k   : Und damit so festgestellt!

Kurt   N e u m a n n   (Antragskommission): Zu Antrag 5/I/92 (Abt. 9, Wilmersdorf) ist mir gegenüber von seiten des Antragstellers noch eine Klärung in der Formulierung vorgetragen worden. Ich denke, das kann man übernehmen, dass man ausdrücklich schreibt, „Elektrokraftfahrzeuge“, damit deutlich ist, was gemeint ist. In dieser Form empfehlen wir dann Annahme.

Präs. Ursula   L e y k   : Dazu liegt mir keine Wortmeldung vor, ich darf über den Antrag abstimmen. Wer dem Antrag seine Zustimmung geben möchte, den bitte ich um das Kartenzeichen! ‑ Gegenprobe! ‑ Stimmenthaltungen? ‑ Bei einigen Enthaltungen einstimmig beschlossen!

Kurt   N e u m a n n   (Antragskommission): Antrag 29/III/91 (Abt. Friedrichshagen/Köpenick): Hier hat die Antragskommission das Anliegen der antragstellenden Abteilung unterstützt, um aktuelle Aussagen zu dem Verhalten von Verkehrsminister Krause ergänzt und empfiehlt Annahme in der Fassung der Antragskommission.

Präs. Ursula   L e y k   : Dazu liegt mir ebenfalls keine Wortmeldung vor. Wer dem Antrag in der Fassung der Antragskommission annehmen will, den bitte ich um das Kartenzeichen! ‑ Gegenprobe! ‑ Stimmenthaltungen? ‑ So beschlossen!

Kurt   N e u m a n n   (Antragskommission): Antrag 30/III/91 (5. Abt./Wilmersdorf) bezieht sich auf einen sehr kleinen Ausschnitt von internationalem Recht. Wir denken, dass dies in einem größeren Zusammenhang gestellt werden muss und empfehlen deshalb Überweisung an den zuständigen Fachausschuss I.

Präs. Ursula   L e y k   : Gibt es dazu Wortmeldungen? Wer dem folgen will, den bitte ich um das Kartenzeichen! ‑ Gegenprobe! ‑ Stimmenthaltungen? ‑ Bei einigen Stimmenthaltungen so beschlossen!

Kurt   N e u m a n n   (Antragskommission): Antrag 6/I/92 (Mitte): Annahme und Weiterleitung an den Bundesparteitag. Es muss dann heißen: „Der Bundesparteitag möge beschließen: …“.

Präs. Ursula   L e y k   : Gibt es dazu Wortmeldungen? Wer dem zustimmen möchte, den bitte ich um das Kartenzeichen! ‑ Gegenprobe! ‑ Stimmenthaltungen? ‑ Bei wenigen Gegenstimmen und wenigen Enthaltungen so beschlossen!

Kurt   N e u m a n n   (Antragskommission): Bei Antrag 7/I/92 (Mitte) sah sich die Antragskommission wegen der Kompliziertheit der Lage überfordert, das im Einzelnen zu behandeln und empfiehlt deswegen Überweisung an den zuständigen Fachausschuss.

Präs. Ursula   L e y k   : Hierzu liegt mir die Wortmeldung von Monika Thiemen vor.

Monika   T h i e m e n   (Wilmersdorf): Ich möchte gegen diese Überweisung sprechen und möchte statt dessen eine Gleichbehandlung wie Antrag 19/III/91, nämlich Bitte an die Berliner Bundestagsabgeordneten, sich des Anliegens anzunehmen. Dieser Antrag ist gewiss kompliziert und kann auch nicht in voller Gänze von jedem hier überblickt werden, aber dieses innerparteiliche Verfahren dauert ganz einfach zu lange. Hier muss eine schnelle Handlung erfolgen, es muss ein schnelles Ergebnis da sein. Der Kreis Mitte hat hier schon sehr gut vorgearbeitet; ihr konntet das heute alle der verteilten „Berliner Stimme“ entnehmen, dass da etwas mehr dahinter steckt.

Also, hier ‑ bitte ‑ Weitergabe an die Berliner Bundestagsabgeordneten mit der Bitte, dies doch anzunehmen und auch in diesem Sinn im Bundestag zu behandeln.

Präs. Ursula   L e y k   : Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor.

Kurt   N e u m a n n   (Antragskommission): Ich denke, die Antragskommission übernimmt das als Ergänzung: Überweisung an den Fachausschuss Soziales und an die Bundestagsabgeordneten mit der Bitte, sich der Sache anzunehmen und möglichst bald über das Ergebnis zu berichten.

Präs. Ursula   L e y k   : Gut, der Antrag ist übernommen. Ich bitte diejenigen um das Kartenzeichen, die dem ihre Zustimmung geben wollen! ‑ Gegenprobe! ‑ Stimmenthaltungen? ‑ Bei ganz wenigen Gegenstimmen so beschlossen!

Kurt   N e u m a n n   (Antragskommission): Antrag 18/III/91 (2. Abt./Steglitz) behandelt einen Aspekt im Rahmen von Sparpolitik und sozial gerechtem Sparen. Wir denken, dass ein solch isolierter Antrag nicht beschlossen werden kann und schlagen deshalb vor, ihn an die Abgeordnetenhausfraktion zu überweisen.

Präs. Ursula   L e y k   : Gibt es dazu Wortmeldungen? ‑ Das ist nicht der Fall! Wer dem zustimmen möchte, den bitte ich um das Kartenzeichen! ‑ Gegenprobe! ‑ Stimmenthaltungen? ‑ Bei ganz wenigen Gegenstimmen so beschlossen!

Kurt   N e u m a n n   (Antragskommission): Bei Antrag 19/III/91 (Wilmersdorf) gilt das, was eben auch von der Genossin gesagt wurde: Dieser Sache sollten sich die Bundestagsabgeordneten möglichst umgehend annehmen.

Präs. Ursula   L e y k   : Auch hierzu liegt mir keine Wortmeldung vor. Wer dem folgen möchte, den bitte ich um das Kartenzeichen! ‑ Gegenprobe! ‑ Stimmenthaltungen? ‑ Bei ganz wenigen Gegenstimmen so beschlossen!

Kurt   N e u m a n n   (Antragskommission): Antrag 59/III/91 (Abt. 4/Mitte) sehen wir durch die Beschlussfassung zu Antrag 6/I/92 als erledigt an.

Präs. Ursula   L e y k   : Erhebt sich dagegen Widerspruch? ‑ Das ist nicht der Fall, dann ist das so!

Kurt   N e u m a n n   (Antragskommission): Zu Antrag 60/III/91 (Abt. 4/Mitte) wird Annahme empfohlen.

Präs. Ursula   L e y k   : Hierzu liegt mir die Wortmeldung von Monika Thiemen vor.

Monika   T h i e m e n   (Wilmersdorf): Ich bitte, hier die Worte „… insbesondere der neuen Bundesländer …“ zu streichen. Diese Problematik ist in den alten und den neuen Bundesländern identisch, so dass wir diese Worte hier gut herauslassen können.

Präs. Ursula   L e y k   : Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Kurt, wird das von der Antragskommission übernommen?

(Kurt Neumann (Antragskommission): Ja!)

Gut, das wird übernommen! Dann können wir das in geänderter Form so abstimmen. Wer dem seine Zustimmung geben möchte, den bitte ich um das Kartenzeichen! ‑ Gegenprobe! ‑ Stimmenthaltungen? ‑ Bei wenigen Gegenstimmen so beschlossen!

Kurt   N e u m a n n   (Antragskommission): Zu Antrag 16/III/91 (Kreuzberg) empfehlen wir die Überweisung an die Abgeordnetenhausfraktion. Ich denke, dass sich hier seit dem letzten Parteitag verschiedene, auch neuere Perspektiven auftun ‑ Palast der Republik usw. ‑. Das muss gründlich diskutiert werden, welche Lösung sich dort am günstigsten abzeichnet.

(Zuruf)

Präs. Ursula   L e y k   : Der Vorschlag war, aus dem Jahr „1992/93“ zu machen, weil es sonst keinen Sinn gibt.

Kurt   N e u m a n n   (Antragskommission): Ich glaube, die Abgeordnetenhausfraktion ist so souverän und weise, dies von sich aus zu machen, wenn sie es behandeln soll.

Präs. Ursula   L e y k   : Gut! Ich denke, wenn wir etwas an die Fraktion überweisen, sollten wir das auch irgendwo auf einer realistischen Basis machen. Ich glaube, da gibt es kein Problem, jetzt die Jahreszahl zu ändern.

Kurt   N e u m a n n   (Antragskommission): Ich sperre mich nicht länger dagegen, wenn das so überzeugend gesagt wird.

Präs. Ursula   L e y k   : Gut! Wer dem folgen will, den bitte ich um das Kartenzeichen! ‑ Gegenprobe! ‑ Stimmenthaltungen? ‑ So beschlossen!

Kurt   N e u m a n n   (Antragskommission): Zu Antrag 17/III/91 (Kreuzberg) meinen wir, man sollte das nicht nur fordern, sondern die Initiativen, die bereits da sind, und die Absichten unterstützen ‑ deshalb die Fassung der Antragskommission, deren Annahme wir empfehlen.

Präs. Ursula   L e y k   : Dazu liegt mir keine Wortmeldung vor.

(Zuruf)

Hier wird ebenfalls gewünscht, dass das Jahr „1992/93“ eingesetzt wird.

Kurt   N e u m a n n   (Antragskommission): In der Fassung der Antragskommission steht ausnahmsweise schon das Jahr 1993 drin.

Präs. Ursula   L e y k   : Okay! Zur Beschlussfassung steht die Fassung der Antragskommission. Wer dem zustimmen möchte, den bitte ich um das Kartenzeichen! ‑ Gegenprobe! ‑ Stimmenthaltungen? ‑ Bei einigen Gegenstimmen und einigen Stimmenthaltungen so beschlossen!

Kurt   N e u m a n n   (Antragskommission): Zu Antrag 8/I/92 (Abt. 4, Wilmersdorf) ist die Beschlussempfehlung der Antragskommission etwas ungenau: erledigt nicht durch die Beschlusslage, sondern durch das, was tatsächlich geschehen ist. Wir brauchen uns mit dieser Frage auch deswegen nicht im Einzelnen mehr auseinanderzusetzen, weil der Antrag zurückgezogen wurde. In der Antragsdiskussion haben wir festgestellt, dass über bildungspolitische Konzeptionen und in diesem Zusammenhang auch über die Lehrerarbeitszeit gründlich diskutiert werden muss. Nur, wir haben festgestellt: Dieser Appell in unmittelbarer Vorbereitung eines Parteitags bringt nicht viel, sondern die Konzeptionen müssen erarbeitet und in Antragsform auf dem Parteitag gebracht werden, dann kann man das auch wirklich diskutieren. Deshalb sind wir ganz froh, dass dieser Antrag so zurückgezogen worden ist. Die Bitte geht an die Bildungspolitiker, hier tätig zu werden, dann umfassende Konzepte zu erarbeiten, die wir sachgerecht diskutieren können.

Präs. Ursula   L e y k   : Ich denke, das gilt als festgestellt!

Kurt   N e u m a n n   (Antragskommission): Zu Antrag 13/III/91 (Wilmersdorf) empfehlen wir mit einer kleinen Änderung Annahme.

Präs. Ursula   L e y k   : Gibt es dazu Wortmeldungen? ‑ Das ist nicht der Fall! Dann bitte ich um das Kartenzeichen, wer dem zustimmen möchte! ‑ Gegenprobe! ‑ Stimmenthaltungen? ‑ So beschlossen!

Kurt   N e u m a n n   (Antragskommission): Antrag 14/III/91 (Wilmersdorf) würde in einer Konzeption sicherlich berücksichtigt werden müssen. Wir schlagen vor, ihn an den zuständigen Fachausschuss zu überweisen.

Präs. Ursula   L e y k   : Auch dazu liegt mir keine Wortmeldung vor. Wer dem folgen möchte, den bitte ich um das Kartenzeichen! ‑ Gegenprobe! ‑ Stimmenthaltungen? ‑ So beschlossen!

Kurt   N e u m a n n   (Antragskommission): Antrag 15/III/91 (Friedrichshain) ist durch die Beschlussfassung zu Antrag 13/III/91 erledigt.

Präs. Ursula   L e y k   : Gilt damit als festgestellt, wenn sich kein Widerspruch erhebt!

Kurt   N e u m a n n   (Antragskommission): Antrag 46/III/91 (Tempelhof) ist erledigt.

Präs. Ursula   L e y k   : Auch dieses möchte ich hiermit feststellen ‑ ich höre keinen Widerspruch!

Kurt   N e u m a n n   (Antragskommission): Zu Antrag 62/III/91 (Abt. 15/Neukölln) empfehlen wir Annahme.

Präs. Ursula   L e y k   : Hierzu habe ich eine Wortmeldung von Brigitte Mießner, Schöneberg.

Brigitte   M i e ß n e r   (Schöneberg): Liebe Genossinnen und Genossen! Ich möchte zu diesem Antrag die Meinung der Arbeitsgemeinschaft für Bildung und des Arbeitskreises Schulen, Schöneberg, vortragen. Wir haben überhaupt nichts dagegen, dass das Fach Lebenskunde finanziell genauso ausgestattet wird, wie der christliche Religionsunterricht. Wir haben zwar auch noch nie etwas davon gehört, dass die Leute vom Verband irgendwelche Probleme haben, aber wie auch immer ‑ ‑

Aber wir haben ziemlich lange über die Frage, Trennung von Kirche und Staat an dieser Stelle, diskutiert, insbesondere im Zusammenhang mit der Debatte, die in Brandenburg ziemlich breit gelaufen ist, mit dem Modellversuch, der jetzt in Brandenburg stattfindet, und im Hinblick darauf, dass wir doch vielleicht in nicht allzu weiter Ferne irgendwann mit dem Land Brandenburg vereinigt werden. Dann werden wir wieder ein neues Schulgesetz kriegen, und dann kann man sich vielleicht auch einmal darüber unterhalten. Wir sind der Meinung, es müsste in einer Zeit wie der unseren, in der der Staat sich nun bedauerlicherweise auf seine sogenannten Kernaufgaben zurückzieht, unbedingt Kernaufgabe unentgeltlicher staatlicher Erziehung sein, Schüler in umfangreichem Maß über die verschiedenen Religionen und Kulturen aufzuklären, mit dem Ziel der gegenseitigen Toleranz.

Wir haben die Stundentafel in Berlin, die immer weiter zusammengestrichen wird. Innerhalb dieser Stundentafel haben wir zwei Stunden für den Religionsunterricht festgelegt. Ihr wisst alle, dass die über 14jährigen den Religionsunterricht nicht mehr besuchen müssen, und die meisten tun das auch nicht. Das Christentum ‑ man mag das bedauern oder auch nicht ‑ degeneriert eigentlich zu einer Art Folklore‑Christentum. Das Problem ist, dass auch die sogenannten christlichen deutschen Schüler in der Regel genausowenig vom Glaubensinhalt und von den Werten, die ihre Religion eigentlich repräsentiert, haben, wie die türkischen Schüler. Wichtig wäre aber, dass diese verschiedenen Gruppen ‑ und das sind in Berlin eben sehr unterschiedliche Gruppen von Schülern ‑ in den beiden Stunden, die es da gibt, zusätzlich Gelegenheit hätten, im Sinn von Toleranz und gegenseitiger Akzeptanz informiert und erzogen zu werden. Wir möchten gern, dass diese Diskussion angefangen wird, auch wenn wir wissen, dass es eine heilige Kuh ist und dass alle davor warnen: um Gottes willen, den Konflikt mit der Kirche nun nicht auch noch. Wir haben gerade umgekehrt gedacht: Gerade wenn in Brandenburg ein Ministerpräsident da ist, der doch mit der Kirche sehr eng verbunden ist, und wenn auch gerade in den östlichen Gebieten bestimmte Auffassungen anders sind als im Westen, dann könnte das jetzt und im Hinblick auf die Vereinigung mit Brandenburg genau die Stelle sein, an der man mit dieser Debatte anfängt. Das heißt nicht, dass die Kirche nicht in den Räumen der Schule weiterhin ihren Religionsunterricht durchführen soll. Selbstverständlich soll sie das tun, aber dann eben am Nachmittag, außerhalb des offiziellen Schulunterrichts.

Und diese beiden Stunden, die drin sind ‑ und zwar darf eine am Rand, aber die andere muss in der Mitte liegen ‑, sollten für ein solches Fach, das dann näher zu bestimmen sein wird ‑ auch auf dem Hintergrund der Erfahrungen in Brandenburg ‑, genutzt werden. Wir wissen, wie lang der Prozess ist, deshalb möchten wir euch bitten ‑ ich weiß jetzt nicht, wer von den einzelnen Kreisen hier ist und sich für Bildungsfragen interessiert ‑: Tragt das doch, bitte, in die Kreise, nicht dass aus Angst vor der heiligen Kuh, weil man sowieso schon so viel Ärger hat und weil alles so problematisch ist, darüber nicht endlich einmal geredet wird.

(Vereinzelter Beifall)

Präs. Ursula   L e y k   : Als nächste hat Jutta Weisbecker, Neukölln, das Wort!

Jutta   W e i s b e c k e r   (Neukölln): Liebe Genossinnen und Genossen! Auch ich möchte, dass diese Diskussion begonnen wird. Deshalb bitte ich euch, diesem Antrag zuzustimmen.

Lebenskunde ist ein freiwilliges Unterrichtsfach, das in Berlin (West) seit 1984 gleichberechtigt neben dem Religionsunterricht angeboten wird. Aber schon im Westteil unserer Stadt können zurzeit nicht alle interessierten Kinder und Jugendlichen wegen finanzieller Engpässe Unterricht in Lebenskunde erhalten. Im Ostteil der Stadt ist das Problem noch offensichtlicher: Für 80 % konfessionsloser Schülerinnen und Schüler wurden dort bisher keine zusätzlichen Mittel zur Verfügung gestellt. Das heißt: Dem Freidenker Verband, zuständig für den Lebenskundeunterricht, stehen im Ganzen 490 000 DM zur Verfügung, den Kirchen für den Religionsunterricht 10,15 Millionen DM ‑ und das jetzt für ganz Berlin. Diese Zuweisung von Finanzmitteln ist so nicht nachvollziehbar, weil sich die Verhältnisse in Ost‑Berlin ‑ 80 % konfessionslos ‑ irgendwie auswirken müssten.

