Wirklichkeitsbeschreiber: Der Künstler Otto Nagel (1)

Gedenktafel am Geburtshaus von Otto Nagel. Sie wurde hier am 26. September 1974 in Anwesenheit der Witwe Walli Nagel angebracht. Foto: Ulrich Horb

Er hat die Stadt und ihre Menschen im Bild  festgehalten. Eindringliche, ungeschönte Porträts, der Arbeitsalltag, Stadtlandschaften vor ihrer Zerstörung: Die Bilder des Berliner Malers Otto Nagel , vor 125 Jahren im Wedding geboren und aufgewachsen, zeigen eine oft ausgeblendete Realität. Dass Nagel nicht die künstlerische Aufmerksam gewonnen hat, die er verdient hätte, liegt wohl an den politischen Konstellationen seiner Zeit: den Auseinandersetzungen in der Weimarer Republik, der Verfolgung im Nationalsozialismus und schließlich der Zeit des Kalten Kriegs. Und daran, dass sich Otto Nagel nicht verbiegen mochte.

Ende des 19. Jahrhunderts wächst Berlin rasant. Zwischen 1871 und 1895 verdoppelt sich die Bevölkerungszahl auf 1,6 Millionen Menschen. Im Berliner Norden entstehen – wie vielfach  am Rand der Stadt – enge, dunkle Mietskasernen für Tausende von Menschen, die in den hier entstehenden Fabriken arbeiten, etwa bei der AEG, bei Bergmann-Borsig. „Meyers Hof“ in der Ackerstraße hat sechs Hinterhöfe.

Geburtshaus von Otto Nagel in der Reinickendorfer Straße. Foto: Ulrich Horb

In der Reinickendorfer Straße 37 b, am nördlichen Rand der Stadt, heute die Hausnummer 67, wohnt  1894 der Kommodentischler Carl Nagel, ein Sozialdemokrat. Wenige Schritte weiter, in der   damaligen Reinickendorfer Straße 36a, wird das Elend der Arbeiter sichtbar. Dort befindet sich seit 1883 die „Berliner Arbeiterkolonie“, eine christlich-soziale Einrichtung, die nach den Vorstellungen des Pastors Bodelschwingh das „Vagabundentum“ –  und wohl auch ein wenig den Klassenkampf  – bekämpfen will. Dazu schafft die „Kolonie“ Arbeits- und Übernachtungsmöglichkeiten für all die, so Bodelschwingh, „welche noch nicht so verkommen sind, dass sie vom Vagabundenleben nicht mehr lassen können“. Arbeitslosigkeit gilt als selbstverschuldet, Obdachlose landen nicht selten in staatlichen Arbeitshäusern. 1891 sind in der Arbeiterkolonie 60 „Kolonisten“ in der Kistentischlerei beschäftigt, andere  fertigen Bürsten und Besen,   flechten Stroh,  sind in der Hülsenfabrikation oder als Kalfaktoren  beschäftigt. „Die Insassen dieser Anstalt“, so erinnert sich Nagel später, „waren meist Trinker oder Straffällige, die sich dort zur Entwöhnung bzw. Besserung aufhielten. Man nannte diese Menschen die ,Gelben‘, weil sie ständig als Streikbrecher eingesetzt wurden.“ Die anderen Menschen der Straße meiden sie.


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Otto Nagel wird am 27. September 1894 geboren. Die Familie, Vater Friedrich Carl Nagel (1845–1915), Mutter Emma Barschin (1855–1929) und fünf Jungen, lebt hier im ausgehenden 19. Jahrhundert im zweiten Hinterhof in einer Wohnung mit Küche und zwei Zimmern. Eines davon nutzt der Vater als Werkstatt. Der Vater, der das Verbot der Sozialdemokratie zwischen 1878 und 1890 erlebt hat,  hat den „Vorwärts“ abonniert und die Satirezeitschrift „Der wahre Jacob“. Im Wohnzimmer hängen Porträts der Sozialdemokraten August Bebel und Wilhelm Liebknecht.

"Der Wahre Jacob" Ausgabe Weihnachten 1895. Foto: Ulrich Horb

„Der Wahre Jacob“ Ausgabe Weihnachten 1895. Foto: Ulrich Horb

Die Mutter fertigt als junges Mädchen in einer Fabrik feinste Lackierarbeiten an und ist sehr stolz darauf, so berichtet es Otto Nagels Enkeltochter Salka Schallenberg. „Dem Fenster gegenüber“, so erzählt es Nagels Tochter Sybille Schallenberg in einem Beitrag für das DDR-Kinderbuch „Zaubertruhe“,  „befand sich der schwarze Giebel des Nebenhauses, der die eine Hälfte der vierten Hofseite zudeckte, die zweite Hälfte wurde von einer Mauer begrenzt, hinter der sich ein niedriges Gebäude befand, in dem eine Lumpenstampe untergebracht war. Die übrigen drei Hofseiten stiegen steil vier Stockwerke empor.“ Es ist dunkel in der Wohnung. „Ringsherum standen die Betten, es gab ein Sofa mit einem davor stehenden ovalen Tisch, auf dem ein Fotoalbum in einem Ständer stand. In einer Ecke befand sich noch ein Vertiko mit Aufsatz, auf dem verschiedene Nippesgegenstände standen.“

Otto Nagels vier Brüder sind einige Jahre älter, sie treten schon im Arbeitertheaterverein auf diskutieren im Vorwärts-Leseclub, als Nagel noch zur Schule geht.  Ein „Conversationslexikon für gebildete Stände“, Ausgabe 1827, steht zu Hause im Schrank.

