(Zum Teil 1 zum Teil 2) Seit er seine Tochter Lotte zu sich genommen hat, lebt auch Otto Nagel in der Wohnung seiner Mutter und seines Bruders Paul in der Schulstr. 102, nicht weit entfernt von der Reinickendorfer Straße.
Als Jugendlicher hat er seine Mutter porträtiert und gelegentlich, eher heimlich, den respekteinflößenden Vater. Mit Kohle hat er auf Papier kleine Szenen aus seinem Umfeld skizziert. Otto Nagels erste größere Ölbilder und Aquarelle entstehen 1919.
Eine Nachbarin, Putzfrau in der Kunsthandlung Gurlitt, bringt ab und an Abbildungen von expressionistischen Werken mit, die bei Gurlitt ausgestellt werden. Otto Nagel orientiert sich künstlerisch zunächst an Arbeiten von August Macke, der zum Umfeld von Franz Marc und Wassily Kandinsky und deren 1914 aufgelöster Redaktion des „Blauen Reiter“ gehörte. Macke und Franz Marc sind im 1. Weltkrieg ums Leben gekommen, genauso wie ein Bruder Otto Nagels. Ein Schicksal, das 1914 auch Peter Kollwitz getroffen hat, den Sohn von Käthe Kollwitz. Die Künstlerin, spätestens mit ihrer Teilnahme an der Großen Berliner Kunstausstellung 1898 durch ihre sozialkritischen Arbeiten bekannt, wendet sich unter dem Eindruck dieses Verlusts der Friedensbewegung und den Sozialisten zu.
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Im September 1919 besucht sie die Versammlung für proletarische Kultur, kann sich aber nicht zum Eintritt in den Bund entschließen. „Erstens einmal widerstrebt mir, dass der Bund für prolet(arische) K(ultur) auf einen Parteiboden gestellt wird. Ein Beitritt würde einem Einreihen in die Kommunistische Partei gewissermaßen gleichkommen“, schreibt sie in einem Brief. „Ich kann mich aber nicht entschließen, einer Partei mich anzugliedern.“ Ihr Bedenken gilt aber auch der künstlerischen Ausrichtung: „Proletarische Kultur ist meiner Meinung nach ein Unsinn – giebt es garnicht.“ Ab 1921 verbindet die 27 Jahre ältere Grafikerin und Bildhauerin eine enge Freundschaft mit Otto Nagel.
Aus dem Spartacusbund und kleineren linken Gruppen hat sich im Dezember 1918 die KPD gebildet. USPD-Mitglied Otto Nagel schließt sich ihr 1920 an, einige Quellen nennen auch bereits 1918 als Eintrittsjahr. Die Arbeiterbewegung ist gespalten, sie bekämpft sich. Schon im Januar 1919 kommt es in Berlin nach der Absetzung des Polizeipräsidenten Emil Eichhorn (USPD) durch den Rat der Volksbeauftragten unter dem Sozialdemokraten Friedrich Ebert zu Barrikadenkämpfen. Während die Mehrheitssozialdemokraten um Ebert geordnete Verhältnisse und Wahlen anstreben, orientiert sich eine Minderheit im Rat der Volksbeauftragten am russischen Vorbild und an der „Diktatur des Proletariats“. Der Aufstand scheitert auch am Widerstand der Berliner Bevölkerung. Im Weddinger Humboldthain setzen sich die Arbeiter am 9. Januar 1919 bei einer großen Kundgebung für die Einheit der sozialistischen Kräfte ein. Mitglieder von Freikorps ermorden Mitte Januar Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Im März 1919 entwickeln sich aus einem von der KPD unterstützten Streik erneut Straßenkämpfe, die niedergeschlagen werden. Für die neue Republik ein schwieriger Start.
Mit seinen Arbeiten bewirbt sich Otto Nagel an der Hochschule für Bildende Künste um die Aufnahme. Die Bewertung ist ernüchternd. Er sei „nicht ohne künstlerische Begabung“ wird ihm bescheinigt. Aber es gibt Zweifel, ob diese reicht, um den „Beruf eines freien Künstlers mit dem schlimmen Kampf um die bloßen Lebensnotwendigkeiten“ zu wählen. So bleibt das Malen weiter eine Beschäftigung nach Feierabend.
Nagel beginnt eine Reihe von Selbstbildnissen. Dazu gehört auch das bekannte „Selbstbildnis mit Hut“. Es zeigt ihn mit skeptisch-forschendem Blick in einem Zimmer, in dem im Hintergrund zwei Betten und ein Kachelofen zu erkennen sind. An der Wand hängen mehrere farbige Bilder. Der Künstler selbst trägt im wohl ungeheizten Raum einen Mantel und hat einen grünen Hut auf.