An dieser Stelle ist anzumerken, dass es auch wünschenswert wäre, dass die traditionellen Verbindungen von Sozialdemokraten und dem Freidenker Verband wieder zu intensivieren wären und dass man sich dieser Tradition wieder bewusst wird.

(Vereinzelter Beifall)

Präs. Ursula   L e y k   : Es liegen keine weiteren Wortmeldungen vor. Es ist auch kein Änderungsantrag zu dem vorliegenden Antrag gestellt worden, weil aus den Redebeiträgen zum Teil etwas anderes hervorging. Ich stelle also diesen Antrag in der Fassung, wie er euch vorliegt, zur Abstimmung und bitte diejenigen um das Kartenzeichen, die dem zustimmen möchten! ‑ Gegenprobe! ‑ Stimmenthaltungen? ‑ Bei einigen Gegenstimmen und einigen Stimmenthaltungen so beschlossen!

Kurt   N e u m a n n   (Antragskommission): Zu Antrag 9/I/92 (Mitte) lest ihr die Empfehlung der Antragskommission.

Ich würde persönlich noch ergänzen, dass man ihn zusätzlich den Bundestagsabgeordneten zur Bearbeitung übergibt, damit das beschleunigt werden kann.

Präs. Ursula   L e y k   : Hierzu liegen mir keine Wortmeldungen vor. Wer dem folgen möchte, den bitte ich um das Kartenzeichen! ‑ Gegenprobe! ‑ Stimmenthaltungen? ‑ Bei wenigen Gegenstimmen so beschlossen!

Kurt   N e u m a n n   (Antragskommission): Zu Antrag 39/III/91 (Friedrichshain) empfehlen wir Annahme ‑ bei Streichung des letzten Absatzes ‑ nicht, dass wir nicht wollen, dass der Kollege Diederich tätig wird; es sollen alle tätig werden, das sollte selbstverständlich sein.

Präs. Ursula   L e y k   : Hierzu habe ich auch keine Wortmeldung. Wer dem zustimmen möchte, den bitte ich um das Kartenzeichen! ‑ Gegenprobe! ‑ Stimmenthaltungen? ‑ Das war einstimmig!

Kurt   N e u m a n n   (Antragskommission): Zu Antrag 53/III/91 (Lichtenberg) empfehlen wir bei Streichung des Wortes „schrittweise“ Annahme.

Präs. Ursula   L e y k   : Auch hierzu habe ich keine Wortmeldung. Wer dem zustimmen möchte, den bitte ich um das Kartenzeichen! ‑ Gegenprobe! ‑ Stimmenthaltungen? ‑ Das ist damit beschlossen!

Kurt   N e u m a n n   (Antragskommission): Antrag 40/III/91 (Wilmersdorf) ist zurückgezogen worden.

Präs. Ursula   L e y k   : Damit erledigt!

Kurt   N e u m a n n   (Antragskommission): Hinsichtlich des Antrags 41/III/91 (2. Abt./Steglitz) liegt euch auf gelbem Papier eine Empfehlung der Antragskommission vor. Die Antragskommission hat auf ihrer ersten ordentlichen Sitzung keinen Beschluss gefasst, weil wir zunächst ein Votum der Antragskommission abwarten wollten, weil durch den Gruppenantrag eine neue Situation eingetreten war. Wir haben dann eine Vorlage aus der ASF gehabt; wir haben Änderungen vorgenommen. Ergebnis ist diese Vorlage, die ihr seht. Ich will sie ganz kurz erläutern, weil mir dieser Punkt von besonderer Bedeutung zu sein scheint.

I: Hier wird noch einmal die Position der Berliner Sozialdemokraten zum § 218 bekräftigt: Streichung aus dem Strafgesetzbuch, keine Zwangsberatung.

II: Hier setzen wir uns auf der Grundlage dessen, was die ASF formuliert hat, sehr kritisch mit dem Gruppenantrag auseinander, der keineswegs unsere Position oder auch nur die Position der Sozialdemokratie, wie sie im Grundsatzprogramm von Berlin niedergelegt ist, widerspiegelt.

III: Hier haben wir uns dann mit der aktuellen Situation, in der sich insbesondere unsere Bundestagsabgeordneten befinden, beschäftigt. Wir haben dabei respektiert, dass die Genossinnen und Genossen hier keinem Fraktionszwang unterliegen und deswegen Aufträgen der Landespartei auch nur in begrenztem Umfang nachkommen können. Deshalb haben wir das sehr vorsichtig formuliert: Einerseits meinen wir, dass alles versucht werden muss, diesen Gruppenantrag zu verbessern, wie begrenzt die Möglichkeiten auch sein mögen, dass es aber vor allem darum geht, weitere Veränderungen, die auf eine Rückkehr zur Indikationslösung hinzielen ‑ etwa indem man den Begriff der Notlage einführt, das ist ja das Schlupfloch zur Indikationslösung ‑, abzuwehren.

Wir haben dann aber dargelegt, dass dies alles nicht im luftleeren Raum geschieht, dass wir die Bundestagsabgeordneten bitten ‑ und da haben wir wirklich einmal die Formulierung „bitten“ gewählt und nicht „auffordern“ oder „empfehlen“ ‑, jeden für sich, zu prüfen, in welcher Situation nachher die Stimme abzugeben ist. Da gibt es eine Strategie der Rechten: Die wollen, dass möglichst viele, verschiedene Anträge vorhanden sind, von denen möglichst keiner die Mehrheit findet und im Ergebnis dann die jetzt bestehende Indikationslösung bestehen bleibt.

Da hat jede und jeder Abgeordnete dann die Verantwortung, in dieser Situation zu entscheiden, erstens: Was ist seine persönliche, auch seine Gewissensauffassung? Zweitens: Was bewirkt eine Entscheidung in dieser Frage im Bundestag hinsichtlich der konkreten Rechtslage, und was bedeutet das für die betroffenen Frauen? Wobei man das wieder noch differenziert sehen kann: für den Ost‑ und für den Westteil. Die Einschätzungen sind allerdings unterschiedlich, wie lange die östliche Regelung gegenüber dem Bundesverfassungsgericht ohne eine Änderung Bestand hätte.

Das heißt, Genossinnen und Genossen: Ich bitte, allen abzunehmen, dass wir uns lange intensiv und abwägend mit der Problematik beschäftigt haben, dass es uns darum ging, einerseits deutlich zu machen, was die Berliner SPD seit Jahren zu dieser Frage gesagt hat ‑ auch in Tradition dessen, was schon in der Weimarer Republik von der Sozialdemokratie für Positionen eingenommen wurden ‑, dass wir keine Bedenken haben, diesen Kompromissantrag als das zu würdigen, was er ist: ein Kompromiss, dass wir aber bitten, wirklich darauf zu achten: Kriegen wir einen Rechtsfortschritt? Kriegen wir einen Fortschritt für die Frauen bei einem bestimmten Abstimmungsverhalten?

Dies werden die Bundestagsabgeordneten dann entscheiden müssen. Diese Last kann ihnen keiner abnehmen, aber wir sollten sie mit einem guten Votum des Parteitags ausstatten.

(Vereinzelter Beifall)

Präs. Ursula   L e y k   : Kurt, vielen Dank für die ausführliche Begründung der Fassung der Antragskommission! ‑ Es gibt jetzt eine Reihe von Wortmeldungen ‑ zuerst Siegrun Klemmer! Ich bitte, daran zu denken, dass die Redezeit auf fünf Minuten begrenzt ist.

Siegrun   K l e m m e r   (Charlottenburg): Liebe Genossinnen und Genossen! Ich bin der Antragskommission sehr dankbar, dass sie sich mit so großer Ernsthaftigkeit dieses Themas angenommen hat. Trotzdem möchte ich euch gern zu dem nun von der Antragskommission vorgeschlagenen Änderungsantrag noch einige Änderungen ans Herz legen, und zwar soll es in Punkt I folgendermaßen heißen ‑ nach dem Doppelpunkt im ersten Absatz, wo es heißt, „Jede Frau muss frei und eigenverantwortlich …“ ‑:

Jede Frau muss frei und eigenverantwortlich entscheiden können, ob sie ein Kind haben will oder nicht.

Es soll nicht vom Austragen der Schwangerschaft die Rede sein, weil das unserem Verständnis von der Frau in dieser Situation nicht entspricht.

Den Satz, „Notwendig bleibt es auch …“, der den zweiten Absatz von Punkt I beendet, möchte ich gern an dieser Stelle gestrichen haben. Wir behandeln hier den Absatz des § 218 im Strafrecht, und wir meinen, dass es eine unzulässige Vermischung mit sozialen Maßnahmen, die im Zusammenhang mit der Änderung des § 218 durchzusetzen sind, bedeutet, wenn an dieser Stelle auf solch eine Maßnahme hingewiesen wird. Es ist unbenommen, dass das mit den Änderungen, die im Zusammenhang mit diesem Gesetzentwurf stehen, wieder aufgenommen wird.

Punkt III soll folgendermaßen heißen:

Maßstab für eine Neuregelung der Gesetzgebung zum Schwangerschaftsabbruch muss das Selbstbestimmungsrecht der Frau sein.

Der Antrag der SPD‑Fraktion

‑ also der Gesetzentwurf, den wir eingebracht haben ‑

zu § 218 wird diesem Anspruch im Gegensatz zum Gruppenantrag weitgehend gerecht. In der vorliegenden Form lehnt die Berliner SPD den Gruppenantrag daher ab.

Ich möchte das jetzt ein bisschen begründen. Vorausschicken möchte ich, dass die Abgeordneten in dieser Frage natürlich nicht dem Fraktionszwang unterliegen, sondern dass sie in ihrer Entscheidung frei sind. Darum habe ich auch dafür geworben, die Aufforderung an die Bundestagsabgeordneten herauszunehmen. Dieser Antrag soll ein eindringlicher Appell sein und soll deutlich machen ‑ das hat Kurt auch schon gesagt ‑, dass die Berliner SPD sich lange, und zwar mindestens 15 Jahre ‑ wenn auch in unterschiedlicher Form dann ‑, mit diesem Thema beschäftigt hat.

Mir geht es vor allen Dingen darum, dass nach außen und vor allen Dingen den Frauen, die wir in den letzten Jahren in einem mühseligen Kampf von Überzeugung für die Sozialdemokratische Partei gewonnen haben, deutlich wird, dass wir nicht kampflos, nicht voreilig und nicht im vorauseilenden Gehorsam zu schnell unsere eigenen Positionen aufgeben.

Liebe Genossinnen und Genossen, wir befinden uns leider Gottes in einer Situation, in der wir das im Moment an mehreren Stellen tun und möglicherweise tun müssen. Ich erinnere an die leidige und sehr heikle Diskussion zum Artikel 16, und ich erinnere in diesem Zusammenhang an die Kernkraftdiskussion, den Ausstieg aus der Atomenergie. Wir mussten gerade mit Schmerzen feststellen, dass unsere Genossinnen und Genossen in Baden‑Württemberg auch da einen Kompromiss eingehen müssen. ‑ Gerade bei den Frauen, die wir gewonnen haben, auch z. B. durch die Quote, Frauen, die regelrechte Berührungsängste vor der SPD hatten, die sich uns gegenüber aufschlossen, ich denke, mit einem kräftigen Blick auf diese Gruppe ‑ von der Wolfgang Thierse auf dem Juso‑Bundeskongress gesagt hat, dass ihr Eintrittswille in die SPD wieder gestoppt sei ‑ sollten wir vorsichtig sein, zu früh, zu deutlich Ja zu dem vorgelegten Gruppenantrag zu sagen.

Ich will damit nicht sagen, dass am Ende dieses Diskussionsprozesses dann doch ein Ja stehen soll, aber worum es mir geht, ist, die Zeit zu nutzen und ganz deutlich zu machen, dass wir natürlich Kompromisse schließen müssen. Das, worüber wir hier reden, ist der Kompromiss des Kompromisses des Kompromisses. Ich möchte, dass unsere Deadline sehr deutlich bleibt, und zwar bis zum Schluss. Ich möchte, dass unser Gruppenantrag bis zum Schluss im Gespräch bleibt und nicht voreilig und, wie ich finde, zu schnell und ohne ausreichende Diskussion des nun vorgelegten Kompromisses aus der öffentlichen Diskussion verschwindet.

Ich denke, wir Berlinerinnen und Berliner innerhalb der SPD sind immer Schrittmacher gewesen. Wir haben immer Schrittmacherdienste geleistet, auch in anderen Fragen, für andere Regionen der Bundesrepublik und wollen das jetzt natürlich auch für die Frauen in der ehemaligen DDR tun.

Ich möchte ein bisschen dem Hinweis entgegentreten, der im Zusammenhang mit dieser Diskussion zu hören war, dass sich die Frauen in Baden‑Württemberg und in Bayern nach dieser Regelung, wie sie nun verabredet werden soll, die Finger schlecken würden. Auch die Landesparteitage der dortigen Sozialdemokraten haben andere Beschlüsse als die jetzigen. Die Zeit zur Diskussion war zu kurz, und wenn die Frauen dort dazu ausführlich, so, wie wir hier, Gelegenheit gehabt hätten, denke ich, würden auch sie sich unserer Meinung annähern.

Ich möchte einen Satz noch zu dem Frauenbild sagen, das in diesem Gruppenantrag zum Ausdruck kommt. Das kann nicht das sozialdemokratische Frauenbild sein, das davon ausgeht, dass Frauen darauf hingewiesen werden müssen, verantwortungsvoll mit einer Schwangerschaft umzugehen, dass man sie im Grunde mit einer Beratung darauf aufmerksam machen kann und in die Lage versetzt, eine Schwangerschaft nach Möglichkeit zu beenden. Ich denke, wir waren schon lange einen ganzen Schritt weiter. Wir hatten davon Abschied genommen, dass den Frauen zu sagen ist, wie sie sich bei einer Schwangerschaft zu verhalten haben. Wenn ihr euch ‑ und darum bitte ich euch alle, denn ich merke, dass das nicht immer der Fall gewesen ist ‑ den vorgelegten Gruppenantrag gründlich durchlest, werdet ihr sehen, dass sogar ein sehr deutliches Beratungsziel vorgegeben ist. Deshalb bitte ich euch ganz herzlich, vor allen Dingen auch mit Blick auf die wachsamen Frauen außerhalb der SPD, meinem Änderungsantrag zuzustimmen.

(Beifall)

Präs. Ursula   L e y k   : Danke schön! Ich habe Siegrun etwas länger reden lassen, damit sie auch die Situation aus dem Bundestag noch darlegen konnte. Ich bitte aber alle folgenden Rednerinnen und ggf. auch Redner, sich wirklich an die Redezeitbeschränkung zu halten. ‑ Als nächste hat Helga Hirsch das Wort!

Helga   H i r s c h   (Prenzlauer Berg): Liebe Genossinnen und Genossen! Ich möchte zu diesem Ausspruch, das wäre immerhin eine Verbesserung, dieser Kompromiss des Kompromisses des Kompromisses, wie Siegrun gesagt hat, sagen: Das kann ich so nicht mittragen; denn es wird mir viel zu wenig ausgesprochen, dass das eine wesentliche Verschlechterung für die Frauen aus den neuen Bundesländern ist. Sicherlich muss man bestimmte Kompromisse schließen, aber wie diese Kompromisse hier aussehen, das geht, wie ich meine, über die Schmerzgrenze.

(Vereinzelter Beifall)

Wie Siegrun schon gesagt hat ‑ ich will diesen Satz noch einmal zitieren: „Die Beratung soll die Schwangere in die Lage versetzen, eine verantwortungsbewusste eigene Gewissensentscheidung zu treffen.“. Ich muss schon sagen: Sicherlich ging es in den Krankenhäusern der ehemaligen DDR, in denen die Unterbrechungen gemacht wurden, nicht immer ohne Diskriminierung zu. Das waren allerdings zwischenmenschliche Beziehungen, Haltungen von Menschen. Hier wird die Diskriminierung der Frau per Gesetz verordnet.

(Vereinzelter Beifall)

Dann kommt noch hinzu: Die Beratung darf nicht von dem Arzt vorgenommen werden, der den Abbruch durchführt. Also die Frau geht sicherlich auch zu dem Arzt ihres Vertrauens, von dem der Abbruch durchgeführt werden soll. Sie muss also ihre ganze Seele noch einmal vor einem anderen ausbreiten und sagen, dass sie sich selbst nicht zu einer verantwortungsbewussten Gewissensentscheidung durchringen kann.

Dann kommt noch dazu: In diesem Gesetzentwurf ist auch die unentgeltliche Abgabe für Frauen bis zum Alter von 20 Jahren drin. Ich muss sagen: In der ehemaligen DDR hatten wir grundsätzlich die unentgeltliche Abgabe der Verhütungsmittel.

In diesem Gesetzentwurf finde ich noch viele Dinge, die für mich sogar widersprüchlich sind. Da heißt es also auch:

Die Schwangere ist nicht nach Absatz 3 strafbar, wenn der Schwangerschaftsabbruch von einem Arzt vorgenommen worden ist und seit der Empfängnis nicht mehr als 22 Wochen verstrichen sind“. Das Gericht   k a n n   von Strafe absehen, wenn sich die Schwangere zur Zeit des Eingriffs in besonderer Bedrängnis befunden hat.

Also, ich könnte da Bilder konstruieren, die ziemlich schlimm sind, wie Frauen dann behandelt werden, da die Gerichte ja überwiegend mit Männern besetzt sind. ‑ Danke!

(Vereinzelter Beifall)

Präs. Ursula   L e y k   : Das Wort hat Anna Damrat!

Anna   D a m r a t   (Wilmersdorf): Ich will das unterstützen, was Siegrun gesagt hat, zumal es auch in einem kurzen Gespräch, das wir untereinander geführt haben, zustande gekommen ist, was wir ja machen mussten, um hier in der richtigen Weise noch reagieren zu können.

