Wirklichkeitsbeschreiber: Der Künstler Otto Nagel (6)

Nagel-Würdigung von Heinrich Zille.

Nagel-Würdigung von Heinrich Zille. Foto: gemeinfrei / Archiv U. Horb

Mit Ausstellungen in Warenhäusern erreichen die Künstler um Otto Nagel ein breiteres Publikum. Im Februar 1926 hat Nagel  Bilder u.a. von Käthe Kollwitz, Hans Baluschek, Heinrich Zille, Albert Birkle, Dix, Grosz und Peter Paul Eickmeier zusammengestellt, die, unterstützt vom Volksbildungsamt Wedding, im Kaufhaus W. Stein in der Chausseestraße 70/71 gezeigt werden. Mehrere tausend Menschen sehen die Ausstellung. Von Otto Nagel sind u.a. die Gemälde „Asylist“ und „Straßenmädel“ zu sehen.

Otto Nagel habe die Arbeiterkunstausstellung „in bewusster Abgrenzung zur Moskauer Parteilinie“ organisiert, stellt Dr. Tobias Hoffmann fest, Direktor des Bröhan-Museums, das dem „Berliner Realismus“ 2018 eine umfangreiche Ausstellung widmete. „Er positioniert damit den Berliner Realismus als einen dritten Weg, engagierte Kunst zu machen, jenseits von Proletkult, Produktivismus und Konstruktivismus auf der einen und heroischem Realismus auf der anderen Seite.“

Katalog zur Ausstellung "Berliner Realismus" im Bröhan-Museum 2018.

Katalog zur Ausstellung „Berliner Realismus“ im Bröhan-Museum 2018.


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Über die Ausstellung und ihren Ort kommt es zum Streit unter den linken Kunstkritikern. Der sozialdemokratische Publizist Adolf Behne, früher Förderer Otto Nagels, kritisiert in der „Weltbühne“: „Proletariat, Elend, Verzweiflung, Krankheit, Destille, Schwoof. Aber inhaltlich ist das Alles doch den Besuchern der Wedding-Ausstellung in einer Leibhaftigkeit bekannt, die selbst das tollste Bild nicht übertreffen dürfte. Wie das Alles in Wahrheit noch viel grauenvoller ist, wissen diese Besucher am Ende besser als diese Maler. Sollen die Besucher die Feinheit der ,peinture‘ bewundern? Dann gäbe es immerhin bessere Exempel. Oder sollen sie mit Rührung erkennen, dass es Maler gibt, die um ihre Not wissen? Wäre es nicht, wenn man schon Klassen-Psychologie treibt, richtiger, diese Kollektion im ,Kaufhaus des Westens‘ den Bürgern zu zeigen, die dann das Elend wenigstens in gemaltem Zustande sehen könnten?“ Behnes Plädoyer: „Welche Maler sind denn die besten Kämpfer für den Sozialismus? Die besten Maler. Je wahrhaftiger, je kühner. Je logischer sie in Farben denken, umso bestimmter treiben sie die Menschen vorwärts.“ Kunst müsse zunächst Kunst sein.

Die Antwort kommt – eine Weltbühnen-Ausgabe später – von John Heartfield, Vertreter der Roten Gruppe Vereinigung kommunistischer Künstler: „Herr Behne weiß selbstverständlich nicht, dass einem Menschen Klarheit über seine Lebenslage zu verschaffen ein revolutionärer Faktor ersten Ranges ist.“  Nicht kühne Farbgedanken würden den Arbeiter „gegen die Herrschaft des Kapitals in Bewegung“ setzen „oder auch nur ein Gewehr zum Abfeuern“ bringen. „Und etwas anderes kann ja nicht der Zweck revolutionärer Kunst sein“, schreibt Heartfield. Behne, seit langem der avangardistischen Kunst verpflichtet, weist Heartfields Vorstellung von revolutionärer Kunst zurück und sieht sich im Einklang mit Nagel. „Malen bedeutet Farbe bekennen – und meistern. Nicht aber: ein politisches Bekenntnis kolorieren. Dazu genügt ein Rotstift.“

