Es sind genaue Beobachtungen und einfühlsame Beschreibungen, die er in seinem Buch „Spazieren in Berlin“ festgehalten hat. Franz Hessel, Schriftsteller und Übersetzer, kam nach dem Studium in München und einem Aufenthalt in Paris in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts nach Berlin zurück, in die Stadt seiner Kindheit. Auf den Spaziergängen durch die Stadt fängt er 1929 die Stimmung der Zeit und das Alltagsleben ein.
Franz Hessel pendelt in dieser Zeit zwischen Paris, wo seine Frau mit den beiden Söhnen wohnt, und Berlin. Als achtjähriger ist er mit seiner Mutter und seinem Bruder von Stettin nach Berlin gekommen, der Vater, ein wohlhabender Bankier, ist verstorben. Franz Hessel plagen keine Geldsorgen, er kann sich dem Schreiben und Übersetzen widmen, er überträgt Werke von Giacomo Casanova, Stendhal und Honoré de Balzac in Deutsche, mit seinem Freund Walter Benjamin übersetzt er den Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ von Marcel Proust. Seine eigenen Veröffentlichungen sind von persönlichen Erfahrungen geprägt, sein 1920 erschienener Roman „Pariser Romane erzählt von der Begegnung mit seiner Frau.
Stéphane Hessel beschreibt seinen Vater als „etwas zerstreuten Denker, der für sich lebte“ und sich auch nur wenig mit den Kindern befasste. Die „kunstvolle Anordnung der Worte“ erfreute den Vater. Das ist auch in „Spazieren in Berlin“ zu spüren, dessen Erstausgabe den Untertitel „Ein Bilderbuch in Worten“ trägt. Der Spaziergänger Hessel ist kein Getriebener, der im Dickicht der Stadt ans Ziel zu gelangen trachtet. Er sucht und beobachtet, er findet die Traditionslinien, die aus der Vergangenheit in die Gegenwart reichen, etwa in der Beschreibung der Architektur. „Langsam durch belebte Straßen zu gehen, ist ein besonderes Vergnügen. Man wird überspült von der Eile der andern, es ist ein Bad in der Brandung“, so lädt Hessel die Leserinnen und Leser in den ersten Sätzen des Buches ein, ihn zu begleiten.
Hessel blickt in die baufälligen Häuschen der Parochialstraße, er berichtet über die Innenansicht des Grauen Klosters, er schaut sich im Konfektionsviertel in der Nähe des Spittelmarkts eine Hutfabrik an, er geht am Landwehrkanal entlang, der zwar bei Fabrikschloten beginne und ende, dazwischen aber viel Stadtidyll biete. Mit der „Wackeldroschke“ fährt er von Lichtenberg, wo er den Spuren der Revolution von 1919 folgt, am Alexanderplatz vorbei weiter nach Norden, zu einem „lärmend vollen Lokal“ mit Trompetenmusik. Eine andere Rundfahrt führt ihn zu den Sehenswürdigkeiten, zu den Museen.
Vieles von dem, was Hessel betrachtete und verewigte, ist verloren gegangen, zerstört im Krieg. Hessel, als jüdischer Autor von den Nazis mit Schreibverbot belegt, arbeitete noch bis 1938 im Rowohlt-Verlag als Lektor. Dann folgte er dem Rat seiner Freunde und emigrierte nach Frankreich. Dort starb er 1941 kurz nach der Entlassung aus einem Internierungslager, in dem er einen Schlaganfall erlitten hatte.
Sein Werk wurde erst in den achtziger Jahren wiederentdeckt. „Spazieren in Berlin“ ist ein anschaulicher Blick in die Vergangenheit der Stadt.
Franz Hessel, Spazieren in Berlin, Neuauflage, Herausgegeben von Moritz Reininghaus, Geleitw. v. Stéphane Hessel und Nachw. v. Bernd Witte, Verlag für Berlin-Brandenburg 2011, ISBN: 3942476118, 19,95 Euro