Im März 1921 beteiligt sich Nagel an Streikaktionen, zu denen die KPD zunächst in Mitteldeutschland aufgerufen hat, um die Regierung zu stürzen und die schließlich in einem kaum befolgten Aufruf zum Generalstreik münden. Nagel wird deshalb fristlos bei der Firma Bergmann entlassen, er landet auf einer schwarzen Liste, so dass ihn auch andere Arbeitgeber nicht mehr einstellen. Notgedrungen wird er nun zum freischaffenden Künstler.
Vor allem mit seinen Porträts, den genau beobachteten Haltungen und Gesichtern, entwickelt er einen eigenen Stil. Nagel stellt 1921 Arbeiten in der Arbeiter-Kunst-Ausstellung von Ernst Friedrich aus, einem Pazifisten und Buchhändler, der zwei Jahre später in der Parochialstraße in Mitte das erste Anti-Kriegsmuseum eröffnet. Die von den Nazis geschlossene Einrichtung wurde 1982 von seinem Enkel Tommy Spree wiederbelebt und ist heute in der Weddinger Brüsseler Straße beheimatet.
„Von einer seltenen Sicherheit des Gefühls zeugen die Bilder und Pastelle, die Otto Nagel in der Arbeiter-Kunstausstellung, Petersburger Straße 39 zeigt“, lobt im Juni 1921 der Kunstkritiker Adolf Behne, Verfechter einer volksnahen Kunst und Architektur, in der Abendausgabe der Zeitung „Freiheit“ der USPD. „Ich möchte auf diese Ausstellung mit besonderem Nachdruck hinweisen. Sie ist die beste Ausstellung, die Ernst Friedrich bisher gebracht hat und sollte, wie diese Einrichtung überhaupt, von den Genossen noch viel mehr beachtet und nach Möglichkeit unterstützt werden. Unter Nagels Arbeiten, zumal unter den letzten Pastellen, sind köstliche Beispiele eines ganz ursprünglichen reichen Kunstgefühls, das sich mit einer freudigen Ergriffenheit an die Welt verschenkt, und es ist sehr gut, dass diese Arbeiten mehr und mehr Freunde unter den Klassengenossen finden. Sie sind ein wesentlich schönerer und echterer Schmuck des Wohnraums, als die meist recht faden Bildchen, die die „Freie Deutsche Künstlerschaft“ als Wandschmuck in die Ausstellungszimmer des „Hausrat“ (Beschaffungsstelle von Möbeln für die minderbemittelte Bevölkerung), Königin-Augusta-Straße 21, gehängt hat.“
Etwas kritischer zeigt sich der Vorwärts der SPD gut einen Monat später. In der Ausgabe vom 13. Juli 1921 heißt es: „Otto Nagel, dessen Gemälde und Zeichnungen auf der Arbeiter-Kunstausstellung (Petersburger Str. 39) gegenwärtig Aufsehen erregen, verdankt die Beachtung, die er auch in der bürgerlichen Presse findet, vor allem der gewandten Anpassungsfähigkeit, mit der er sich einige wirksame Ausdrucksformen fertiger Meister zu eigen gemacht hat. In umfang- und figurenreichen Gemälden gibt er Ansichten aus dem Berliner Straßenleben, aus Biergärten, Versammlungssälen und Tingeltangeln. Alles sehr geschickt und recht effektvoll, aber ohne Baluschek nicht denkbar. Die Farbe, die aus eigenem beigesteuert wurde, namentlich eine charakteristische, knallige Disharmonie aus Rot und Grün, ist von unbeherrschter Buntheit, ausdrucks- und stimmungslos. Also wäre dieser Arbeitermaler eine Niete, eine Null, ein impotenter, unselbständiger Dilettant? Wer nur seine großen, anspruchsvollen, etwas aufdringlichen Arbeiten betrachtet, der könnte geneigt sein, die Frage zu bejahen. Aber Otto Nagel hat noch manches andere geschaffen und glücklicherweise auch ausgestellt: Kleine bescheidene Blättchen mit Einzelfiguren, Köpfen, landschaftlichen Motiven, Gartenblicken, Parkwegen. Und da zeigt er sich von einer ganz anderen, unvergleichlich stärkeren, sympathischeren Seite. Da hat er nicht auf ein verehrliches Publikum Rücksicht genommen, da wollte er nicht vor Hinz