Der Weg zum Einkauf war kurz: Viele kleine Läden bestimmten um 1900 das Berliner Straßenbild. Das „Adressbuch für Berlin und seine Vororte“ aus dem Scherl-Verlag verzeichnete in dieser Zeit auf gut drei engbedruckten Seiten rund 1500 Geschäfte für „Colonialwaaren“, Lebensmittelläden, die überwiegend mit Überseewaren wie Zucker, Kakao, Reis, Kaffee, Tee und Gewürzen handelten. Dazu kamen gut 300 „Productenhändler“, die vor allem inländische Lebensmittel anboten. Nahezu in jeder Wohnstraße gab es einen solchen Laden für den täglichen Bedarf. So auch in Moabit.
In der Moabiter Beusselstraße 55 hatte bis 1901 der Kaufmann A. Steinhausen seinen Laden. Das Haus an der Ecke zur Wittstocker Straße gehörte dem Kaufmann E. Herrmann. Im Haus wohnten ein praktischer Arzt und eine Hebamme, der Apotheker Unkel, im Erdgeschoss hatte Schumacher Jäneke seinen Laden, daneben Barbier Westphal.
1861 war die bis dahin namenlose Straße nach dem Gutsbesitzer Georg Peter Christian Beussel (1774 – 1864) benannt worden, dem zu dieser Zeit noch die Grundstücke zu beiden Seiten der Straße gehörten. Es war das Jahr der Eingemeindung Moabits nach Berlin. Das Gebiet wurde nun bei den neuen großen städtischen Bebauungsplänen berücksichtigt und veränderte sich rasch. Die Industrialisierung sorgte für rasches Bevölkerungswachstum in Moabit, eine Porzellanmanufaktur und die Maschinenbaufabrik Borsig entstanden, um 1900 nahm die AEG-Glühlampenfabrik/Telefunken-Röhrenfabrik den Betrieb auf, die Meierei Bolle wuchs beständig.
Neue Straßen wurden angelegt, enge Mietskasernen entstanden, ähnlich denen in Kreuzberg und im Wedding, die meisten in den Jahren von 1880 bis 1910. Hier zogen in den Hinterhäusern Arbeiterfamilien ein, oft hatten sie nur Stube und Küche. Die Häuser waren fünfstöckig, die Höfe eng und dunkel, Heinrich Zille konnte hier seine Motive finden. Moabit galt neben einigen Weddinger Straßen als das am dichtesten besiedelte Gebiet in Berlin. Ausnahmen gab es: In der Sickingenstraße baute Architekt Alfred Messel für eine Baugenossenschaft eine freundliche und helle Wohnanlage.
Die Beusselstraße war eine ansehnliche Geschäftsstraße. Wohl im Jahr 1902 übernahm der junge Kaufmann Ernst Laucke, geboren am 8. November 1876, das Geschäft in der Beusselstraße 55. Über dreißig Jahre lang verkaufte Ernst Laucke hier seine Waren.
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Die Ladenbesitzer kannten ihre Kunden. Im Kolonialwarenladen ließ sich im Notfall auch einmal ein Einkauf anschreiben, bis das nächste Monatsgehalt ausgezahlt wurde. Im Fenster waren fein säuberlich gestapelte Konserven zu sehen. Im Laden standen Gläser mit Bonbons und loser Ware.
Der Laden, so verkündete es ein Schild an der Hausfassade, war zugleich eine Verkaufsstelle der alteingeführten Weingroßhandlung W. Schlieben & Co., Hoflieferanten seiner Königlichen Hoheit des Prinzen Friedrich Leopold von Preußen, Schwager Kaiser Wilhelms II. Sie importierte Bordeaux-Weine, Rebensäfte aus Ungarn, von Rhein und Mosel sowie Heidsieck-Champagner. Einige Flaschen waren in einem Schaufenster neben dem Schild ausgestellt. Firmengründer Johann Carl Friedrich Wilhelm Schlieben (27.10.1829 – 15.10.1893) war neben seiner Tätigkeit als Weingroßhändler auch staatlicher Lotterieeinnehmer. Und die Firma konnte mit einem Flaschenlager mit eigenem Bahngleisanschluss in der Lehrter Str. 37 werben.
Um die Ecke, in der Wittstocker Straße, wohnte Mitte der zwanziger Jahre die Hausgehilfin Anna Mußmann. Am 7. November 1927 heiratete sie den Kaufmann Ernst Laucke in ihrem Geburtsort Neundorf in Anhalt, vier Monate später kam eine Tochter zur Welt, 1932 folgte ein Sohn. Ehefrau Anna half nun im Laden mit.
Ernst Laucke gehörte der Einkaufsgenossenschaft Edeka an, die 1898 von zunächst 21 Kaufleuten als Einkaufsgenossenschaft der Kolonialwarenhändler im Halleschen Torbezirk zu Berlin, dem späteren Bezirk Kreuzberg, gegründet wurde. Es war die Zeit, als in Deutschland massiv Werbung für den Kolonialismus und damit die Ausbeutung in Afrika oder in der Südsee betrieben wurde.
Durch den gemeinsamen Einkauf erzielte die Genossenschaft günstigere Preise. Aus 23 solcher Genossenschaften entstanden 1907 ein deutschlandweiter Zusammenschluss und die Zentraleinkaufsgenossenschaft des Verbandes deutscher kaufmännischer Genossenschaften eGmbH. Die Edeka wuchs, 1931 gehörten ihr 430 Genossenschaften an, der Umsatz lag bei über 260 Millionen Reichsmark. Sehr schnell arrangierten sich die Edeka-Genossen 1933 mit dem Nationalsozialismus.
Mitte der dreißiger Jahre wurde die Konkurrenz für den Laden von Ernst Laucke zu groß, er musste das Geschäft aufgeben, auch ein Neustart in Köpenick misslang ein Jahr später. Am 29. Juli 1938 starb er. Heute befindet sich an der Beusselstraße 55 eine Tankstelle.
Die kleinen Läden des täglichen Bedarfs gerieten im 20. Jahrhundert zunehmend unter Konkurrenzdruck und verschwanden schließlich fast vollständig aus dem Berliner Stadtbild – bis sie in Form der Spätis eine, wenn auch abgewandelte, Wiederauferstehung erlebten. Eingekauft wurde seit den fünfziger Jahren zunehmend in Supermärkten und Discountern mit immer größerer Verkaufsfläche, nicht mehr in den kleinen „Feinkostläden“ oder „Tante-Emma-Läden“.