Otto Nagel besucht von 1900 bis 1908 die Volksschule im  Wedding. Mit dem Vater fährt er gelegentlich übers Land, um die reparierten Möbel auszuliefern und bekommt in den ihm fremden Gegenden „Heimweh nach dem Wedding“. Nebenbei trägt er wie viele Arbeiterkinder Zeitungen aus. Hat er etwas erspart, kauft er Pinsel und Farben. Mit 9 oder 10 Jahren hat er einen  Aquarellkasten zum Geburtstag bekommen. Seitdem malt er begeistert.

Seine zeichnerische Begabung wird früh erkannt. Er verziert eine Puppenküche, die sein Vater im Auftrag eines Kunden gebaut hat, mit kleinen Wandbildern. Er malt kleine Bilder, die er gegen die gerahmten Lieblingsbilder seiner Mutter austauscht. Die allerdings möchte lieber an ihren etwas kitschigen Motiven festhalten.

Es ist eine Zeit, in der Berlin geteilt ist in den armen Norden und Osten und in den eher bürgerlichen Westen.  Heinrich Zille (1858 – 1929), Käthe Kollwitz (1867 – 1945) und Hans Baluschek (1870 – 1935) gehören zu den ersten, die auch die Armut im Bild festhalten, den Obdachlosen, den Lumpensammler, die Hinterhofszenen.  Nagel erinnert sich später noch daran, Bilder von Hans Baluschek oder oder Lyonel Feininger gesehen zu haben.

Amtsgericht Wedding am Brunnenplatz. Foto: Ulrich Horb

Amtsgericht Wedding am Brunnenplatz. Foto: Ulrich Horb

Die Kunstszene in Berlin ist zu Beginn des 20. Jahrhunderts vielfältig.  In den sozialdemokratischen Zeitschriften, wie sie im Elternhaus Otto Nagels ausliegen,  spielen die Naturalisten eine große Rolle. Aber auch dem Historismus, der Nachahmung alter Stilrichtungen, kann Nagel auf der Straße begegnen:  Am Brunnenplatz wird 1906 das imposante Amtsgericht im neogotischen Stil fertiggestellt.

Anton von Werner (1843 – 1915), Direktor der Königlichen Hochschule der bildenden Künste, wacht als  Vertreter des Wilhelminismus, der alles Moderne ablehnt, über der Kunst im Kaiserreich. Im Streit um die Zulassung von Bildern zur Großen Berliner Kunstausstellung 1898 spalten sich fortschrittliche Künstler als Berliner Secession vom konservativ dominierten Kunstbetrieb ab.  Ihr Präsident wird Max Liebermann (1847 – 1935), dessen Arbeiten vom Impressionismus beeinflusst sind. Der Jugendstil findet sich um die Jahrhundertwende in den Illustrationen vieler Zeitschriften.  Mit Edvard Munch arbeitet auch ein bekannter Vertreter des Expressionismus und Symbolismus in der Stadt. Erich Heckel, Fritz Bleyl, Ernst Ludwig Kirchner und Karl Schmidt-Rottluff, Gründer der „Künstlervereinigung Brücke“ treten 1906 mit einem Aufruf an die Öffentlichkeit, in dem sie zu einem „unverfälschten Schaffen“ aufrufen.

1908 beginnt Otto Nagel eine Lehre in den Werkstätten für Mosaik- und Glasmalerei von Gottfried Heinersdorff im Berliner Westen, das sind für ihn anderthalb Stunden Fußweg.  Bruno Paul, Leiter der Unterrichtsanstalt des Königlichen Kunstgewerbemuseums Berlin, der Zeichnungen Otto Nagels gesehen hat, hat ihn dorthin empfohlen. Bewährt sich der Lehrling dort, stellt ihm Bruno Paul, Architekt, Designer, aber auch Illustrator der „Jugend“ oder des „Simplicissimus“, den kostenfreien Besuch der Kunstgewerbeschule in Aussicht.  Der würde Otto Nagel sonst in den ersten beiden Jahren jeweils neunzig Mark kosten. Das könnte die Familie nicht aufbringen.

Es ist das Jahr, in dem Otto  seine ersten Schuhe aus Leder bekommt, vorher trug er Holzpantinen.  Ganz in der Familientradition tritt Otto Nagel  der Sozialdemokratischen Arbeiterjugend bei.

zur Fortsetzung

Quellen:
Walli Nagel, Das darfst Du nicht, Wedding-Bücher, Neuauflage Berlin 2018
Otto Nagel,  Die weiße Taube oder das nasse Dreieck, Roman, Wedding-Bücher, Neuauflage Berlin 2017
Otto Nagel, Berliner Bilder, mit einem Vorwort von Walli Nagel, Henschelverlag Berlin (Ost), 1970
Erhard Frommhold, Otto Nagel – Zeit – Leben – Werk, Henschelverlag Berlin (Ost) 1974
Otto Nagel, 48 Bilder mit einem Text von Ludwig Justi Potsdam  1947Otto Nagel, Katalog zu den Ausstellungen Februar und April 1966, Ladengalerie Berlin-Charlottenburg
Sibylle Schallenberg-Nagel: Mein Vater Otto Nagel, in:  „Zaubertruhe“, Ein Almanach für junge Mädchen, Der Kinderbuchverlag Berlin (Ost), 1971
Gerhard Pommeranz-Liedtke, Otto Nagel und  Berlin, 228 S.,  Dresden 1964

Dank an Salka Schallenberg für ihre Informationen und Hinweise. Mehr unter http://artist-otto-nagel.de/

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Über Ulrich Horb

Jahrgang 1955, Journalist und Fotograf in Berlin
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