Im Dezember 1926 findet  Otto Nagel für seine Bilder einen Ort, der noch dichter an den Menschen ist, die er malt. Zur Galerie wird das „Sängerheim“, eine Arbeiterkneipe in der Weddingstraße 9,  Treffpunkt auch für Mitglieder der KPD, die hier und in der  gegenüberliegenden Kösliner Straße eine Hochburg hat.

Vom Schankraum führt ein kleiner Korridor nach hinten zum Vereinszimmer. Rund siebzig Arbeiten Nagels, Ölbilder, Pastelle, Skizzen, Zeichnungen, sind zu sehen. Ein gedrucktes Faltblatt mit einem schon 1924 geschriebenen Text Zilles wirbt für die Ausstellung, zur Eröffnung kommt auch Käthe Kollwitz.

In der  „Weltbühne“ heißt es über die Ausstellung und ihren Ort:„Ein ungewöhnliches Milieu für Kunst. […] Das Publikum, Männer und Frauen vom Wedding, ernst, schweigsam, langsam die Bilder betrachtend. Sie sehen sich selbst an den Wänden, von einem der ihren gemalt: den Briefträger, die alte Frau im Spital, die Nutte vom Karree Nettelbeckplatz, den Idioten ‚Vater‘ von der Wach- und Schließgesellschaft, den Budiker von der Ecke. Ich stelle mir die Menschen, die im Sängerheim diese Bilder betrachten, in der Nationalgalerie vor. Sie gehen fremd, verwundert, ratlos von Bild zu Bild und gehen verdattert zur Tür hinaus. Sie dürfen ja hingehen, aber sie fühlen sehr schnell, dass sie nur geduldet sind.“

Titelblatt des "Eulenspiegel" im Juli 1928. Foto: gemeinfrei

Titelblatt des „Eulenspiegel“ im Juli 1928. Foto: gemeinfrei

Von 1926 bis 1933 stellt Nagel regelmäßig im Frühjahr und Herbst in den Räumen der Preußischen Akademie der Künste aus.

Gemeinsam mit Heinrich Zille begründet Otto Nagel 1928 die satirische Zeitschrift „Eulenspiegel“; Nagel leitet die Zeitschrift bis 1931.  Er ist zudem „Sitzredakteur“, das heißt, er sitzt die Strafen ab, die wegen einzelner Artikel verhängt werden.

zur Folge 7

Quellen:
Otto Nagel, Berliner Bilder, mit einem Vorwort von Walli Nagel, Henschelverlag Berlin (Ost), 1970
Erhard Frommhold, Otto Nagel – Zeit – Leben – Werk, Henschelverlag Berlin (Ost) 1974
Otto Nagel, 48 Bilder mit einem Text von Ludwig Justi Potsdam  1947
Walli Nagel, Das darfst Du nicht, Wedding-Bücher, Berlin 2018
Otto Nagel,  Die weiße Taube oder das nasse Dreieck, Roman, Wedding-Bücher, Berlin 2017
Otto Nagel, Katalog zu den Ausstellungen Februar und April 1966, Ladengalerie Berlin-Charlottenburg
Sibylle Schallenberg-Nagel: Mein Vater Otto Nagel, in: „Zaubertruhe“, Ein Almanach für junge Mädchen, Der Kinderbuchverlag Berlin (Ost), 1971
Gerhard Pommeranz-Liedtke, Otto Nagel und  Berlin, 228 S.,  Dresden 1964

Dank an Salka Schallenberg für ihre Informationen und Hinweise. Mehr unter http://artist-otto-nagel.de/

 

Über Ulrich Horb

Jahrgang 1955, Journalist und Fotograf in Berlin
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