und Kunz als virtuoser Künstler paradieren, sondern er gab schlicht und ehrlich wieder, was sein Auge und sein Herz bewegte. Und da erfährt man mit Staunen, wie liebevoll, intim und scharf dieses Auge zu beobachten versteht, wie kraftvoll eigenwillig, wie unverbildet frisch, wie rührend zart ein elementares Linien- und Farbengefühl seinen sicheren persönlichen Ausdruck findet. In fast jedem dieser Blätter ist eigenes Leben, ist Rhythmus und Harmonie. Eine echte Künstlernatur offenbart sich, die aus sich selber hundertmal mehr und tausendmal Wertvolleres schöpft, als ihr die fertigen Meister bieten können, die sie in ihrer Naivität bewundert und zu ihrem Schaden nachahmt.“
1922 wird Otto Nagel Sekretär der Künstlerhilfe der Internationalen Arbeiterhilfe (IAH), gemeinsam mit dem Theaterregisseur Erwin Piscator, Gründer des „Proletarischen Theaters“. Die IAH, anfangs zur Unterstützung der nach einer Dürre hungerleidenden russischen Bevölkerung gegründet, später auch an der Unterstützung streikender Arbeiter in Deutschland beteiligt, sorgt in den zwanziger Jahren für den Import sowjetischer Filme und produziert über eine Firma eigene proletarische Filme. Käthe Kollwitz und Heinrich Zille entwerfen für die Künstlerhilfe Postkartenmotive, um Spenden zu sammeln.
Zwischen Heinrich Zille und Otto Nagel entwickelt sich eine Freundschaft. Beiden gemeinsam ist, dass sie unter den Menschen, die sie auf der Straße oder in der Kneipe porträtieren, zu Hause sind.
Anlässlich der Teilnahme Nagels an der Juryfreien Kunstausstellung 1923 wiederholt John Schwikoski im Vorwärts die Vorbehalte, die das sozialdemokratische Blatt schon 1921 geäußert hatte: „Der Arbeitermaler Otto Nagel erregt Aufsehen durch eine Serie scharf charakterisierter Proletarierskizzen (8), die zweifellos sehr talentvoll, nach meinem Empfinden aber ein klein wenig zu sehr auf Effekt berechnet sind.“
1924 bereitet Otto Nagel die erste Allgemeine Deutsche Kunstausstellung vor, die in der Sowjetunion gezeigt werden soll. Über 100 deutsche Künstler stellen aus, darunter Otto Dix und Hans Arp. Für die Künstler ist die Beteiligung eine Solidaritätserklärung mit dem sowjetischen Volk. Das allerdings staunt angesichts der ungewohnten Motive, die die Sehgewohnheiten strapazieren. „Wenn irgendjemand bei uns in den Jahren der Revolution und des Bürgerkrieges etwas Neues auf dem Gebiet der Kunst machte, dann waren die Menschen darüber irgendwie entsetzt“, schreibt die junge Schauspielerin Walentina Nikitina in ihren Erinnerungen. Für Otto Nagel ist es die erste Auslandsreise. Die Ausstellung macht Station in Moskau und Saratow, wandert dann nach Leningrad, der Heimatstadt von Walentina Nikitina. Otto Nagel führt die Besucher dort durch die Ausstellung.
Quellen:
Otto Nagel, Berliner Bilder, mit einem Vorwort von Walli Nagel, Henschelverlag Berlin (Ost), 1970
Erhard Frommhold, Otto Nagel – Zeit – Leben – Werk, Henschelverlag Berlin (Ost) 1974
Otto Nagel, 48 Bilder mit einem Text von Ludwig Justi Potsdam 1947
Walli Nagel, Das darfst Du nicht, Wedding-Bücher, Berlin 2018
Otto Nagel, Die weiße Taube oder das nasse Dreieck, Roman, Wedding-Bücher, Berlin 2017
Otto Nagel, Katalog zu den Ausstellungen Februar und April 1966, Ladengalerie Berlin-Charlottenburg
Sibylle Schallenberg-Nagel: Mein Vater Otto Nagel, in: „Zaubertruhe“, Ein Almanach für junge Mädchen, Der Kinderbuchverlag Berlin (Ost), 1971
Gerhard Pommeranz-Liedtke, Otto Nagel und Berlin, 228 S., Dresden 1964
Dank an Salka Schallenberg für ihre Informationen und Hinweise. Mehr unter http://artist-otto-nagel.de/