Was sie zu den einzelnen Absätzen gesagt hat, halte ich für richtig und notwendig ‑ und ich halte es auch vor diesem Hintergrund für richtig und notwendig. Ich hoffe, dass viele von euch noch Unterschriften gesammelt haben. Manchen fiel es schon etwas schwer, manche sagten: Es nützt ja doch nichts, bringt nichts mehr, und die SPD, die wackelt auch. Deshalb sollten wir in dieser Weise, dass wir den Antrag so auch hier abstimmen, klarmachen, dass die SPD mit ihrer Meinung da an derselben Stelle steht und auch denen den Rücken stärkt, die in Verhandlungen gehen. Wenn wir sagen, wir finden das alles schon ganz prima und können uns gar nichts anderes und schöner vorstellen als diesen Gruppenantrag oder leicht knurrend sagen, na ja, es geht ja noch, dann weiß jeder, wenn wir sagen, na ja, es geht ja noch, da geht noch mehr.

Deshalb müssen wir hier an dieser Stelle diese Position, auf der wir stehen, noch einmal so deutlich und unmissverständlich klarmachen. Wir haben diese einschlägigen Aufträge an die Abgeordneten gerade eben deswegen herausgenommen, um ihnen den Rücken gerade in der Weise zu stärken, dass sie auch einen guten Grund haben, zu sagen: Das und das und das geht nicht mit uns!

Es wird schon wieder rumgemurkst, es wird an verschiedenen Stellen schon wieder weiter am Kompromiss des Kompromisses rumgemacht. Wer Zeitung liest, weiß, dass schon wieder die Notlagenindikation hereinkommen soll. Und wer Zeitung liest, weiß, dass auch da schon wieder weiter diskutiert und gesagt wird: Na ja, vielleicht, sollten wir das auch noch machen.

Um das alles noch zu verstärken, bitte ich euch, das, was wir bei der Veranstaltung „218 Tango“ ‑ das war am Freitag vor der Wahl im Haus am Lützowplatz ‑ angefangen haben, den Endlosbrief noch mit zu unterzeichnen. Die Rückseite davon ist eine schöne 50er‑Jahre‑Tapete, was heißt, dass wir diese eben nicht mehr haben wollen, und was außerdem heißt: 120 Jahre § 218 sind endlich genug!

(Beifall)

Präs. Ursula   L e y k   : Kurt Neumann hat das Wort!

Kurt   N e u m a n n   (Antragskommission): Die Antragskommission ist für sorgfältige Arbeit gelobt worden ‑ das war wohl nicht ganz richtig. Zu Recht ist die Formulierung kritisiert worden, „… eine Schwangerschaft austragen will oder nicht“. Es muss so heißen, wie Siegrun das gesagt hat: „… ein Kind haben will oder nicht“. Wir haben bedauerlicherweise von der ASF an diesem Punkt abgeschrieben, wir hätten selbst formulieren sollen. Das bitte ich der Antragskommission nachzusehen.

Ich finde die Diskussion nicht ganz ehrlich. Wir haben den ursprünglichen Antrag der ASF sehr kontrovers diskutiert. Darin stand: Wir lehnen den Kompromiss ab, und deswegen fordern wir die Bundestagsabgeordneten auf, dagegen zu stimmen. ‑ Das ist eine Position; das kann man vertreten, das kann auch frau vertreten.

Wir haben dagegen formuliert, wir finden das nicht gut. Ich finde es kritisierenswert, wir müssen es verbessern, aber es kann eine Situation geben, in der eine bestimmte, verantwortliche Entscheidung notwendig ist. Wenn ihr jetzt damit schließt, dass ihr sagt, die Berliner SPD lehnt das ab, diesen Kompromiss, und das heißt für die Bundestagsabgeordneten gar nichts, dann muss ich sagen, verstehe ich den Antrag nicht mehr. Dann verstehe ich auch nicht, warum er als Alternative notwendig ist zu dem, was die Antragskommission formuliert hat. Es geht nämlich nicht nur darum, zu bekennen, für welche Position wir sind ‑ das ist bekannt ‑, sondern es geht darum, eine möglichst gute oder möglichst wenig schlechte Lösung zu bekommen.

Nun will ich noch einen Punkt nennen: Es wird ja, weil Stimmen gebraucht werden, diskutiert, wir müssten das möglicherweise, um das noch besser mehrheitsfähig zu machen, weiter zu Teilen der CDU hin öffnen. Dieses Argument wird an Dringlichkeit gewinnen, wenn einige, denen das nicht weit genug geht in unserem Sinn, sagen, sie werden nicht zustimmen. Das ist ein Rechenbeispiel. Das heißt, wenn gesagt wird, vom linken Bereich der SPD und vom Bereich Bündnis 90 werden einige Abgeordnete männlichen und weiblichen Geschlechts nicht zustimmen, dann brauche ich, um überhaupt etwas von der Indikationslösung wegzukriegen, Stimmen von der CDU. Es ist bedauerlich, dass das so ist, aber so sind die Grundrechenarten. Und die Stimmen kriege ich nur, wenn ich ein Stück weiter nachgebe. Dieses Argument muss ich, wenn ich ernsthaft etwas ändern will, mit bedenken. Daraus folgt keine konkrete Taktik, die können wir hier nicht beschließen. Aber wenn wir dabei stehenbleiben, zu sagen, wir lehnen das ab, ist es schwer verständlich, weswegen wir dann in bestimmten Situationen den Bundestagsabgeordneten eigentlich zumuten, trotzdem möglicherweise mit Ja einem Kompromiss zuzustimmen.

Es ist alles nicht so weit auseinander. Wir werden unsere Bundestagsabgeordneten nicht auffordern, in jedem Fall dagegen zu stimmen, das halte ich für richtig. Aber benennen wir doch auch die Schwierigkeit, die objektiv besteht, dass eine Zersplitterung dazu führen kann, dass der alte Rechtszustand der Indikationslösung bestehen bleibt. Und das ist doch der entscheidende Unterschied: Die Zwangsberatung ist schlimm, weil sie für die Frau demütigend ist. Aber wenn sie nach einer Beratung sagt, ich folge nicht dem Rat, ich will den Abbruch, dann kann ihr nichts geschehen. Bei der jetzigen Lösung ist es so: Wenn ein Arzt sagt, es soll abgebrochen werden, ist das von der Justiz überprüfbar und wird von der Justiz mit strafrechtlichen Sanktionen belegt. Das muss weg! Deshalb sollten wir klar und deutlich sagen: Jeder Kompromiss des Kompromisses des Kompromisses, der wegkommt von dieser jetzigen schlimmen Lage, ist ein Schritt in die richtige Richtung ‑ und darum muss es gehen, wenn wir verantwortlich handeln wollen.

(Vereinzelter Beifall)

Präs. Ursula   L e y k   : Das Wort hat Sabine Brünig!

Sabine   B r ü n i g   (Wilmersdorf): Liebe Genossinnen und Genossen! Das reicht mir nicht! Mir reicht es nicht, nur einzelne kleine, minimale Schritte in die Gänge zu kriegen. Vor allen Dingen denke ich, dass bei vielen Delegierten mittlerweile die Schere im Kopf ist, nämlich dass sie nur noch denken, wie kriegen wir Mehrheiten zusammen, und nicht mehr daran denken: Wie ist unsere eigentliche Position als Partei zu diesem Fragenkomplex § 218? Ich bin froh, dass wir hier einen Landesparteitag haben und nicht nur ein Gremium von lauter Bundestagsabgeordneten; denn wir als Delegierte haben es nicht nötig, nach diesen Mehrheiten im Parlament zu schielen, sondern wir müssen unsere Parteiposition deutlich machen.

(Vereinzelter Beifall)

Das ist eine sehr einfache Angelegenheit; denn mittlerweile wissen alle hier im Raum, wie unsere grundsätzliche Position zu § 218 ist, nämlich: Raus damit aus dem Strafgesetzbuch, keinerlei Strafandrohung, keinerlei Zwangsberatung, jede Frau ist in der Lage, über ihre Zukunft selbst zu entscheiden, ob mit oder ohne Kind.

Ein weiteres spricht für unsere Position, nämlich die dicke, fette Bevölkerungsmehrheit, die wir für unsere Position haben. Würde das Volk abstimmen ‑ was wir ansonsten manchmal fordern, dass das Volk öfter abstimmen sollte ‑, dann würden wir eine klare Mehrheit für den SPD‑Antrag kriegen, denn die Bevölkerung ist mehrheitlich für die Fristenregelung.

(Vereinzelter Beifall)

Trotzdem müssen wir selbstverständlich auch um parlamentarische Mehrheiten kämpfen. Deshalb bin ich dankbar für den Gruppenantrag, denn der ist eine Initiative in die richtige Richtung, nämlich die Fraktionszwänge ein wenig aufzuweichen. Ich denke, dass Inge Wettig‑Danielmeier, die ASF‑Vorsitzende, hier gute Initiativen gestartet hat. Das ist aber Sache der Bundestagsabgeordneten und nicht ein Ding, das wir als Delegierte hier zu entscheiden haben.

Ich denke: Wir als Landesparteitag müssen ganz deutlich sagen, dass es sich bei dem Gruppenantrag um einen Kompromiss handelt und dass wir als Partei auch Druck ausüben und sagen: Dieser Gruppenantrag ist nicht unsere Position, wir wollen etwas sehr viel Weitergehendes. Denn nur, wenn wir als SPD auf die Öffentlichkeit und auch auf unsere SPD‑Abgeordneten im Bundestag Druck ausüben, schaffen wir es vielleicht tatsächlich noch, beim jetzt vorhandenen Gruppenantrag positive Veränderungen hinzukriegen. Ihr seht ja, wie der Druck von seiten der CDU/CSU ausgeübt wird ‑ genau in die gegenteilige Richtung ‑, nämlich ihre Position über Indikationen und weitere Einschränkungen durchzusetzen. Ich befürchte, wenn wir als Partei nicht ganz klar sagen: So nicht!, dass dann einige von unseren Bundestagsabgeordneten leider auch in ihrer Position wanken werden. Man hört schon einiges in dieser Richtung munkeln. Deshalb: Vorbeugen ist besser als bohren! Wir haben als Partei einfach den Auftrag, unsere Position klarzumachen.

Zum Gruppenantrag: Wenn dort gesagt wird ‑ § 218, erster Satz ‑, wer eine Schwangerschaft abbricht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, dann können wir nur sagen: Nein, die grundsätzliche Strafandrohung kann nicht unser Ding sein! Helga hat es vorhin gesagt: Dieser Gruppenantrag ist keine grundsätzliche Verbesserung der Situation für uns im Westen und erst recht nicht für die Frauen im Osten. Ich fühle mich, ehrlich gesagt, auch verantwortlich für die Frauen, die aus der ehemaligen DDR gekommen sind und da eine ganz andere Richtlinie zu § 218 kennen. Deren Bedürfnisse und Interessen sollten wir sehr ernst nehmen.

Ich denke: Wir als Landesparteitag müssen ganz klar und eindeutig sagen, dass wir den Gruppenantrag als einen Kompromiss ablehnen. Dann sind die Bundestagsabgeordneten gerade von unserer Partei genauso gut eigenverantwortlich in der Lage, frei zu entscheiden, was sie im Bundestag machen, wenn sie diese Position der SPD nämlich kennen. Genauso wie jede Frau eigenverantwortlich entscheiden kann, kann auch jeder Bundestagsabgeordnete unserer Partei dann entsprechend eigenverantwortlich entscheiden.

Ich möchte euch deshalb bitten, dem Änderungsantrag von Siegrun mit dieser klaren Ablehnung des Gruppenantrags hier zuzustimmen. ‑ Danke!

(Vereinzelter Beifall)

Präs. Ursula   L e y k   : Das Wort hat jetzt Monika Buttgereit! ‑ Ich bitte nochmals, Disziplin zu üben und die Redezeit zu beachten.

Monika   B u t t g e r e i t   (Kreuzberg): Liebe Genossinnen und Genossen! Sabine hat eben gefordert, dass wir unsere Parteiposition deutlich machen: Die Position der Berliner SPD ist seit Dezember 1987 die Forderung nach ersatzloser Streichung des § 218. Ich bin froh, dass das auch in dem vorliegenden Antrag noch einmal erwähnt und unterstrichen wird. Deshalb kann ich Sabines Vorwurf, dass die Position der Berliner SPD hier nicht deutlich wird, nicht nachvollziehen. Ich denke, es ist sehr deutlich gemacht, was wir als SPD für Forderungen in Sachen des § 218 haben.

Ich teile auch alles das, was Siegrun an Kritik über die Verhandlungskommission der Bundestagsfraktion gesagt hat, weil auch mir das alles viel zu schnell ging und auch ich den Eindruck hatte ‑ zumindest nach dem, was ich aus der Diskussion in der Öffentlichkeit gehört habe ‑, dass eigene Positionen zu schnell aufgegeben wurden und nicht lange genug deutlich gemacht wurde, dass dort über Kompromisse verhandelt wird und wo die eigentlichen Positionen der SPD hier sind. Deswegen bin ich auch der Meinung, dass der SPD‑Antrag im Bundestag bis zum Schluss aufrechterhalten und darüber auch abgestimmt werden muss, damit in der Öffentlichkeit deutlich gemacht wird, welches die inhaltliche Position der SPD in dieser Frage ist.

Ich kann allerdings Siegruns Änderungsantrag nicht zustimmen, und ich möchte euch auch begründen, warum: Wenn wir sagen, diesen Kompromiss wollen wir nicht, dann müssen wir sagen, was die Alternative dazu ist. Die Alternative ist ja nicht die, dass die Frauen im Osten ihre Fristenlösung ohne Zwangsberatung behalten. Das wäre gut, dann würde ich jederzeit sagen: Okay, wir lehnen das ab, und wenigstens die Frauen im Osten haben ihr Stückchen Selbstbestimmung und können weiter nach der Fristenlösung ohne Zwangsberatung verfahren. Und wir müssen leider weiter mit der Indikationslösung leben, so schlecht, wie wir das bisher gemacht haben.

Aber dieses ist nicht die Alternative, sondern die Alternative ist ‑ wenn es keinen Kompromiss gibt, der die Mehrheit im Bundestag findet ‑, dass die westdeutsche Indikationslösung auf das gesamte Bundesgebiet ausgeweitet wird. Dieses heißt, dass jede Frau nicht nur zur Zwangsberatung gehen muss ‑ und das ist schon schlimm genug. Denn Beratung und Zwang sind zwei Dinge, die sich völlig widersprechen, die völlig absurd und paradox sind. Wer zur Beratung gezwungen wird, kann nie mit Erfolg beraten werden; das ist ein völliger Schwachsinn! Aber wenn wir die Indikationslösung auf die gesamte Bundesrepublik ausgeweitet bekommen, dann heißt das für die Frauen im Osten wie im Westen: nach wie vor der erniedrigende Gang zum Arzt und das Klarmachen einer Notlage. Alle Frauen, die das im Westteil dieser Republik einmal mitgemacht haben, wissen, was das für ein Gefühl ist, wenn man beim Arzt sitzt und sich überlegt, wie macht man diesem Mann klar, dass man sich als Frau in einer Notlage befindet? Das ist eine verdammt beschissene Situation!

Ich muss sagen: Jeder Schritt, der die Frauen von dieser Notlagenindikation wegbringt, ist für mich ein Schritt zur Verbesserung der Situation, wenn man einen Schwangerschaftsabbruch machen lassen will. Deswegen ist für mich der Kompromiss, der da gefunden ist, so bescheiden er ist, ein kleiner Schritt in die richtige Richtung. Die Frauen müssen sich zwar weiter zwangsberaten lassen ‑ und das ist schlimm genug ‑, aber sie können wenigstens mit dem Selbstbewusstsein dort sitzen, dass der Arzt ihnen zwar viel erzählen kann, aber das sie hinterher allein die Entscheidung treffen können, ob sie abbrechen wollen oder nicht. Sie sind nicht darauf angewiesen, dass dieser Typ oder diese Ärztin ihnen bescheinigt, dass sie einer Notlage unterliegen, und das ist in der Praxis doch eine Verbesserung.

(Vereinzelter Beifall)

Jeder, der das nach der alten Regelung einmal mitgemacht hat ‑ und ich gehöre zu denen, die das einmal durchgemacht haben ‑, muss sagen: Es ist wirklich eine Verbesserung, macht euch das klar. Letztendlich trifft die Frau die Entscheidung und nicht mehr der Arzt oder die Ärztin ‑ und das ist ein Schritt nach vorn.

(Beifall)

Deswegen fordere ich die Bundestagsfraktion auf, weiter zu verhandeln, zu versuchen, noch Verbesserungen zu erreichen. Das wäre in unserem Sinn selbstverständlich. Ich fordere euch auch auf, unsere SPD‑Position, die natürlich weitergehend ist, weiter deutlich zu machen.

Aber wenn es keine Verbesserungen gibt, dann sehe ich mich nicht in der Lage zu sagen, ich lehne das ab, weil es nicht unserer SPD‑Position entspricht. Denn wir sind leider nicht in der gesellschaftlichen Position, dass wir klare SPD‑Positionen immer durchsetzen können. Wir müssen Kompromisse machen, und wenn sie in die richtige Richtung gehen, dann sollten wir sie auch machen.

(Vereinzelter Beifall)

Präs. Ursula   L e y k   : Das Wort hat Lore Hüser!

Lore   H ü s e r   (Schöneberg): Klare SPD‑Position! Ich möchte einmal deutlich machen, worum es in dieser Diskussion um den Gruppenantrag eigentlich geht. Es geht nämlich nicht um den Antrag der SPD, es geht fast exakt um den Antrag der FDP. Ich finde kaum Worte, wo sich die SPD in dem entscheidenden Teil des Antrags überhaupt hat einbringen können. Das fängt schon mit dem Titel an. Der alte Titel vom FDP‑Entwurf heißt: „Gesetz zum Schutz des werdenden Lebens“ ‑ lasst euch das auf der Zunge zergehen ‑, und so heißt jetzt auch der Gruppenantrag.

