Die Wiesenburg: Buch zur Geschichte eines besonderen Asyls

Cover "Die Wiesenburg", erschienen 2020.

Cover „Die Wiesenburg“, erschienen 2020.

Volker Schlöndorff drehte hier Szenen für die „Blechtrommel“, Rainer Werner Fassbinder nutzte die Wiesenburg als Kulisse für seinen Film „Lili Marleen“. Zuletzt machten die hier lebenden Künstlerinnen und Künstler den traditionsreichen Backsteinbau zu einem Kulturtreffpunkt. Die Geschichte der Wiesenburg, des einstigen Obdachlosenasyls im Wedding, erzählt jetzt ein Buch von Heather Allen, einer Künstlerin, die selbst in der Wiesenburg arbeitet.

Ende des 19. Jahrhunderts war die Industrialisierung in Berlin weit fortgeschritten, immer mehr Arbeitsuchende strömten in die Stadt. Viele von ihnen konnten sich keine eigene Wohnung leisten, etliche lebten als „Schlafburschen“ bei Arbeiterfamilien, einige waren obdachlos.

Obdachlosigkeit galt lange als selbstverschuldet, es drohten Festnahmen wegen Bettlerei oder „Landstreicherei“. In Berlin kamen Obdachlose in den Polizeigewahrsam am Molkenmarkt oder in das Arbeitshaus am Alexanderplatz, wo Zwangsarbeit zu leisten war. Daneben gab es christlich orientierte Unterkünfte, die häufig neben der obligatorischen Teilnahme an den Gottesdiensten auch Arbeitsleistungen verlangten.

So war die Gründung eines Berliner Asylvereins für Obdachlose 1868 durch liberale und sozialdemokratisch orientierte Bürger ein Novum. Sie wollten eine Einrichtung schaffen, in der ohne Bedingungen für einige Nächte Unterkunft, Waschgelegenheit und Verpflegung gewährt wurde. An der Gründung beteiligt waren u.a. der Arzt Rudolf Virchow, der Meiereibesitzer Carl Bolle, der Fabrikant und Sozialdemokrat Paul Singer sowie der Bankier Gustav Thölde, der erster Vorsitzender des Vereins wurde. Nach der Errichtung von provisorischen Einrichtungen im Stadtzentrum wurde ein Gelände gesucht, auf dem die Obdachlosen zusammenkommen konnten, ohne auf Anfeindungen aus der Nachbarschaft zu stoßen. Mit dem Gelände an der Weddinger Wiesenstraße wurde 1895 ein passendes Grundstück gefunden, 1896 öffnete die Einrichtung für 700 Männer pro Nacht. Später kam ein Frauenasyl dazu.

Heather Allen beschreibt auf 75 Seiten, von denen knapp die Hälfte der englischen Übersetzung vorbehalten ist, die Ziele des Asylvereins und seine Arbeit, Fotos, persönliche Erinnerungen und Dokumente geben Einblicke in die Zeit der Entstehung der Wiesenburg, aber auch in die künstlerische Arbeit der heutigen Mieterinnen und Mieter. 2018 und 2019 zeigten von Heather Allen kuratierte Ausstellungen die Geschichte der Wiesenburg. Unterstützt wurde das Buchprojekt von den Senatsverwaltungen für Kultur und Stadtentwicklung sowie von der Wohnungsbaugesellschaft degewo, die auf dem Gelände nicht nur die bestehenden Gebäude denkmalgerecht erhält, sondern auch neue Wohnungen baut.

Heather Allen und Die Wiesenburg e.V. (Hrsg.), Die Wiesenburg – Die Geschichte eines besonderen Asyls, Berlin 2020, 75 S., zahlreiche Illustrationen, 14.50 EUR. Bezug über den Verein. https://diewiesenburg.berlin

Über Ulrich Horb

Jahrgang 1955, Journalist und Fotograf in Berlin
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