Der Entwurf der FDP ‑ ich nenne ihn jetzt so ‑ zum Schutz des werdenden Lebens im Rahmen des Schwangerschaftsabbruchs ist fast wörtlich in dem Gruppenantrag übernommen worden. Ich darf euch erinnern: Der Begriff des werdenden Lebens bzw. des vorgeburtlichen Lebens, der jetzt Eingang in das Gesetz gefunden hat ‑ bislang gab es das dort nicht ‑, entstammt dem Sprachschatz der sogenannten Lebensschützer. Nach dem Begriff des Selbstbestimmungsrechts ‑ der zentralen Forderung der SPD ‑ suchen die Frauen in dem Gesetz vergeblich. Immer wieder wird gesagt, mit der Aufrechterhaltung der reinen Lehre verhindert ihr jeden Fortschritt. Sabine hat schon aufgezählt, was denn nun eigentlich die ureigenste Forderung war und ist, und zwar ist die noch weitergehender als das, wozu sich die SPD hat hinreißen lassen: Es ist die ersatzlose Streichung des § 218 nicht nur aus dem Strafgesetzbuch, es ist das uneingeschränkte Selbstbestimmungsrecht der Frauen über ihren Körper und über ihre Lebensplanung.

Wir haben Kompromisse geschlossen. Wir haben ‑ wir, das heißt, die Frauen in der SPD ‑ dem Modell der SPD‑Fraktion zugestimmt ‑ trotz seiner Minimalfrist von 12 Wochen. Nur einmal zum Vergleich: Holland hat 20 Wochen, die USA haben 26 Wochen. Egal! Richtschnur für unsere Entscheidung war und ist, dass durch eine Neuregelung des § 218 auf keinen Fall eine Verschlechterung für Frauen eintreten darf. Und darum geht es jetzt die ganze Zeit, um die Untersuchung: Was für ein Fortschritt kommt denn nun eigentlich in Gestalt des Gruppenantrags? Das ist hier schon ausgeführt worden: Für die Ost‑Frauen gibt es im Verhältnis zur geltenden Regelung gar keinen Fortschritt.

Wie sieht es für die alten Bundesländer aus? Da bringt der Vorschlag nämlich nicht nur Verbesserungen, er bringt auch Verschlechterungen, und die möchte ich jetzt einmal ganz explizit aufführen: Verschlechterungen gibt es bei der Zwangsberatung. Wenn man sich diesen Passus, diesen neuen § 218, durchliest, sieht man, dass wir durch die Hintertür dieses Beratungsgesetz ‑ ihr erinnert euch vielleicht, das war einmal in der Diskussion, das sollte eingeführt werden; das haben wir alle ganz entschieden abgelehnt und auch verhindert ‑ serviert kriegen, und zwar: Die Beratung soll jetzt umfassend sein ‑ nicht nur medizinisch, sondern auch sozial und sogar juristisch. Das gibt es bislang nicht.

Zweitens: Die Beratung dient dem Lebensschutz. Das steht wörtlich am Beginn des Satzes. Lebensschutz heißt: immer Schutz des Fötus, nie Schutz der Frau. Neben dem Lebensschutz wird der hohe Wert des vorgeburtlichen Lebens explizit im Gesetzestext festgehalten, dem nicht die Selbstbestimmung der Frau, sondern lediglich ihre Eigenverantwortung zur Seite gestellt wird ‑ das ist ein Unterschied. Mit dem Lebensschutz und dem vorgeburtlichen Leben haben die sogenannten Lebensschützer erreicht, dass ihr Vokabular Gesetzesbestandteil geworden ist.

Drittens: Das dazugehörige Frauenbild ‑ das wurde hier schon mehrfach erwähnt, man kann es nicht oft genug wiederholen ‑ hat in dem neuen § 218 seinen Niederschlag gefunden: Die Frauen werden entmündigt, als entmündigte Wesen definiert, die erst in die Lage versetzt werden sollen, Entscheidungen zu treffen.

In allen drei Punkten können wir uns mit keinen verbalen Glättungen zufrieden geben. Im neuen § 219 Abs. 1 sind die Sätze 1 und 3 ersatzlos wieder zu streichen. Die hatten wir nicht, die wollen wir nicht, und da kann es gar nichts geben: Dem kann man nicht zustimmen!

Nun zur Verbesserung: Wenn die Indikation wegfällt, ist es auf jeden Fall eine Verbesserung, praktisch kommt es darauf an. Die CDU macht nun alles, um die Notlagenindikation einzuführen. Und jetzt steht nämlich im Raum, ob nicht möglcherweise auch diese Kröte noch geschluckt werden kann, wenn doch wenigstens die Kita‑Plätze durchgesetzt werden können. Da wollen wir noch einmal ganz deutlich sagen: Schwangerschaftsabbruch und soziale Maßnahmen haben nichts miteinander zu tun!

(Präs. Ursula Leyk: Lore, komme bitte zum Schluss!)

Kurt hat gesagt, die Berliner SPD habe ihre Positionen immer deutlich genug dargelegt. Ihre Position zum Gruppenantrag hat sie nicht dargelegt! Der ist neu, da konnte sie noch gar keine Position beziehen. Das ist nötig, um unseren Abgeordneten im Bundestag den Rücken zu stärken, dessen bedürfen sie.

(Beifall)

Präs. Ursula   L e y k   : Das Wort hat jetzt Irmi Meier‑Nieraad mit der Bitte, daran zu denken, dass es wirklich nur fünf Minuten Redezeit werden!

Irmi   M e i e r ‑ N i e r a a d   (Schöneberg): Liebe Genossinnen und Genossen! Ich bitte euch, dem Änderungsantrag, den Siegrun Klemmer eingebracht hat, zuzustimmen. Mir geht es nicht um die Reinheit der Lehre, mir geht es eigentlich um eine ganz konkrete Überlegung: Ich bin der Meinung, dass es hier nicht so sehr um die Frauen in Berlin geht, denn die haben nie die Probleme gehabt, die heute noch katholische Frauen vor allem in katholischen ländlichen Regionen haben, und an die denke ich hier in erster Linie. Ich stelle mir vor, was mit diesen Frauen ist, wenn sie einen Schwangerschaftsabbruch durchführen lassen wollen und nun zwar nicht mehr unter der Strafandrohung stehen ‑ das ist ein Fortschritt, das will ich überhaupt nicht leugnen ‑, aber weiterhin durch die Zwangsberatung unter einem ungeheuren moralischen Druck. Ich weiß aus eigener Erfahrung ‑ ich stamme aus einer sehr katholischen Familie und bin sehr katholisch erzogen worden ‑, was dieser moralische Druck bedeutet. Er kann unter Umständen in diesem Milieu mehr bedeuten als die Strafandrohung. Deshalb, aus diesem ganz konkreten Grund und aus meinen eigenen Erfahrungen heraus, bitte ich euch, dem Änderungsantrag, den Siegrun eingebracht hat, zuzustimmen.

(Beifall)

Präs. Ursula   L e y k   : Konrad Elmer!

Konrad   E l m e r   (Pankow): Liebe Genossinnen! Entschuldigt, dass ich auch als Mann hierzu Stellung nehme; aber ich muss mich im Bundestag entscheiden. Ich gehöre zu denen, die diesen Kompromissantrag zunächst mit eingebracht haben. Warum wünschte ich mir, dass er nicht ganz so verrissen wird? Nicht nur, weil ich denke, dass wir am Ende darauf hinauskommen werden, ihn in einer ähnlichen Weise anzunehmen, sondern auch, weil es schon gute Gründe gibt, diesen Kompromiss gar nicht für so schlecht zu halten.

Erstens ist es wirklich ein Kompromiss. Entgegen den Darstellungen, die hier kamen, hat auch die FDP echte Zugeständnisse machen müssen. Nach dem FDP‑Entwurf sollte die Frau schon nach dem dritten Monat bestraft werden, wenn sie doch noch abtreibt. Dies ist durch uns auf die 22. Woche verschoben worden. Das ist nicht Nichts!

Und entgegen der Darstellung vorhin, dass der Schutz des Lebens schon in der Überschrift steht: Der stand genau so auch in dem SPD‑Antrag, den wir ursprünglich hatten, ihr könnt es nachlesen.

Siegrun wird bestätigen können, dass ich mit großer Vehemenz in der eigenen Fraktion mit dafür gekämpft habe, dass die freiwillige Beratung durchkommt und nicht die Informationspflicht, die auch da innerhalb der SPD von einer Gruppe schon stark befördert wurde. Was jetzt herausgekommen ist, ist in meinen Augen in der Tat kein Beratungszwang. Die Frau braucht ihre eigenen Gründe nicht zu entfalten, wenn sie das nicht will, sondern man kann das, was dort steht, durchaus als Informationspflicht verstehen. Die Frau muss ihre Gründe nicht vorlegen, wenn sie das nicht will, aber sie hat sozusagen die Chance ‑ und jede gute Beraterin wird das wahrnehmen ‑, sich im Gespräch noch einmal ihrer eigenen Argumente zu vergewissern, wenn sie das will.

Ich kann auch nicht sehen, dass das Beratungsziel so eindeutig festgelegt ist, denn es heißt: unter Anerkennung des hohen Wertes des vorgeburtlichen Lebens   u n d   der Eigenverantwortung der Frau. Die Frau braucht die Bevormundung nicht, deshalb wäre ich auch froh, wenn wir den SPD‑Antrag durchbekommen. Ich will nur sagen, warum man mit dem Kompromiss leben kann. Sonst könnte ich auch einem Kompromiss nicht zustimmen, wenn ich da gegen meine eigene grundsätzliche Überzeugung stimmen müsste.

Ich wollte noch kurz etwas zu den Änderungsanträgen von Siegrun sagen:

(Glocke des Präsidiums)

Siegrun, ich befürchte, wenn du da den Begriff des Kindes in diesen Zusammenhang hineinbringst, statt „Schwangerschaft austragen“, dann rutscht das in die Terminologie der Konservativen, die uns einreden wollen, dass das schon ein Kind von Anfang an ist. Deswegen würde ich vorsichtshalber doch die alte Formulierung belassen ‑ auch wenn du das natürlich nicht so meinst, das ist völlig klar. Ein Kind haben wollen oder nicht, da kann auch jemand plötzlich an Adoption denken. Also, ich denke, belasst es bei dem Text, wie er vorgesehen ist.

Dass wir uns dafür einsetzen, hier noch Verbesserungen zu erreichen, will ich an einem Beispiel deutlich machen: Dieser Satz, die Beratung soll die Schwangere in die Lage versetzen, eine verantwortungsbewusste eigene Gewissensentscheidung zu fällen, ist natürlich diskriminierend.

Präs. Ursula Leyk: Konrad, ich muss dich bitten, zum Schluss zu kommen!)

Ich habe deshalb schon im Ausschuss vorgeschlagen, zu schreiben: „… in ihrem Bemühen unterstützen, eine eigene …“ ‑ natürlich ist das unerhört, dass die Frau erst in die Lage versetzt werden soll.

Zum Schluss wollte ich noch sagen: Ich stimme nicht gern gegen die eigenen Parteibeschlüsse, und deswegen würde ich nicht noch den Satz anfügen, dass das hier eigentlich abgelehnt wird, sondern lasst uns die Freiheit, diesen Kompromiss auch als Erfolg der SPD zu verkaufen. Ich bin jedenfalls nicht bereit, die Interessen der ostdeutschen Frauen durch die Parole des Alles oder Nichts zu verraten, so dass sie unter Umständen dann doch unter die andere Lösung, unter der ihr hier leidet, kommen. ‑ Vielen Dank!

(Beifall)

Präs. Ursula   L e y k   : Bärbel Hiller!

Bärbel   H i l l e r   (Schöneberg): Genossinnen und Genossen! Von den 120 Jahren in dieser Auseinandersetzung habe ich etwas mehr als 20 Jahre auf dem Buckel. In den letzten Jahren habe ich mich nicht mehr so intensiv darum gekümmert, weil ich es einfach nicht mehr hören kann. Ich muss sagen, dieser Beitrag hier zum Schluss von dir, der ist wirklich schwer zu ertragen für eine Frau, die sich um diese Dinge gekümmert hat, und eigentlich für jede Frau, weil er uns ins Gesicht schlägt. Das zu dem Beitrag eben.

(Vereinzelter Beifall)

Und das noch als Erfolg der SPD zu verkaufen: Da wundern wir uns, dass uns die Leute nicht glaubwürdig finden, wenn wir so etwas als Erfolg verkaufen wollen.

(Vereinzelter Beifall)

Ich möchte aber einiges zu Kurt sagen: Kurt, die Ehrlichkeit, die du hier herausgestellt hast, verstehe ich nicht ganz. Wir haben einen Grundsatz, einen grundsätzlichen Beschluss, und bauen da eine Rückfallposition ein für den Fall, dass es nichts wird. Wir sagen aber gar nicht konkret, wie die Rückfallposition aussehen soll. Das ist die Fassung der Antragskommission in Punkt III. Wir deuten sie nur schon an, dass wir uns eigentlich mit ihr einverstanden erklären. ‑ Das ist doch keine Ehrlichkeit! Wenn wir den Abgeordneten schon klare Rückfallpositionen an die Hand geben wollen, dann sollten wir sie auch formulieren.

Aber ansonsten können wir ihnen nur sagen: Das wollen wir! Und wir sagen ihnen dann nach der Formulierung, die Siegrun eingebracht hat: Maßstab für eine Neuregelung der Gesetzgebung zum Schwangerschaftsabbruch muss das Selbstbestimmungsrecht der Frau sein, Maßstab, an dem sich unausgesprochen möglicherweise auch Kompromisse messen lassen müssen. Aber bitte nicht schon den Kompromiss hier im Antrag unten hinten anhängen, das finde ich in der Tat sehr unglaubwürdig und auch nicht ehrlich.

(Vereinzelter Beifall)

Präs. Ursula   L e y k   : Das Wort hat Christine Bergmann!

Christine   B e r g m a n n   (Hellersdorf): Liebe Genossinnen, liebe Genossen! Ich glaube, wir brauchen uns wirklich nicht mehr zu erzählen, was wir alle gern hätten. Unsere Wünsche, unsere Vorstellungen sind klar, wir wissen aber auch, dass wir dafür keine Mehrheiten haben. Ich muss einmal deutlich sagen: Auch wenn wir andere Mehrheiten hätten, bin ich mir noch nicht so sicher, ob wir das, was wir als Berliner SPD haben wollten, denn auch durchbekämen; denn auch in anderen Bundesländern gibt es gesellschaftliche Gruppen, auf die die Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten gelegentlich Rücksicht nehmen müssen, und am Ende haben wir dann eben einen Kompromiss.

Ein Kompromiss wird eben kein SPD‑Antrag sein, dafür ist es ein Kompromiss. Ich muss schon sagen, Bärbel: Für mich ist es ein politischer Erfolg, für wen auch immer, wenn sich aus so unterschiedlichen Positionen ‑ wir haben im Moment immerhin acht Anträge vorliegen, von denen keiner mehrheitsfähig ist ‑ eine Linie abzeichnet, die mehrheitsfähig sein wird. Das ist ein Erfolg, und ich würde mir wünschen, wenn das in vielen anderen Politikfeldern auch einmal passieren würde. Ich würde das auch als einen Erfolg der Frauen bezeichnen, dass Frauen hier die Bereitschaft zum Kompromiss gezeigt haben, auch wenn es ihnen wehtut.

Mir tut auch vieles weh an diesem Gruppenantrag, aber für mich ist die Grundfrage: Wollen wir einen Kompromiss, weil wir der Meinung sind, wir brauchen dieses Jahr eine Regelung? Ich gehe nämlich nicht davon aus, dass wir den neuen Bundesländern einen guten Dienst erweisen, wenn wir sagen, dann lassen wir doch alles wie bisher. Dann haben wir lt. Einigungsvertrag auf dem Gebiet der alten DDR die alte Regelung weiter; wir wissen aber, dass die Bayern bereits ihre Bleistifte zücken und mit der Klage kommen werden ‑. Dann haben wir eben den Status quo, ausgeschüttet über das gesamte Gebiet der Bundesrepublik. Das ist aus meiner Verantwortung für die Frauen in den neuen Bundesländern heraus nicht unbedingt ein Erfolg. Und aus dieser Verantwortung heraus sage ich ‑ wo liegt der mehrheitsfähige Kompromiss? ‑, kommen wir ein Stück weiter. Wer sagt denn, dass wir auf diesem Stück weiter ‑ und für mich ist die Fristenregelung für alle durchaus ein Stück weiter ‑, auch die Diskussion führen wollen, haben wir doch erst einmal wenigstens ein Stück von diesem Zipfel wieder. Das Ende des Kampfes ist damit noch lange nicht da, aber wir haben ihn dann auf einer etwas anderen Position.

Insofern sollten wir nicht so weit gehen, dass wir sagen, unsere Abgeordneten sollen dem nicht zustimmen, zumal hier sowieso die Gewissensfreiheit gilt und ich in diesem Fall Probleme damit habe, Abgeordneten vorschreiben zu wollen, wie sie zu stimmen haben.

Alles oder nichts sollte hier wirklich nicht die Devise sein. Für mich ist die Frage: Will ich 100 % und kriege dann gar nichts, oder bescheide ich mich mit 50, 60, 45 oder wieviel auch immer Prozent? Es ist sehr viel gearbeitet worden, da ist nichts schnell gegangen. Die Diskussion geht seit Monaten und hängt vielen von uns mittlerweile auch schon ganz schön zum Hals heraus, weil wir uns immer wiederholen und kaum etwas Neues dazu zu sagen ist. Es geht wirklich darum: Wie kriegt man jetzt einen für eine Mehrheit tragfähigen Kompromiss hin, wenn wir der Meinung sind, wir brauchen einfach ein neues Gesetz? ‑ Danke!

(Vereinzelter Beifall)

Präs. Ursula   L e y k   : Das Wort hat jetzt Roswitha Schmidt!

Roswitha   S c h m i d t   (Hellersdorf): Liebe Genossinnen und Genossen! Ich war von dem Beitrag Konrad Elmers wirklich etwas negativ überrascht. Ich muss es so aggressiv sagen: Du bist ein Mann, und so hast du dich auch dargestellt. Unsere Positionen als Frauen sind mir sehr, sehr zu kurz gekommen. Uns zu sagen, eine gute Beraterin könnte dieses und jenes daraus machen, das sind Wunschvorstellungen in ganz vielen Fällen. Ich bin dann doch dafür, dass wir soviel erreichen wollen, wie unbedingt nötig ist. ‑ So, das war schon alles.

(Vereinzelter Beifall)

Präs. Ursula   L e y k   : Danke, Roswitha! ‑ Renate Rennebach!

Renate   R e n n e b a c h   : Genossinnen und Genossen! Ich habe die Diskussion in der Bundestagsfraktion um unseren Antrag miterlebt, die über viele Stunden gegangen ist. Das ist im Vergleich nichts zu den vielen Jahren, die der Kampf dauert, das ist völlig klar. Die Alternative war ein anderer Antrag, in dem eine Pflichtberatung stand. Wir wollten die freiwillige Beratung, und wir haben sie durchgesetzt.

Dann ist Inge Wettig‑Danielmeier mit unserem Auftrag losgegangen, um mit den anderen Parteien einen überfraktionellen Gruppenentwurf zu starten. Das Ergebnis liegt jetzt vor. Ich habe der Einbringung dieses Gruppenantrags zugestimmt, obwohl mir meine sozialdemokratische Linie und unser sozialdemokratischer Entwurf natürlich viel näher liegen und ich auch bereit bin, weiterhin dafür zu kämpfen. Ich stimme all denen zu, die sagen, wir wollen unsere sozialdemokratische Linie nicht verlassen ‑ und das ist auch richtig so. Es muss allen Leuten klar sein, dass der Gruppenantrag ein Kompromiss ist, ein Kompromiss, der bei den Mehrheitsverhältnissen in diesem Bundestag notwendig ist.

Ich frage mich nur, was wäre denn, wenn wir jetzt in dieser Situation eine sozialdemokratische Bundesregierung hätten? Dann müssten wir auch zu den anderen gehen und sagen: Helft uns! Denn eine Zweidrittelmehrheit ist notwendig, um dieses Gesetz zu beschließen. Wie dann ein Kompromiss aussehen würde, wage ich nicht zu sagen, ob er denn besser sei als dieser Gruppenantrag jetzt; denn die anderen müssten dann auch um uns werben.

Da komme ich auf einen Satz, den Siegrun einmal gesagt hat. Sie hat gesagt: Warum müssen wir denn immer um die Konservativen werben? Lasst doch die Konservativen einmal um uns werben. ‑ Aus dem Grund bin ich für den Antrag, der hier auf dem Tisch liegt, den Kurt Neumann formuliert hat, der sagt, wir müssen alles tun, um unsere sozialdemokratische Linie auch im Gruppenantrag noch sichtbarer werden zu lassen. Dafür bin ich!

Aber ich möchte nicht, dass wir moralisch gehindert werden, diesem Gruppenantrag letztendlich nicht zustimmen zu können, weil er keine sozialdemokratische Linie hat. Es gilt nämlich jetzt etwas anderes: Es gibt von fünf CDU‑Abgeordneten einen Änderungsantrag zum Gruppenantrag, darin steht: Notlage der Frau, und darin steht weiter: Sie muss ihre derzeitige und zukünftige Perspektive darlegen. Und die zukünftige Perspektive kann man ganz leicht mit der Bemerkung wegwischen: Na, vielleicht kriegt sie mal eine Wohnung.

Ich denke, eine Haltung, auf die sozialdemokratische Linie orientiert, muss aus diesem Parteitag heute herauskommen, das ist klar, um Schlimmeres zu verhindern. Aber ansonsten müssen wir draußen deutlich machen, dass der Kompromissentwurf nicht unser Entwurf ist, aber dass wir dem zustimmen mussten, um nicht ab Januar die Situation zu haben, dass männliche Verfassungsrichter über die eigentliche Situation entscheiden und was denn nun wirklich zu passieren hat. Am Beispiel der Aufhebung des Nachtarbeitsverbots, wo sie uns gesagt haben, die Bundesregierung müsse eine Regelung finden, habe ich gelernt, dass die Bundesregierung, so, wie sie gestrickt ist ‑ und sie hat noch ein paar Jahre Zeit, so zu regieren ‑, dieses Problem aussitzt und dann unter Umständen das Verfassungsgericht sagt: Es gilt die alt‑bundesrepublikanische Regelung auch in den neuen Bundesländern bis eine neue Regelung gefunden ist. ‑ Ich warne euch: Das kann Jahre dauern!

Wir dürfen nur eines nicht aus dem Auge verlieren: Was unser Ziel immer gewesen ist, muss unser Ziel auch bleiben. Ich denke, das können wir auch den Frauen draußen erzählen. Wir können den Frauen draußen nur nicht erzählen, wir haben eine Lösung verhindert, weil wir alles oder nichts wollten. Mit alles oder nichts können die Frauen in den neuen Bundesländern weiß Gott nichts anfangen und auch nicht die Frauen in Bayern.

(Beifall)

Präs. Ursula   L e y k   : Als nächste hat Helga Hirsch, Prenzlauer Berg, noch einmal das Wort! ‑ Ich möchte noch einmal an alle Delegierten appellieren, hier im Raum nicht zu rauchen, sondern das gegebenenfalls draußen zu tun.

Helga   H i r s c h   (Prenzlauer Berg): Ich verstehe jetzt die Diskussion nicht ganz, wenn Konrad sagt, er möchte im Bundestag nicht gegen einen Beschluss seiner eigenen Partei stimmen. Die Formulierung, die Siegrun gebraucht hat, bedeutet doch nicht, dass die Abgeordneten dann nicht für einen Kompromiss stimmen, wie wenig er uns auch gefällt.

Andererseits möchte ich daran erinnern: Thomas hat vorhin gesagt, die SPD muss sich endlich und immer wieder zu wichtigen Fragen klar positionieren. Und dazu haben wir als Parteitag die Chance. Das hat doch überhaupt nichts damit zu tun, dass wir unseren Abgeordneten vorschreiben, wie sie zu stimmen haben. ‑ Danke!

(Vereinzelter Beifall)

Präs. Ursula   L e y k   : Ich habe jetzt keine weiteren Wortmeldungen mehr zu diesem Antrag und gebe Kurt das Wort!

Kurt   N e u m a n n   (Antragskommission): Genossinnen und Genossen, die erste Formulierung wollte ich für die Antragskommission übernehmen. Kommt dazu aus Kreisen der Antragskommission Widerspruch? Nicht ‑ dann haben wir das übernommen.

Zum zweiten Änderungsantrag mit der Kita: Ich finde, es passt da schon hin; da würde ich nicht der Streichung zustimmen. Darüber müssten wir abstimmen, das ist die Streichung eines Satzes. Siegrun hat vorgeschlagen, in Punkt I beim zweiten Absatz den letzten Satz zu streichen.

Präs. Ursula   L e y k   : Wer für den Antrag von Siegrun Klemmer ist, den bitte ich um das Kartenzeichen! ‑ Gegenprobe! ‑ Das erste war eindeutig die Mehrheit, der Satz wird damit gestrichen!

Kurt   N e u m a n n   (Antragskommission): Dann Punkt III, da müsste Siegrun vielleicht die Formulierung noch einmal vorlesen. Die Empfehlung der Antragskommission liegt euch vor, was Siegrun vorträgt, wäre die Alternative.

Siegrun   K l e m m e r   (Charlottenburg): Der Punkt III sollte dann heißen: „Maßstab für eine Neuregelung der Gesetzgebung zum Schwangerschaftsabbruch muss das Selbstbestimmungsrecht der Frau sein. Der SPD‑Fraktionsantrag zu § 218 wird diesem Antrag im Gegensatz zum Gruppenantrag weitgehend gerecht. In der vorliegenden Form lehnt die Berliner SPD den Gruppenantrag daher ab.“

Präs. Ursula   L e y k   : Wer dem Antrag von Siegrun seine Zustimmung geben möchte, den bitte ich um das Kartenzeichen! ‑ Gegenprobe! ‑ Ich glaube, da müssen wir auszählen. Ich bitte, jetzt die Abstimmung nur mit Delegiertenkarten vorzunehmen.

Ich darf noch einmal um das Kartenzeichen bitten, wer dem Antrag von Siegrun seine Zustimmung geben möchte!

(Auszählung)

Ich bitte diejenigen um das Kartenzeichen, die dem nicht zustimmen wollen!

(Auszählung)

Für den Antrag von Siegrun Klemmer haben 74 Delegierte gestimmt, 66 dagegen. Damit ist der Antrag angenommen!

(Beifall)

Wir müssen dann den Antrag insgesamt in der geänderten Form abstimmen. Ich bitte diejenigen um das Kartenzeichen, die dem Antrag 41 in der jetzt teilweise schon beschlossenen Form ihre Zustimmung geben möchten! ‑ Gegenprobe! ‑ Stimmenthaltungen? ‑ Gegen wenige Stimmen so beschlossen!

Kurt   N e u m a n n   (Antragskommission): Zu Antrag 42/III/91 (Wilmersdorf) schlagen wir vor, diesen an die Abgeordnetenhausfraktion zu überweisen.

Präs. Ursula   L e y k   : Zur Geschäftsordnung ‑ Hermann Borghorst!

Hermann   B o r g h o r s t   (Neukölln): Genossinnen und Genossen! Ich stelle den Antrag, die Beschlussfähigkeit zu prüfen. Ich habe mittlerweile den Eindruck, es haben so viele Delegierte unseren Parteitag verlassen, dass es nicht mehr zu verantworten ist, wichtige Entscheidungen zu treffen. Wir müssen uns selbstkritisch fragen, wie wir Parteitage durchführen, da wir offensichtlich die Motivation für viele nicht mehr herstellen können.

(Beifall)

Präs. Ursula   L e y k   : Nach dem Stand der Mandatsprüfungskommission sind 193 Delegierte anwesend.

(Unruhe ‑ Beifall)

Dann bitte ich, die Zähler Aufstellung zu nehmen und die Delegierten, ihre Delegiertenkarten hinzulegen. Dann zählen wir durch, wie viele Genossinnen und Genossen im Raum sind. Sollten sich Delegierte außerhalb dieses Raumes aufhalten, weil sie ihre Zigarette pflichtgemäß draußen geraucht haben, bitte ich sie, den Saal zu betreten.

Es sind 160 Delegierte gezählt; damit ist der Parteitag nach wie vor beschlussfähig.

(Beifall)

Es war Antrag 42/III/91 aufgerufen, Überweisung an die Abgeordnetenhausfraktion. Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Ich bitte diejenigen um das Kartenzeichen, die dem entsprechen wollen! ‑ Gegenprobe! ‑ Stimmenthaltungen? ‑ So beschlossen!

Kurt   N e u m a n n   (Antragskommission): Genossinnen und Genossen! Antrag 10/I/92 (Mitte) und Antrag 12/I/92 (Mitte) sind letztlich zusammen zu behandeln. Hier geht es darum, dass eine Statutenänderung, die Seniorenbeauftragte zum festen Bestandteil unserer Organisationsstruktur auf Kreis‑ und Landesebene macht, erst eingeführt werden kann, wenn wir eine entsprechende Statutenänderung durchgeführt haben. Das können wir erst auf dem nächsten Parteitag. Da vorher schon die verschiedenen Gliederungen wählen, sollte der Parteitag einen Appell beschließen, das Problem der Seniorenbeauftragten aufzugreifen und bei der Wahl von Vorständen, insbesondere von Beisitzern und Beisitzerinnen, zu berücksichtigen, wobei ein Appell hinsichtlich des Landesverbandes nicht aufgenommen wird, weil der Landesparteitag schlecht an sich selbst appellieren kann.

Der Landesparteitag muss dieses vollziehen, indem er auf dem nächsten Parteitag dann bei der Auswahl der Beisitzerinnen und Beisitzer entsprechend votiert, damit eine Beisitzerin oder ein Beisitzer dann in der Geschäftsverteilung des Landesvorstands Seniorenbeauftragter werden kann und werden soll. Dieses ist also die Vorstellung, die vom Kreis Mitte formuliert wird, die wir in den Punkten 1 und 2 euch als Empfehlung der Antragskommission hier zur Annahme vorlegen.

Präs. Ursula   L e y k   : Dazu liegt mir eine Wortmeldung vor ‑ Irmi Meier‑Nieraad!

Irmi   M e i e r ‑ N i e r a a d   (Schöneberg): Ich unterstütze den Antrag und schlage zur Verdeutlichung nur eine kleine Ergänzung vor. Ich bitte darum, dass in beiden Teilen des Antrags ‑ bei 1 und 2 ‑ jeweils hinzugefügt wird: eines Beisitzers oder einer Beisitzerin in der Funktion eines bzw. einer Seniorenbeauftragten. Ich gehe davon aus, dass ihr das übernehmen könnt. Es ist nur eine Verdeutlichung dessen, was gemeint ist.

Präs. Ursula   L e y k   : Kurt, wird das übernommen?

Kurt   N e u m a n n   (Antragskommission): Der antragstellende Kreis hat es übernommen. Ich denke, wir als Antragskommission übernehmen es auch.

Präs. Ursula   L e y k   : Gut! Dann stimme ich den Antrag in der Fassung der Antragskommission ab. Wer dem seine Zustimmung geben möchte, den bitte ich um sein Kartenzeichen! ‑ Gegenprobe! ‑ Stimmenthaltungen? ‑ Wenige Gegenstimmen ‑ so beschlossen!

Kurt   N e u m a n n   (Antragskommission): Zu Antrag 11/I/92 (Mitte) hat sich in der Empfehlung der Antragskommission ein kleiner Fehler eingeschlichen. Es muss heißen, dass die Anwesenheit dokumentiert wird, eben nicht die Anwesenheitslisten im Einzelnen, weil wir an den Landeskassierer gedacht haben und ‑ wegen des Papierverbrauchs ‑ auch an die Umweltschützer. Es gibt andere Formen, die Anwesenheit in geeigneter Form zu dokumentieren: Man braucht nur sagen, wie viele Sitzungen waren, wie viele Genossinnen und Genossen anwesend waren. Ich hatte schon überlegt, ob man noch die Kommissionen einbeziehen sollte, aber als erster pädagogischer Schritt scheint mir dies ein guter Antrag zu sein, den sollten wir zur Beschlussfassung so stehen lassen und ihm zustimmen.

Präs. Ursula   L e y k   : Wer dem seine Zustimmung geben möchte, den bitte ich um das Kartenzeichen! ‑ Gegenprobe! ‑ Stimmenthaltungen? ‑ So beschlossen!

Kurt   N e u m a n n   (Antragskommission): Antrag 12/I/92 (Mitte) ist durch die Beschlussfassung zu Antrag 10/I/92 erledigt.

Präs. Ursula    L e y k   : Gibt es dagegen Widerspruch? Dann ist das so!

Kurt   N e u m a n n   (Antragskommission): Zu Antrag 44/III/91 (2. Abt./Wilmersdorf) schlagen wir Überweisung an den Landesausschuss vor, wobei das so zu verstehen ist, dass wir das in die Gesamtdebatte zur Frage SPD 2000 einbezogen haben wollen. Wir müssen im Hinblick auf unsere eigenen Strukturen, in Auswertung des Wahlergebnisses, aber auch in Vorbereitung auf den nächsten ordentlichen Bundesparteitag die Parteireform gründlich diskutieren. Dazu soll dieser Antrag 44/III/91 ein wichtiger Beitrag sein; aber das vorweg zu beschließen, schien uns nicht sachgerecht zu sein, deshalb diese Beschlussempfehlung.

Präs. Ursula   L e y k   : Hier liegen mir zwei Wortmeldungen vor: Manfred Otto; ihm folgt Manfred Breitenkamp.

Manfred   O t t o   (Charlottenburg): Liebe Genossinnen und Genossen! Ich will es ganz kurz machen: Die Charlottenburger Delegierten haben bei ihrer Vorbesprechung folgenden Beschluss gefasst, dass sie der Meinung sind, dass auch dieser Landesparteitag hierzu zumindest einen Tendenzbeschluss fasst, vielleicht noch dadurch ergänzt, dass nach dem „2. Quartal 1992: Schriftliche Befragung der Abteilungsvorsitzenden mit folgenden Fragestellungen:“ noch die Wörter „zum Beispiel“ ergänzt werden. Aber letztendlich sind die Charlottenburger Delegierten der Meinung, dass der Landesparteitag hierzu von der Tendenz her einen Beschluss fassen sollte ‑ Danke schön!

Präs. Ursula   L e y k   : Willst du zu diesem Text noch einen Änderungsantrag machen, oder war das nur eine Anmerkung? Also das „zum Beispiel“ als Änderungsantrag.

Manfred   B r e i t e n k a m p   (Charlottenburg): Liebe Genossinnen und Genossen, ich wollte das noch einmal kurz unterstützen. Walter hat in seiner heutigen Rede gesagt, dass wir dringend einer Parteireform bedürfen. Wir verstehen den Wilmersdorfer Antrag und das Votum der Antragskommission jetzt nicht etwa so, dass wir misstrauisch sind, dass der Landesvorstand das nicht richtig macht, sondern verstehen das als eine Unterstützung des Landesparteitages insbesondere in Richtung der Abteilungen, dass die dann auch mal diese Berichte abgeben. Damit der Katalog der aufgeworfenen Fragen nicht so apodiktisch ist, sagen wir „zum Beispiel“, dass darüber eben berichtet werden soll, und zwar mit der Rückendeckung des Landesparteitags, der den Landesvorstand, die Abteilungen bittet, auffordert, diese Fragen zu beantworten, damit wir einmal ein lückenloses Bild bekommen.

Denn wir wissen alle, dass in vielen Abteilungen die Arbeit absolut desolat ist. Ich weiß das, mit Umweltreferaten tingele ich viel in den Abteilungen herum. Das erste ist immer, dass die Vorsitzenden sich entschuldigen, sonst seien immer mehr da, aber leider dieses Mal ‑ ‑ weil Fußballspiel, Tante Erna oder sonst etwas ist ‑ und Onkel Otto, muss ich sagen, sonst bin ich nachher noch ein Chauvi.

Auf der anderen Seite gibt es aber einige Abteilungen, in denen durchaus kreative Abteilungsarbeit geleistet wird. Es wird hier gelächelt, aber das gibt es durchaus auch. Ich denke, dass wir gemeinsam daraus lernen können, wenn wir hier so eine verbindliche Befragung machen, und ich möchte gern, dass der Landesparteitag den Landesvorstand in der Arbeit durch ein derartiges Votum eindeutig unterstützt.

Da die Fristen, die die Wilmersdorfer vorgegeben haben, ein wenig kurz sind ‑ das 2. Quartal ist bald zu Ende ‑, würde ich vorschlagen ‑ als Änderungsantrag ‑, jeweils um ein Quartal zu schieben. Wir würden also mit der Befragungsaktion im 3. Quartal anfangen und fortlaufend immer eins drauf. ‑ Danke schön!

Präs. Ursula   L e y k   : Kurt, wird vor der Überweisung an den Landesausschuss von dir die Änderung übernommen?

Kurt   N e u m a n n n   (Antragskommission): Ich hätte gern den Landesgeschäftsführer dazu gehört. Mir scheint das etwas problematisch zu sein, wenn der Landesparteitag Seminarplanungen beschließt. Das scheint mir nicht ganz das richtige Gremium für diese organisatorischen Dinge zu sein. Die politische Tendenz ist klar, die soll auch mit einer Überweisung an den Landesausschuss unterstützt werden. Dann muss konkret vorgegeben werden, wie das organisiert werden kann. Als Sprecher der Antragskommission fühle ich mich überfordert zu sagen, das kann man so oder so organisieren. Einen Beschluss zu fassen, von dem wir nicht wissen, ob er halbwegs realisierbar ist, scheint mir nicht sehr sinnvoll. Dann ist sinnvoller, das zu überweisen, das ist dafür das geeignete Instrument. Deswegen würde ich jedenfalls bei der Empfehlung der Antragskommission bleiben wollen.

Präs. Ursula   L e y k   : War das eine Wortmeldung, Reinhard? So, dann hast du das Wort!

Reinhard   R o ß   (Reinickendorf): Ich möchte mich auch für die Empfehlung der Antragskommission einsetzen, und zwar aus folgenden Gründen: Wir haben ja ‑ und Walter hat das zu Beginn des Parteitags in seiner Rede gesagt ‑ eine Reform der Parteiarbeit, eine Reform der Organisation in Berlin vorgesehen. Zu dieser Reform der Parteiarbeit gehört im Wesentlichen auch der Ausbau der innerparteilichen Bildung. Der Landesvorstand hat vor anderthalb Jahren einen Bildungsbeisitzer eingesetzt, und wer sich aktiv an den Wahlkämpfen und an den Wahlkampfplanungen von Reiner Ploch beteiligt hat, der hat gemerkt, dass wir den Genossen Schulungsveranstaltungen sehr viel stärker angeboten haben. Nach Auswertung dieses Parteitags werden wir Mitte August in einer Klausurtagung des Landesvorstands Vorschläge machen, wie wir diese Arbeit parallel zu den Parteiwahlen verbessern und intensivieren könnten. Mein Vorschlag wäre, dass wir diesen Antrag Nr. 44 in die Diskussion der Arbeit des Landesvorstands einbeziehen und dass wir die Anregungen, die hier gekommen sind, aufnehmen.

Nur, wir haben z. Z. für diese Arbeit keine Mitarbeiter in der Müllerstraße. Das heißt, wir müssen an irgendeinem Punkt dazu kommen, dass diese wichtige innerparteiliche Bildungsarbeit, insbesondere für die östlichen Bezirke, auch ausgefüllt wird. Das heißt, wir müssen bei Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der Müllerstraße die entsprechenden zeitlichen Ressourcen schaffen. Darum bemühen wir uns. Wir haben in der nächsten Sitzung des geschäftsführenden Landesvorstands am nächsten Montag dazu eine Vorlage, und deswegen würde ich euch bitten, den Antrag in Kurzfassung zu übernehmen. Wie gesagt, das, was ihr hier anregt, ist bereits auf gutem Wege.

Präs. Ursula   L e y k   : Bevor ich über die Änderungswünsche jeweils abstimme, will ich grundsätzlich darüber abstimmen lassen, ob hier gleich Beschlussfassung gewünscht wird. Votum des Landesgeschäftsführers und auch der Antragskommission war Überweisung an den Landesausschuss. Wer der Meinung ist, dass dieser Antrag hier heute gleich beschlossen werden sollte ‑ dann müssten wir noch über die Änderungen befinden ‑, den bitte ich um das Kartenzeichen! ‑ Gegenprobe! ‑ Das zweite war die Mehrheit!

Wer den Antrag an den Landesausschuss überweisen möchte, den bitte ich um das Kartenzeichen! ‑ Gegenprobe! ‑ Stimmenthaltungen? ‑ Das ist mit großer Mehrheit so geschehen!

Kurt   N e u m a n n   (Antragskommission): Antrag 47/III/91 (Wedding) beschäftigt sich mit der Wahl der Bezirksverordnetenversammlung. Das ist zwar jetzt erst einmal kurzfristig abgeschlossen, aber das Problem bleibt uns erhalten. Der Kreis Wedding beantragt, Senioren stärker zu berücksichtigen. Die Antragskommission hat das erweitert: stärker jüngere und ältere Mitglieder zu berücksichtigen.

(Unruhe und Zurufe)

Das ist eine Frage der politischen Sicht der Dinge. Wer über Wahlergebnisse klagt, muss auch gucken, wie sich in unseren Parteigremien die verschiedenen Bevölkerungsgruppen repräsentieren. Die Partei ist vertreten auf Parteitagen, aber auch in Körperschaften überwiegend durch die 35‑ bis 55jährigen vertreten, also ich gehöre auch dazu, während wir bei denjenigen, die jünger sind, aber auch bei denen, die älter sind, sehr schwach aussehen. Deswegen empfehlen wir Annahme des Antrags 47/III/91 in der Fassung der Antragskommission.

Präs. Ursula   L e y k   : Wortmeldungen dazu liegen mir nicht vor. Wer dem seine Zustimmung geben möchte, den bitte ich um das Kartenzeichen! ‑ Gegenprobe! ‑ Stimmenthaltungen? ‑ Bei einigen Gegenstimmen und wenigen Enthaltungen so beschlossen!

Kurt   N e u m a n n   (Antragskommission): Zu Antrag 48/III/91 (Wedding) empfehlen wir Annahme.

Präs. Ursula   L e y k   : Dann bitte ich die um das Kartenzeichen, die dem folgen möchten! ‑ Gegenprobe! ‑ Stimmenthaltungen? ‑ So beschlossen!

Kurt   N e u m a n n   (Antragskommission): Wir kommen jetzt zu Initiativantrag Nr. 1 zur Verwaltungsreform. Hier haben wir verschiedene Dinge zu berücksichtigen gehabt: Zum einen gab es erhebliche Widerstände gegen eine Beschlussfassung zu diesem Thema. Insbesondere der Vertreter der Antragskommission des Kreises Spandau hat mich angeschrieben und gesagt, das ginge alles viel zu schnell, das sei überfallartig, man könne es auf diesem Parteitag nicht beschließen. Dazu will ich zunächst einmal sagen ‑ und das war in der Antragskommission, glaube ich, überwiegende Meinung ‑, dass die Diskussion über die Verwaltungsreform bereits längere Zeit andauert, so dass sich niemand, es sei denn, er hätte die politischen Diskussionen nicht verfolgt, überfahren fühlen kann.

Der zweite Punkt ist der, dass wir uns einig waren, dass wir häufig vom Landesparteitag Kommissionen einsetzen, dass wir gelegentlich erleben, dass die Kommissionen auch Ergebnisse bringen, dass wir aber eine Kommission haben, die sogar schnell Ergebnisse gebracht hat und dass es schlecht ist, solche Kommission für ihre gute Arbeit auch noch zu bestrafen.

Auf der anderen Seite ist es so: Wenn Widerstand dagegen ist und der Parteitag so liegt, wie er nun einmal liegt und mit einer relativ geringen Besetzung zu rechnen ist, wir aber im Oktober den Jahresparteitag haben, wäre es vielleicht nicht so schlimm, wenn wir das Thema um den einen Parteitag verschieben. Wir haben dann alle den Initiativantrag 1 ‑ der dann wahrscheinlich auch als ordentlicher Antrag eingebracht werden wird ‑, der die Quintessenz dessen darstellt, was die Kommission erarbeitet hat. Ich möchte dann von niemandem mehr hören, dies komme überraschend, das habe man nicht durcharbeiten können ‑ die Kommission hat im Februar berichtet! Der Kompromiss, den wir hier als Fassung der Antragskommission anbieten, ist zugleich Kritik und Selbstkritik an uns allen. Wir können über die Verwaltungsreform diskutieren, müssen aber auch mal zu Potte kommen. Es reicht nicht, wenn wir sagen, der Senat diskutiert zuviel und entscheidet zuwenig. Auch wir diskutieren vielleicht manchmal zu viel und entscheiden zu wenig. Wir müssen nämlich im Oktober entscheiden. Wenn wir wollen, dass die nächsten parlamentarischen Körperschaften, Bezirksverordnetenversammlungen und Bezirksämter in den neuen Strukturen, die wir durchsetzen wollen, schon arbeiten können, dann bleibt nicht mehr sehr viel Zeit für die Umsetzung. Deshalb dieser Vorschlag ‑ mit dem ausdrücklichen Lob an diese sensationell gut arbeitende Kommission ‑: Verschiebung um einen Parteitag! Das ist nicht viel Zeit, weil wir dazwischen die Sommerpause haben. Aber keiner soll sich hinterher herausreden, in der Sommerpause habe man wiederum nicht arbeiten können wie vorher im Wahlkampf. Dann muss entschieden werden, und niemand ist aus der Pflicht genommen, sich entsprechend vorzubereiten.

Präs. Ursula   L e y k   : Gibt es Widerspruch gegen den Vorschlag von Kurt? Das ist offensichtlich nicht ‑ ‑

Kurt   N e u m a n n   (Antragskommission): Liegt der Beschlusstext nicht vor? Genossinnen und Genossen ‑ technisch hat es nicht geklappt, aber wir mussten wieder sehr viel, sehr schnell arbeiten ‑, dann lese ich das kurz vor:

Das Ergebnis der Bezirkswahlen vom 24. Mai 1992 hat die Notwendigkeit unterstrichen, staatliches Handeln effektiver und durchschaubarer zu machen. Auch ist der Unwille vieler Bürgerinnen und Bürger darüber deutlich geworden, dass lange Diskussionen häufig nicht oder nicht in angemessener Zeit zu politischem Handeln führen. Eine Konsequenz für die Politik der SPD in Berlin muss es daher sein, die seit langem und gründlich diskutierten Vorschläge zur Verwaltungsreform zu aktualisieren und endlich in die Praxis umzusetzen.

Von der CDU und vor allem vom amtierenden Innensenator sind durchgreifende und zügig umgesetzte Veränderungen nicht zu erwarten. Der Landesparteitag begrüßt es daher, dass die von ihm am 23. September 1991 beschlossene Kommission bereits am 7. Februar 1992 konkrete, umsetzungsfähige Ergebnisse vorgelegt hat.

Der Landesparteitag fordert alle Untergliederungen und zuständigen Fachausschüsse, die sozialdemokratischen Fraktionen im Abgeordnetenhaus und in den Bezirksverordnetenversammlungen sowie die sozialdemokratischen Mitglieder des Senats und der Bezirksämter auf, sich intensiv mit den Vorschlägen der Kommission zu beschäftigen und ggf. Änderungs‑ oder Ergänzungsvorschläge zu unterbreiten.

Die Berliner SPD wird auf ihrem Jahresparteitag am 30. und 31. Oktober 1992 ihre Position zur Verwaltungsreform festlegen, die dann auf den verschiedenen politischen Ebenen so zügig umzusetzen ist, dass von Beginn der nächsten Wahlperiode des Abgeordnetenhauses und der Bezirksverordnetenversammlungen an in neuen, bürgernäheren und effektiveren Strukturen gearbeitet werden kann.

Dies nimmt den Willen der Kommission auf, denke ich, gibt noch einmal Zeit, konkret zu diskutieren, aber gibt auch die Notwendigkeit, schnell zu diskutieren.

Präs. Ursula   L e y k   : Obwohl der Text jetzt nicht allen Delegierten schriftlich vorliegt ‑ können wir so verfahren? Wir würden uns dann bemühen, euch noch während der Sitzung den Text, den ihr jetzt gehört habt, verteilen zu lassen. Gibt es dagegen Widerspruch? Gut, dann nehme ich das so als Beschluss hin!

Dann kommen wir zum Initiativantrag 2!

Kurt   N e u m a n n   (Antragskommission): Initiativantrag Nr. 2 ‑ ich weiß nicht, in welcher Form er euch vorliegt; ich habe hier noch die Rohfassung ‑, zur Ausländerpolitik. Dort haben wir diskutiert. Wir haben zunächst festgestellt, dass es nach unserer Auffassung ein Initiativantrag ist, weil die Situation sich aktuell verändert hat ‑ durch Beschlussfassung im Parteirat, auch durch Ankündigung des innenpolitischen Sprechers der Bundestagsfraktion.

Wir schlagen mit einer Änderung Annahme vor. Die Änderung bezieht sich auf Ziffer 3, und zwar wollen wir „Schaffung eines Einwanderungsgesetzes …“ schreiben und den Rest dieses Punktes streichen ‑ und zwar deswegen, weil das im Einzelnen näher ausformuliert werden muss. Es muss deutlicher die Quotenregelung hinein, es müssen dann konkretere Vorstellungen des Verhältnisses der verschiedenen Bereiche zueinander formuliert werden. Das ist also die Änderung, die wir vorschlagen, ansonsten ‑ in allen vier Punkten mehrheitlich, mit unterschiedlichen Stimmenverhältnissen in der Antragskommission ‑ empfehlen wir Annahme.

Präs. Ursula   L e y k   : Hierzu liegen mir zwei Wortmeldungen vor ‑ Daniela Schmitz, Wilmersdorf, Karl‑Heinz Niedermeier, Schöneberg.

Daniela   S c h m i t z   (Wilmersdorf): Zunächst möchte ich sagen, dass die Berliner Jusos den Initiativantrag Nr. 2 sehr unterstützen, wir finden ihn ganz toll.

Es gibt nur eine Anmerkung, und zwar dass in Nummer 1 der Artikel 19 Absatz 4 noch nicht angemerkt ist. Ich denke, man sollte das insoweit ergänzen, dass Artikel 16 Absatz 2 Satz 2 beibehalten werden soll und Artikel 19 Absatz 4 ‑ da geht es um die Rechtsweggarantie ‑ ergänzt wird.

Dann gibt es noch einen ergänzenden Änderungsantrag, und zwar sollte dem Initiativantrag Nr. 2 als Nummer 5. angefügt werden:

Die Berliner SPD erklärt, dass sie für den Fall, dass Partei‑ und Fraktionsspitze eine Änderung des Artikel 16 oder des Artikel 19 Absatz 4 Grundgesetz erwägen sollten, die Einberufung eines Sonderparteitags beantragen wird, der allein die Kompetenz hat, über das Abgehen von einer Position des sozialdemokratischen Grundsatzprogramms, des Berliner Programms, zu entscheiden.

(Beifall)

Ich hoffe, dass ihr dem zustimmen könnt. ‑ Danke!

Präs. Ursula   L e y k   : Du gibst die Änderungsvorschläge bitte dem Kurt Neumann! ‑ Karl‑Heinz Niedermeier hat das Wort!

Karl‑Heinz   N i e d e r m e i e r   (Schöneberg): Genossinnen und Genossen! Der vorliegende Initiativantrag ist ein gemeinsames Beratungsergebnis des Fachausschusses für Ausländerfragen und des Aktionskreises Nord‑Süd. Er konzentriert sich auf einige wichtige Knackpunkte zu diesem sehr wichtigen Problem und ist in erster Linie als Signal an die Bundestagsfraktion und an die Parteispitze gedacht, das sie an der mühsam erarbeiteten Position ‑ die vor allem die Haltung des Artikel 16, solange es keine europäische Regelung auf gleichem Level gibt, beinhaltet ‑ unterstützen und festnageln soll.

Das kann natürlich nicht alle Aspekte, die für den ganzen Problemkomplex wichtig wären, hier einfangen. Ich bitte deswegen, dieses wichtige Signal, das wir hier geben wollen, nicht vielleicht noch zu gefährden oder zu überlasten, indem wir uns in Einzeldiskussionen verwickeln.

Das einzige, was ich gern beibehalten möchte, ist die ursprüngliche Fassung des dritten Absatzes. Es geht nämlich darum, dass sich ein Einwanderungsgesetz nicht in erster Linie an eine Zielgruppe von wirtschaftlich verwertbaren, jungen, rüstigen Menschen richtet, sondern dass damit auch ein Beitrag zum Flüchtlingsproblem geleistet wird, dass also in erster Linie Menschen der Zugang ermöglicht wird aus den Ländern, aus denen die Armuts‑ und Elendsflüchtlinge kommen. Damit wird auch ein Beitrag zur Entlastung des Asylparagraphen geleistet, dass nicht jeder, der aus berechtigten Gründen hierher kommt, gezwungen ist, ins Asylverfahren zu gehen und dass da weitere Zugangsmöglichkeiten geschaffen werden. Die wichtigste ist natürlich erst einmal, dass Bürgerkriegsflüchtlinge nicht durch das Asylverfahren gezwungen werden, sondern die Möglichkeit eines befristeten Aufenthaltsrechts haben.

Ich bitte also, den Antrag in der ursprünglichen Fassung anzunehmen, mit Punkt 3.

Präs. Ursula   L e y k   : Heike Ließfeld!

Heike   L i e ß f e l d   (Spandau): Ich möchte mich nur auf den Punkt 3 konzentrieren. Es mag sein, dass genau die Formulierung, die hier drinsteht, vielen nicht publicityträchtig ist. Natürlich gibt es eine Negativpresse dazu, aber es kann auch nicht angehen, dass ein Einwanderungsgesetz geschaffen wird, das letztlich nur die Interessen der Wirtschaft vertritt, nämlich Arbeitnehmern einen Zuzug ermöglicht. Ich bin deshalb für die Beibehaltung des dritten Punktes in dieser Formulierung, um von Anfang an klar zu machen, wo eigentlich die Position der SPD hier ist. ‑ Danke!

Präs. Ursula   L e y k   : Eckhard Barthel!

Eckhard   B a r t h e l   (Schöneberg): Liebe Genossinnen und Genossen! Ich möchte euch gern am Anfang den Beschluss des Präsidiums der SPD vom September vorigen Jahres vorlesen. Er lautet:

Die SPD hält am Grundrecht auf Asyl fest. Das betrifft den Artikel 16 Absatz 2 Satz 2 in seiner bestehenden Form einschließlich der Verfahrensgarantie in Artikel 19 Absatz 4 unseres Grundgesetzes.

Das ist die Position der SPD, und der Parteirat hat vor einigen Wochen einstimmig dasselbe beschlossen mit dem Zusatz: wenn es auf europäischer Ebene vergleichbares Recht gibt. ‑ Wenn das geschehen ist, ist eine Änderung möglich ‑ aber erst dann! Die Aktualität liegt also nicht darin, eine Position der SPD nochmals festzuschreiben, sondern es gibt inzwischen Stimmen, die anfangen zu zündeln und eigentlich die Katze im Sack kaufen wollen, wenn sie nämlich schon vorab, vor einer einheitlichen europäischen Regelung, das Grundgesetz ändern wollen. Das soll mit diesem ersten Satz in Nummer 1 versucht werden zu verhindern. Es ist eigentlich eine Erinnerung an sozialdemokratische Position.

Ich möchte noch hinzufügen, auch im Hinblick auf den Antrag der Jungsozialisten: Von Jochen Vogel stammt der Ausdruck, dass dieser Artikel 16 ein Stück sozialdemokratischer Identität ist.

(Vereinzelter Beifall)

Sozialdemokratische Identität kann man nicht von ein paar Leuten in Bonn oder sonstwo wegradieren, dafür müsste wirklich eine größere Basis geschaffen werden, wenn man das überhaupt will. Insofern habe ich große Sorgen, dass einige Leute ‑ seien sie legitimiert wie auch immer ‑ an diesem Artikel 16, also an diesem Stück sozialdemokratischer Identität, fummeln, und das sollte man auch verhindern.

Der zweite Punkt ‑ Karl‑Heinz hat das schon gesagt ‑ sind nur einige Knackpunkte. Ich bin froh, dass wir es schaffen ‑ und die Position hat inzwischen in der SPD eine große Mehrheit ‑, dass Flüchtlinge, die sowieso keine Chance auf eine Asylanerkennung haben, die aber doch hierbleiben, aus dem Asylverfahren herausgenommen werden. Das ist gut, und das soll hier auch noch einmal unterstrichen werden.

Nur eines: Es gibt die Tendenz dahin, dass man sagt, wenn der Bürgerkrieg zu Ende ist, dann gehen sie alle nach Hause. Es kann Situationen geben ‑ ich hoffe, das geschieht nicht, aber man muss das ins Auge fassen ‑, dass ein Bürgerkrieg sehr lange dauert und dass dann Kinder hier integriert, hier groß werden. Für die müsste dann natürlich die Chance bestehen, dass sie in diesem Einzelfall auch hierbleiben können, und deswegen ist dieser Zusatz so wichtig.

Der dritte Punkt: Ich war überrascht, dass gerade das Wichtigste, weshalb dieser Satz überhaupt geschrieben wurde, herausgenommen worden ist. In der SPD gibt es auch hier nach der bisherigen Diskussion ‑ von Einzelpersonen abgesehen ‑ eine große Zustimmung zu einem Einwanderungsgesetz. Wenn wir aber nicht wollen, dass erfüllt wird, was auf der Titelzeile der „Wirtschaftswoche“ steht, nämlich „Ausländer rein!“, das heißt: Arbeitskräfte rein!, wenn wir das nicht wollen mit diesem Gesetz, oder nicht nur wollen ‑ man muss sagen, nicht nur wollen ‑, dann ist dieser Zusatz, der hier steht, nicht, dass wir dieses Einwanderungsgesetz wollen. Ich glaube, das läuft sogar hin auf europäische Ebene, wo es mir viel lieber wäre. Da muss gesichert sein, dass auch ‑ ich betone: auch, nicht ausschließlich ‑, zum Beispiel, um das konkret zu machen, eine Mutter mit einem Kind, deren Mann im Bürgerkrieg gefallen ist, auch eine Chance hat, in diese Quote mit hineinzukommen. Das hier auszufüllen, dieses Zuwanderungsgesetz, das sollten wir nicht tun. Hier geht es um diese Aussage. Deshalb bin ich dafür, dass dieses hier drinbleibt.

Es ist noch gewünscht worden ‑ und das rege ich hier gleich an ‑, noch einen Satz an diesem Punkt hinzuzufügen: Eine dafür erforderliche Quotierung der Einwanderung soll auch die deutschstämmigen Aussiedlerinnen erfassen. Auch das ist in der SPD‑Diskussion unstrittig: Artikel 116 ist wohl ein Artikel, über den man vielleicht bald nicht mehr redet.

Zum letzten Punkt ‑ auch eine Selbstverständlichkeit und SPD‑Position: kommunales Wahlrecht für die, die hier lange leben. Wir haben in Berlin an die Basis gebundene, unbefristete Aufenthaltserlaubnis. Zur Zeit gibt es eine Verfassungskommission in Bonn, weil wir unser Grundgesetz auch wegen der EG‑Entscheidung in Maastricht ändern müssen. Unionsbürgerschaft beinhaltet das kommunale Wahlrecht für alle EG‑Bürger, deshalb müssen wir die Verfassung ändern. Nun geht es noch einmal darum, dass wir jetzt nicht die Verfassung so ändern, dass nur EG‑Bürger wählen können, sondern dass alle, die länger hier leben und in Zukunft hier leben werden, also hier einen Lebensmittelpunkt haben, durch diese Verfassungsänderung die Möglichkeit des kommunalen Wahlrechts bekommen,

(Vereinzelter Beifall)

und letzteres ist das Wichtige. Nicht die Festschreibung, sondern letzteres ist das Wichtige.

Die letzte Bemerkung: Wir haben heute viel über die geringe Wahlbeteiligung bei unseren BVV‑Wahlen gesprochen. 10 % der Berliner durften nicht mitwählen, das hätte man vielleicht auch erwähnen sollen.

(Beifall)

Präs. Ursula   L e y k   : Das Wort hat Dagmar Roth‑Behrendt!

Dagmar   R o t h ‑ B e h r e n d t   (Spandau): Genossinnen und Genossen! Gerade wegen der sogenannten europäischen Lösung, die Eckhard gerade angesprochen hat, sind wir jetzt dabei, uns zu überlegen, wie wir umgehen, wenn das Grundgesetz geändert werden soll, und gerade nur dann, mit dieser europäischen Lösung, ist es überhaupt nötig, über den Artikel 16 nachzudenken. Deshalb finde ich es auch gut, dass im ersten Absatz klar steht, nur wenn etwas da ist, was abfedert, was abfängt, was jetzt in Artikel 16 drin ist, also die europäische Lösung, die vorsieht, dass ein gleiches Asylverfahren da ist, dass gesichert ist, dass die Asylbewerberinnen und ‑bewerber bis zur Entscheidung im Land abwarten können und dass ein Anspruch auf Überprüfung der Entscheidung besteht, erst dann kann über eine Grundgesetzänderung nachgedacht werden. Ich denke, dass der Zusatz der Jusos, Artikel 19 in den ersten Absatz einzufügen, deshalb in diesem Bereich überflüssig ist. Denn solange der Artikel 16 im Grundgesetz ist, besteht die Verfahrensgarantie des Artikel 19 ohnehin dazu weiter.

Laßt mich nur noch zu einem weiteren Punkt etwas sagen, nämlich zu dem dritten Punkt, bei dem Kurt für die Antragskommission die Streichung des zweiten Satzteils vorgeschlagen und Eckhard eben gesagt hat, gerade dieser Satzteil sei ihm so wichtig. Für mich ist der wirklich große Erfolg einer europäischen Lösung, so, wie das genannt wird, nämlich eine Veränderung des Asylrechts dahin gehend, es zu teilen und zu sagen, Asylrecht auf der einen Seite und Einwanderungsrecht auf der anderen Seite, der, dass wir nämlich endlich das erste Mal zugeben, dass der Kontinent Europa ein Einwanderungskontinent ist, dass wir ein Einwanderungsland sind und dass wir auch mit den Menschen, die einwandern, anders umgehen und sie nicht mehr dazu zwingen, ins Asyl zu gehen, was wir bisher gemacht haben.

Aber, was ich nicht ganz verstehe, ist, was ihr denkt, was da für Menschen kommen. Die meisten Menschen, die kommen werden, werden Armutsflüchtlinge sein, das sind sie nämlich auch jetzt schon, und es werden Umweltflüchtlinge sein. Deshalb ist es für uns, wenn wir über Einwanderung in Europa reden und über Quoten, so schlimm das dabei klingt, immer völlig klar, dass das die sein werden. Es ist eine Illusion anzunehmen, wenn meinetwegen Afghanistan eine Quote von 150 000 hat und Kambodscha von 80 000, wie sie zugeteilt wird ‑ und das klingt, finde ich, manchmal ein bisschen menschenverachtend, aber es wird vermutlich nicht anders zu machen sein ‑, dass dann auf der ersten Seite des „Handelsblattes“ stehen wird: Bitte, geht doch dahin und werbt Arbeitskräfte an. Das wird natürlich dazu führen, dass ausländische Mitbürger, die dann kommen, hier auch arbeiten werden; das ist genau das, was Sinn der Sache ist.

Das Einwanderungsgesetz, wenn es denn kommt, soll gerade sicherstellen, dass die Menschen sofort einen Anspruch auf einen Arbeitsplatz haben und sofort eine Wohnung bekommen können. Ich will euch mal eine Größenordnung nennen, damit es nicht so erschreckend klingt: Die Größenordnung, die im Moment angedacht ist, heißt: 1 Million für Europa, ca. 250 000 bis 300 000 für Deutschland. Das ist nichts, mit dem wir im Land Deutschland nicht sehr viel souveräner und besser fertig werden könnten, als wir bisher mit der Kasernierung von Asylbewerberinnen und ‑bewerbern fertig werden.

Also, ich habe keine Probleme mit der Streichung des zweiten Satzteils. Er kann drinbleiben, weil er etwas verdeutlicht, was in dem ersten Satzteil drin ist. Aber wichtig ist, dass wir die Fassung, wie wir sie hier haben, auch mit dem Einwanderungsgesetz, in dieser Form beschließen; denn dann sagen wir den zweiten Teil, nämlich die Armuts‑ und die Umweltflüchtlinge, die wir auch haben und begrüßen wollen, konkludent gleichzeitig mit.

Wenn wir das in dieser Form annehmen und dem zustimmen, wozu ich euch auffordere und worum ich euch bitte, dann haben wir einen weiteren Schritt zur europäischen Lösung getan und sind einen weiteren Schritt gegangen, mit ausländischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern anders umzugehen. ‑ Ich danke euch!

(Beifall)

Präs. Ursula   L e y k   : Das Wort hat Jörg‑Otto Spiller!

Jörg‑Otto   S p i l l e r   (Wedding): Genossinnen und Genossen! Das Thema, das dieser Initiativantrag aufgreift, ist eines der jetzt in Deutschland am heftigsten umstrittenen Themen. Ich halte es für nicht angemessen, wenn der Landesparteitag ‑ sehr dünn besetzt ‑ aufgrund eines Initiativantrags, der einige Aspekte, aber eben nicht alle erwähnt, eine solche Grundsatzentscheidung trifft ‑ ohne Vorbereitung, ohne angemessene vorangegangene Diskussion.

Wir wissen alle, dass im Bundestag ‑ auch parteiübergreifend ‑ Verhandlungen über die Änderung des Asylverfahrensgesetzes geführt werden ‑ das weiß jeder hier im Raum.

(Zuruf von Eckhard Barthel)

‑ Es hat sehr wohl damit zu tun, lieber Eckhard, du weißt das auch genau. Du weißt genau, wie ein solcher Antrag, wenn er vom Landesparteitag in Berlin beschlossen wird, die Öffentlichkeit beschäftigen wird. Das ist doch hier jedermann klar.

(Beifall)

Und in dieser verkürzten Form steht nur: keine Aussage darüber! Was geschieht mit Asylbewerbern, die nach Abschluss des Verfahrens die Ablehnung bekommen haben und wo dann die Erwartung ist? Das haben alle Sozialdemokraten dann auch immer wieder hören müssen, da sollten sie eine Antwort geben: Was geschieht denn mit denen? Bleiben sie trotzdem hier, oder gehen sie irgendwann zurück? Wird denn wirklich deutlich unterschieden zwischen politisch Verfolgten, denen das Asyl gewährt werden soll, und Einwanderern, wo man dann sagen muss, es kann nicht jeder kommen und nicht jeder bleiben? Das, was in dem Antrag gemacht worden ist, ist das Antippen einiger Aspekte, und gleichwohl wird das so herüberkommen, als wäre es   d i e   Beschlussfassung des Landesparteitages zu dem ganzen Themenkomplex. Das halte ich für unangemessen, zumal wir genau wissen ‑ auch du, Eckhard ‑, dass in der Bundestagsfraktion die Debatten in eine ganz andere Richtung laufen, nämlich: Wie kriegt man es hin, dass ‑ gemeinsam von einer breiten Mehrheit im Bundestag getragen ‑ eine Veränderung des Asylverfahrens im Sinne von Beschleunigung und von konsequentem Handeln dann auch durchkommt? Das gehört dazu, du weißt es, Eckhard! Deshalb halte ich es für wirklich verfehlt, wenn wir jetzt, bei diesen dünn besetzten Reihen, einen solchen Beschluss fassten, ohne angemessene Beratung.

Ich beantrage, dass der Antrag dem Landesausschuss zur weiteren Beratung überwiesen und dass auf dem nächsten Landesparteitag, mit angemessener Vorbereitung, dann auch eine ernsthafte Debatte in der Sache geführt wird.

(Beifall)

Präs. Ursula   L e y k   : Als nächste hat Monika Buttgereit das Wort!

Monika   B u t t g e r e i t   (Kreuzberg): Liebe Genossinnen und Genossen! Ich habe immer gedacht, die Position, dass wir am Artikel 16 des Grundgesetzes nicht rütteln lassen, ist eine der Grundpositionen der Sozialdemokratie, und dazu stehen wir.

(Beifall)

Ich finde es sehr bedauerlich, dass in den hinter uns liegenden Landtagswahlen auch von Sozialdemokraten in vorderster Front die Diskussion über eine mögliche Änderung des Artikel 16 angefangen worden ist. Ich finde das verheerend. Ich muss sagen: Ich kann Jörg‑Otto Spiller überhaupt nicht zustimmen, dass wir diesen Antrag heute hier nicht beschließen sollten.

(Vereinzelter Beifall)

Denn angesichts der Pressemeldungen, die in letzter Zeit, gerade in den letzten Tagen, gekommen sind, dass nun von Sozialdemokraten an führender Stelle über eine Änderung laut nachgedacht wird ‑ und zwar ohne dass es in den letzten Monaten in der Partei irgendeine Meinungsbildung in diese Richtung gegeben hätte; das halte ich in der Tat für verheerend ‑, ist gerade jetzt genau der richtige Zeitpunkt, dass wir als Berliner Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten uns zu dieser Frage äußern, auch wenn wir nicht alle Fragen, die dabei zu klären sind, heute hier lösen können. Aber ich denke, der Antrag zielt genau in die richtige Richtung, und ich unterstütze ihn.

Ich unterstütze auch die Forderung der Jusos, dass nicht über eine Änderung des Artikel 16 von Genossen an führender Stelle verhandelt wird, ohne dass sich ein Bundesparteitag zu dieser grundlegenden Frage geäußert hat.

(Vereinzelter Beifall)

Präs. Ursula   L e y k   : Walter Momper!

Walter   M o m p e r   : Liebe Genossinnen und Genossen! Manches kommt mir hier so vor: Wenn kein innerparteilicher Gegner da ist, dann wird einer gesucht, um eine innerparteiliche Auseinandersetzung entfalten zu können.

Ich will mal sagen ‑ und das hat, glaube ich, Eckhard erst gesagt ‑: Der Parteirat und übrigens auch der Parteivorstand und selbst die Bundestagsfraktion waren unisono der Auffassung, Artikel 16 bleibt. Das hat einen ganz hohen symbolischen, das hat einen historischen Wert für uns und ist überhaupt gar keine Frage. Eckhard, da finde ich es unaufrichtig, wenn du hier nicht Roß und Reiter nennst, dass nicht gesagt wird, wer hier denn im Moment Änderungen vorhat. Friedhelm Farthmann ist es nicht oder, was weiß ich, Kronawitter oder so, die sind ja alle weit weg ‑ ‑ Dann will ich das sagen: Gerd Wartenberg hat das jüngst in einem Interview oder in einem Artikel in der „Frankfurter Rundschau“ gesagt, und er hat die Artikel 16‑Änderung auf einen ganz kleinen Punkt begrenzt. Da fände ich es gut ‑ und bedaure, dass er heute nicht da sein kann ‑, man redet dann auch mit ihm darüber.

(Vereinzelter Beifall)

Denn Gerd Wartenberg ist nicht irgendwer in diesem Landesverband, und er ist das auch nicht in der Bundestagsfraktion. Und er ist wohl der allerletzte, der hier irgendwie im Ruch steht, Artikel 16 aufweichen zu wollen. Er hat nämlich mit mir und anderen zusammen in einer viel brenzligeren Situation, zum Beispiel auf dem Nürnberger Parteitag, gegen einige Stimmungen in der Gesamtpartei, die Auseinandersetzung für die Beibehaltung des Artikel 16 geführt. Er hat gesagt, an einem ganz bestimmten Punkt, nämlich dann, wenn Asylbewerber ihre Papiere wegschmeißen und bewusst durch Nichtnamensnennung nicht an der Asylantragsbearbeitung mitwirken, müsse man wohl an dem Punkt den Schutz des Artikel 16 insoweit aufheben. Dann gibt es einen längeren juristischen Streit, ob das nicht dann sowieso ein unbeachtlicher Asylantrag ist, weil ja genau der Antragsteller seine Mitwirkung daran verweigert. Dann gibt es noch eine längere Diskussion darüber, dass nämlich genau die, die so etwas tun ‑ nicht die, die aus anderen Gründen ihre Papiere verloren oder nicht bei sich haben ‑, es sind, die immer wieder versuchen, einen neuen Asylantrag zu stellen.

Bevor jetzt hier innerparteilich etwas konstruiert wird, würde ich euch alle bitten, auch die Diskussion mit Gerd Wartenberg zu führen oder ihn wenigstens zu fragen; ich konnte es leider auch nicht. Eckhard, du bist einer, der in diesem Bereich wirklich vorbildlich arbeitet, aber der Gerd Wartenberg tut das auch. Da bedauere ich, wenn eine innerparteiliche Diskussion um Ecken herum geführt wird oder gegen Gegner, ohne dass der benannt wird.

Ich habe im Übrigen gar nichts dagegen, weil ich sage, im Parteivorstand habe ich mich zum Beispiel vehement natürlich für die Beibehaltung des Artikel 16 eingesetzt, im Parteirat auch, und habe auch die kritisiert, die andauernd Unklarheit in die Haltung der Partei an dem Punkt hereinbringen.

Zum dritten Punkt allerdings würde ich gern etwas sagen: Wer hier leichtfertig darüber hinweggeht, dass jährlich 300 000 Zuwanderer in die Bundesrepublik Deutschland kein Problem für die Bundesrepublik Deutschland sind, der ist entweder blind für die Probleme, die wir im Inneren bei der Verteidigung des Grundrechts auf politisches Asyl haben, oder der ignoriert es ‑ beides ist nicht in Ordnung!

(Beifall)

Und wir haben Probleme dabei. Ich sage das als jemand, der in den Wahlkämpfen der letzten Zeit mitgemacht hat ‑ auch in Baden‑Württemberg, dort, wo einem in solchen Sachen die Scheiße in Brocken um die Ohren flog. Henning Zimmermann aus Pforzheim war heute hier und hat sich das angehört, der, der das verteidigt hat, der den Leuten erklärt hat: Beschleunigung des Verfahrens muss sein; unter den 30 000 in jedem Monat sind 10 000 im Wesentlichen kroatische und jugoslawische Flüchtlinge, die gar nicht auf Dauer hierbleiben wollen. Aber wer in Nummer 3 so leichtfertig sagt, wir brauchen ein Einwanderungsgesetz, dem allerdings muss ich auch sagen: Das finde ich nun ein bisschen blauäugig! Und Eckhard, das will ich doch nicht gern von dir: Ich finde, hier wird ein Eindruck erweckt, der falsch ist, der auch die inneren Probleme, die wir damit haben, ignoriert, der darüber hinaus ignoriert ‑ was ich sehr wohl weiß und was ich für problematisch halte, aber was wahrscheinlich gar nicht anders geht und sinnvoll ist ‑, dass es womöglich eine europäische Quotenregelung geben wird und geben muss.

Ich sage auch noch mal: Ich halte es deshalb für eine falsche Politik, wenn ein Einwanderungsgesetz gemacht wird. Wer da glaubt, da werden dann die Armutsflüchtlinge reingelassen, der irrt doch. Dann passiert genau das, was in Amerika auch passiert, dass nämlich Einwanderer ausgesucht und die Leistungsfähigen und die Beweglichen aus den Ländern, die diese Leute bitter brauchen, auch noch abgezogen werden, ohne dass die Probleme der Auswanderungsländer tatsächlich gelöst werden. Denn die haben es nötig ‑ wozu hier die Bereitschaft nicht sonderlich entfaltet ist, generell in der Gesellschaft und bei uns auch nicht so ‑, dass mit ihnen Geld und Leistung, Terms of trade und ähnliche Dinge geteilt werden, damit es ihnen besser geht. Hauptansatz der Politik muss doch wohl sein, die Verhältnisse in den Ländern dort zu verbessern ‑ durch Milliarden‑Kredite ‑,

(Beifall)

und nicht zu glauben, durch Zuwanderung bei uns seien die Probleme von Ghana, von der Sowjetunion, Jugoslawien oder sonstwo gelöst.

Ich halte Nummer 3, das muss ich sagen, für falsch ‑ innenpolitisch, aber auch in bezug auf die Länder, die diese Armutsprobleme und auch Auswanderungsprobleme haben.

(Beifall)

Präs. Ursula   L e y k   : Das Wort hat jetzt Dagmar Luuk!

Dagmar   L u u k   (Wedding): Liebe Genossinnen und Genossen! Um zunächst einmal dem Vorwurf zu begegnen, dass hier nur einige Aspekte dieses ganzen Problemkreises angesprochen sind: Das ist richtig, weil dieses auch im Aktionskreis Nord‑Süd diskutiert worden ist, der sich mit den speziellen Aspekten, die sich aus dieser Arbeit ergeben, besonders auseinandergesetzt hat.

Ich möchte etwas sagen zu den Quoten und einem Einwanderungsgesetz: Ich stimme Walter Momper zu, dass man der Not dort begegnen muss, wo diese entsteht. Das heißt, dass ‑ nicht mit Entwicklungshilfe, das ist ja nur der Pflasterkasten, der die schlimmste Not lindern kann ‑ vom Handelsprotektionismus bis hin zu außenpolitischen Rücksichten und Schuldenerlass usw. etwas getan werden kann und auch getan werden muss.

Aber wenn man die Nummer 2 nimmt, dass nämlich die Kriegs‑ und Bürgerkriegsflüchtlinge aus dem Bereich der Asylsuchenden herauszunehmen sind, dann findet das hier ja Zustimmung. Wenn ‑ von dir zitiert ‑ Gerd Wartenberg diejenigen, die ihre Papiere wegschmeißen ‑ und zwar nach Anleitung wegschmeißen, denn bei uns gibt es ja Leute, die daran verdienen, das auch noch auf den Weg zu bringen ‑, nicht unter den Schutz des Artikel 16 stellen will, dann glaube ich, dass man das bisher schon nach geltendem Recht verfolgen kann und dass man dafür das Grundgesetz nicht zu ändern brauchte.

(Beifall)

Ich bin auch der Meinung, dass man nicht nur eine einheitliche Regelung im europäischen Bereich anstreben sollte, sondern dass man auch die geltenden völkerrechtlichen Bestimmungen wie die Genfer Flüchtlingskonvention mit einbezieht. Denn es ist nicht so ‑ und das sage ich auch zu meinem Weddinger Genossen Jörg‑Otto Spiller ‑, dass die abgelehnten Asylbewerber noch im Land sind nur weil die Bundesregierung nicht handelt, sondern sie sind zum Teil hier, weil sie unter dem Schutz der Genfer Flüchtlingskonvention nicht abgeschoben werden dürfen. Das muss eben auch harmonisiert und miteinander in Einklang gebracht werden, damit die Menschen das auch begreifen, warum sich die abgelehnten Asylbewerber nach wie vor im Land befinden. Das muss man anpacken.

Die Frage der Quoten: Die Quoten werden kommen, das ist hier aus dem Europa‑Parlament berichtet worden, und alle wissen, dass die Flüchtlinge aus Armut und aus sonstigen Bredouillen aus ihrem Land abhauen. Walter, es ist richtig, dass die stärksten Mexikaner den Rio Grande am schnellsten durchschwimmen, und die werden sich auch am ehesten durchsetzen. Die dynamischsten Leute hauen am ehesten ab. Das hat aber damit überhaupt nichts zu tun, dass man sagt, dass man das nicht anerkennt, dass es Armuts‑ und Umweltflüchtlinge gibt. Die Quoten, die auf europäischer Basis jetzt ausgerechnet werden, anerkennen ja nur die Tatsache und heißen überhaupt nicht gut, dass hier jetzt unübersehbare Massen ins Land kommen, sondern ‑ nicht wie Erich Pätzold im Gespräch zu mir gesagt hat, dann ist es ja nur eine Alibigeschichte, wenn hier nur 70 000 zugelassen werden; da hat er sogar recht ‑ das ist die Anerkennung dessen, dass es diese Not gibt und dass wir dieser Not ins Auge sehen müssen und unseren Beitrag, den wir verkraften können, auch dazu zu leisten haben.

Nun weiß ich auch, wovon ich rede, wenn ich die Belastung der Bevölkerung im Auge habe. Denn wenn ich in der Soldiner Straße die Zettel verteile, dann weiß ich, dass da vor zwei Jahren in einem Haus 120 Leute gewohnt haben, jetzt wohnen in dem gleichen Haus über 300. Das heißt, das sind alles Zuzüge von Leuten zu den Verwandten, die aus Jugoslawien, aus Kroatien, aus Polen und weiß der Kuckuck woher gekommen sind und hier einen Unterschlupf gesucht haben. Wie die Leute, die da wohnen, wohl über die Belastung dieses Hauses denken, danach brauchst du mich nicht zu fragen. Ich möchte direkt nachprüfen, wie die gewählt haben, aber das kann ich ja nicht. Aber ich weiß schon, dass man damit nicht leichtfertig umgehen darf.

Aber immerhin müsst ihr auch akzeptieren, wenn der Aktionskreis Nord‑Süd aus seiner Sicht, nämlich global auch zu analysieren und zu gucken, was bei uns wirksam wird und wie man darauf zu achten hat, einige Aspekte einbringt. Ich finde auch, dass man das an anderer Stelle noch einmal diskutieren sollte. Aber diese wenigen Merkpunkte hier festzuhalten, war unser Petitum und nicht in der Interpretation, in der das hier auch passiert ist, sondern das waren ‑ mit Gerd Wartenberg haben wir das auch diskutiert ‑ Anstöße, dass man diese Punkte mit einzubeziehen versucht. Ich bitte euch also, diesen Antrag anzunehmen.

(Beifall)

Präs. Ursula   L e y k   : Das Wort hat jetzt Eckhard Barthel!

Eckhard   B a r t h e l   (Schöneberg): Liebe Genossinnen und Genossen! Ich hätte die Diskussion auch gern fünf Stunden früher geführt, aber es geht ja nicht, man kann sich den Terminplan nicht aussuchen.

Ich will zu einigen Punkten Stellung nehmen, weil ich meine, es geht einiges durcheinander. Jörg, wir haben das Asylverfahrensgesetz, wodurch die Beschleunigung kommen soll, nicht drin, weil das nämlich eben nichts mit Artikel 16 zu tun hat. Es war gerade das Ziel der SPD, das Asylverfahren zu verkürzen ‑  wenn es geht, auf sechs Wochen, das wird nicht ganz klappen, aber auf jeden Fall, zu verkürzen ‑, ohne Änderung des Artikel 16. Insofern hat das mit dieser Frage nichts zu tun. Ja aber, ich bitte dich, dann brauchten wir das doch nicht zu machen.

Die Position der SPD war ‑ und das ist auch eine Frage der Glaubwürdigkeit ‑: Es ist ‑ gerade an die Leute, die Artikel 16 ändern wollen ‑ immer gesagt worden: Ihr könnt an Artikel 16 ändern, was ihr wollt, ihr könnt ihn ganz abschaffen, aber ihr werdet das Problem dadurch überhaupt nicht los, es gibt nämlich noch eine Genfer Flüchtlingskonvention. Das war die Argumentation, die wir immer hatten. Ist die jetzt falsch? Haben wir den Leuten etwas vorgelogen, denen wir gesagt haben, daran liegt es nicht, das ist nicht das Problem, das bringt nichts. Leute, die flüchten wollen, die fragen nicht nach der gesetzlichen Regelung bei uns und nach ‑ ‑ Die kommen aus anderen Motiven. Ist das jetzt alles falsch? Das ist auch wieder eine Frage der Glaubwürdigkeit. Ich habe sogar eher die Angst, dass das, was wir vorhatten mit der Beschleunigung des Asylverfahrens ‑ und ich bin dafür; ich bin wirklich dafür, obwohl ich von vielen Prügel kriege, denen dieses und jenes nicht gefällt ‑ ‑ Ich bin dafür, weil ich das als einzige Lösung sehe, um die Aufenthaltsdauer bei denen zu reduzieren, die nicht im Sinn der Genfer Flüchtlingskonvention hierbleiben können. Ich bin dafür. Aber wenn ich jetzt plötzlich höre, dass man nun trotzdem an Artikel 16 wieder heran will, frage ich mich: Glauben die schon selbst nicht mehr daran, dass dieses Asylverfahrensgesetz das bringt, was man will? ‑ Ich werde unsicher.

Das zweite ist: Walter, ich fand es nicht sehr nett, dass du mich in eine Kontroverse mit Gerd Wartenberg gebracht hast.

(Zuruf von Walter Momper)

‑ Das muss man, sagst du.

Ich habe das, was Gerd Wartenberg zur Änderung des Artikel 16 gesagt hat, am 27. Mai in der „Frankfurter Rundschau“ gelesen.

(Zuruf von Walter Momper)

‑ Es freut mich, dass du das auch gelesen hast, das ist auch der direkte Weg.

Wir haben im Fachausschuss XII, Walter, vor zehn Tagen diesen Antrag beschlossen; da war überhaupt noch nicht bekannt, was Wartenberg vorgestern vor hatte. Also kann doch unser Antrag überhaupt nichts mit Gerd Wartenberg zu tun haben. Walter, bitte, nimm das zur Kenntnis und bringe hier nicht zwei Leute, die in diesem Bereich tätig sind, gegeneinander auf. Der Antrag ist gestellt worden, als noch keine Äußerung von Gerd Wartenberg zur Änderung des Artikel 16 abgegeben wurde. Das bitte ich dich, zur Kenntnis zu nehmen, sonst vergiftest du das Klima, das möchte ich nicht; ich kann nämlich gut mit Gerd Wartenberg. Aber, wie gesagt, das war der 27., und unser Antrag ist mindestens eine Woche älter, also kann diese Verbindung zu Gerd schon gar nicht vorhanden sein.

Der dritte Punkt: Was hat denn der Hamburger Parteitag gemacht?

(Vereinzelter Beifall)

Der Hamburger Parteitag hat lediglich einen Antrag, genau wie es in dieser Nummer 1 steht: keine Änderung des Artikel 16, so lange nicht auf europäischer Ebene das Bewusste erreicht wird ‑ ‑ Haben die bösen Menschen, die Genossinnen und Genossen in Hamburg nun etwas gemacht, was ihr uns jetzt hier vorwerft? Ich glaube, das war eine ganz normale Positionsbestimmung, und zwar keine neue, sondern eine Bestätigung, weil ein Wandel im Gange ist. Insofern bitte ich euch auch, nicht so auf die Hamburger Genossinnen und Genossen zu schimpfen, wenn ihr das ablehnt.

Zu dieser Zuwanderung bedarf es wirklich einer längeren Geschichte. Ich habe hier ‑ Walter, das würde ich dir auch einmal empfehlen ‑ vom Europäischen Parlament ein „Konzept für eine einheitliche, europäische Zuwanderungspolitik“ ‑ das ist von der dortigen sozialistischen Fraktion. Die Diskussion ist weiter ‑ und das ist jetzt nicht als Vorwurf ‑ ‑

(Zuruf von Walter Momper)

‑ Ja, ist doch hervorragend. Danke, Walter, danke! Dann wundere ich mich allerdings, dass du jetzt so vehement gegen ein Zuwanderungsgesetz hältst und das in Verbindung bringst, dass mit diesem Zuwanderungsgesetz jemand auf die Idee käme, die gesamten Probleme der Flüchtlinge ‑ Armuts‑ und Umweltflüchtlinge ‑ der Welt lösen zu können. Das kann keiner! Und der Satz: Wir müssen die Fluchtursachen beseitigen ‑ den unterschreibe ich jeden Morgen vor dem Frühstück ‑: Das ist richtig! Nur, es geschieht natürlich nichts dabei.

(Beifall)

Das Wort „Alibi“ ‑ was Erich gesagt haben soll ‑, da ist ja was dran! Es ist die Frage, wie man „Alibi“ definiert. Ich will mal sagen: Zurzeit sind etwa 17 Millionen Flüchtlinge registriert ‑ das sind nur die registrierten, du kannst noch eine Null hintendran machen, wenn du sie alle nimmst. Was mit diesem Zuwanderungsgesetz geschehen könnte? Die Gruppe, die ich hier eben mit diesem Nebensatz anspreche, ist im Grunde genommen ein kleiner Beitrag, den wir als reiche Industrienation dazu leisten ‑ nicht mehr, Erich. Und dazu bekenne ich mich, weil ich nämlich nicht mehr auf die Straße gehe und mich nicht unter Plakate wie „Bleiberecht für alle“ und solche für mich unverantwortlichen Sprüche stelle. Aber ich möchte wenigstens einen Beitrag dazu leisten, und das ist dieser Versuch, der hier ausgedrückt worden ist. ‑ Ich danke euch!

(Beifall)

Präs. Ursula   L e y k   : Zur Geschäftsordnung hat sich Hermann Borghorst gemeldet!

Hermann   B o r g h o r s t   (Neukölln): Genossinnen und Genossen! Es wird euch nicht wundern, ich stelle noch einmal den Antrag auf Feststellung der Beschlussfähigkeit und bitte, auszuzählen. Es ist unverantwortlich, finde ich, ein solch wichtiges Thema bei dieser Besetzung zu behandeln. Genossin, sieh mal nach rechts, da ist kaum noch jemand. Ich sehe ständig Genossen vor mir, hinter mir, rechts und links weggehen, und wir debattieren und debattieren über so ein wichtiges Thema. Ich halte es für unverantwortlich und bitte, dieses noch einmal auszuzählen.

(Unruhe)

Präs. Ursula   L e y k   : Der Antrag auf Feststellung der Beschlussfähigkeit ist gestellt. Ich bitte also, auszuzählen und dazu die Delegiertenkarten entsprechend hochzuhalten. Ich bitte die Genossinnen und Genossen, die draußen sind, hereinzukommen. Wer jetzt nicht mitgezählt ist, müsste sich dann noch in der Reihe bei den Zählern melden.

Genossinnen und Genossen! Es sind noch 113 Delegierte im Raum; der Parteitag ist damit nicht mehr beschlussfähig.

Wir kommen zu

Punkt 5 der Tagesordnung

Schlusswort

Walter   M o m p e r   : Liebe Genossinnen und Genossen, ein Schlusswort erübrigt sich, die Peinlichkeit ist groß genug. Ich wünsche euch einen guten Nachhauseweg ‑ der Parteitag ist geschlossen!

Schluss: 23.50 Uhr

 

Über Ulrich Horb

Jahrgang 1955, Journalist und Fotograf in Berlin
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